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E-Book

Evangelische Ethik kompakt

Basiswissen in Grundbegriffen

VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl237 Seiten
ISBN9783641165536
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Ethische Orientierung in Grundbegriffen: kompakt, klar, kompetent
Anhand von Kernbegriffen moralischer und ethischer Kommunikation stellen die führenden theologischen Ethiker des deutschsprachigen Raumes die zentralen Themen der Ethik in evangelischer Perspektive dar. So ist ein kleines, lexikalisches Handbuch entstanden, das als Einführung für Studierende ebenso dienen kann wie als kompaktes Kompendium für alle, die in ethischen Fragestellungen Entscheidungen zu treffen haben.

Die Themen im Einzelnen: Autonomie - Dilemma - Ethik - Freiheit - Gabe - Gebot - Gerechtigkeit - Gewissen - Glaube (einschl. Bibel) - Gut/Güter - Handeln - Kompromiss - Kultur - Leben - Liebe - Macht - Mensch - Menschenwürde - Moral - Naturrecht - Person - Pflicht - Pluralismus - Scham - Schuld - Solidarität - Toleranz - Tugend - Verantwortung - Versöhnung, Vergebung, Verzeihen - Werte und Normen.

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Leseprobe

Autonomie

Elisabeth Gräb-Schmidt

Autonomie meint wörtlich die Geltung eines autos nómos, das heißt Selbstgesetzgebung im Sinne des sich selbst das Gesetz geben, nach dem sich zu richten ist. Damit ist mit der Autonomie ein anderer, bestimmter Begriff für Freiheit ins Spiel gebracht. Er versteht sich nicht einfach als Unabhängigkeit vom Nomos, von Gesetzen und Ordnungen, sondern nur von denen einer Heteronomie eines héteros nómos. Dabei hat der Begriff Autonomie durchaus einen Wandel durchlaufen. Seine antike Bestimmung bei den Griechen bezog sich weniger auf das Subjekt und auf das individuelle Selbstbestimmungsrecht, sondern es bedeutet als autos nómos im Sinne der politischen Selbstgesetzgebung die Freiheit und Unabhängigkeit der Staaten von fremder Beherrschung. So ist der Ursprung der Autonomie in der griechischen Antike mit der politischen Selbstbestimmung der Stadtstaaten verbunden, die um Eigengesetzgebung usw. ringen und diese autonomía als Bezeichnung ihrer inneren und äußeren politischen Freiheit an Stelle von Fremdherrschaft verstehen. Dabei hängen Variationen der Autonomie von der jeweiligen Situation ab. Diese Erinnerung ist für die gegenwärtigen Debatten deshalb von Gewicht, weil sie sofort deutlich macht, dass der im Nomos festgehaltene Rechts- und Gesetzesgedanke, das je Individuelle transzendiert, indem es dieses selbst einbindet in einen geregelten politischen oder sozialen Ordnungszusammenhang.

Wenn von Autonomie im Vollsinne des Wortes ausgegangen wird, ist daher nicht nur an Autonomie im Sinne subjektiver Selbstbestimmung, sondern an Autonomie im Sinne einer an Vernunft und Recht orientierten Freiheit zu denken. Dass man sich bei ihrer Definition auf Kant bezieht, hat dennoch durchaus sein Recht, weil in dessen Begriff von Autonomie genau dieser das Individuum transzendierende Charakter festgehalten ist. »Denn Freiheit und eigene Gesetzgebung sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe« (Immanuel Kant). Es geht bei der Selbstbestimmung im Sinne der Autonomie nicht um eine Wahl nach eigenem Gutdünken, sondern um eine Wahl der Lebensführung, die sich an den Maßstäben einer vorgegebenen Einsicht in das Gesetz der Vernunft orientiert, wie Kant es als Achtung vor dem Sittengesetz durch den Kategorischen Imperativ mitteilen lässt. Autonomie ist bei Kant durchaus der antiken Vorstellung von Selbstgesetzgebung verpflichtet, nun allerdings internalisiert im neuzeitlichen Subjekt präsent, das sich in Emanzipation und Mündigkeit verpflichtet weiß. Eine Willkürbestimmung kann daher durch die Autonomie nie zum Ausdruck gebracht werden. Auch Autonomie im Sinne der Selbstbestimmung bedeutet insofern keineswegs, eigenen Wünschen und willkürlichen Entscheidungen zu folgen, auch nicht wenn diese das eigene Leben oder gar das eigene Sterben betreffen. Gerade mit solchem Wunsch geht Kant in seiner »Metaphysik der Sitten« hart ins Gericht, ist doch die Selbsttötung als contradictio in adiecto aus dem Sittengesetz geradezu ausgeschlossen. Wenn der Mensch, »um einem beschwerlichen Zustand zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich einer Person bloß als eines Mittels zur Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zum Ende des Lebens«. Kant geht also gerade nicht – wie oft vermutet – von einer Autonomie als individueller, subjektiver Selbstbestimmung aus, vielmehr beginnt nach ihm die Autonomie im Sinne der Selbstbestimmung gerade dort, wo die Autonomie sich als objektive Selbstgesetzgebung der Vernunft vernünftiger Wesen versteht. Erst durch solche Selbstbestimmung kann das Sollen auf alle vernünftigen Wesen ausstrahlen und damit objektiv Gültigkeit erlangen. Es bezeichnet in dieser Form des Sollens den kategorischen Imperativ, der gerade nicht individuelle und mithin beliebige Vorstellungen, sondern das Faktum der Vernunft repräsentieren soll.

Dieser Zusammenhang objektiver und subjektiver Bezüge des Verständnisses von Autonomie, wie es sich im neuzeitlichen Verständnis von Subjektivität und Selbstbestimmung bündelt, muss im Blick bleiben, wenn von Autonomie als Recht der Selbstbestimmung in ethischen Zusammenhängen Gebrauch gemacht wird. Die freie Selbstbestimmung der Person ist nicht diejenige, die voraussetzungslos eine Alternativenwahl beanspruchen kann, sondern die ihr Hineingesetztsein in Zusammenhänge natürlicher und sozialer Art auf der einen und rechtliche, ethische und religiöse Bestimmungen des Menschseins auf der anderen Seite begreift. Freiheit in ethischem Sinne meint nicht individuelle Willkürfreiheit, sondern Freiheit meint Handlungs- und Gestaltungsfreiheit, die ihrer Autonomie gerade dann Rechnung trägt, wenn sie sich selbst einbindet in gute und gerechte, in rechtliche und ethische Überlegungen, die der Menschheit im Menschen gerecht werden können. Erst eine Orientierung am Menschen als dem die Menschheit repräsentierenden Gattungswesen verbürgt die Reife selbstbestimmter Entscheidung. Und erst eine solche Entscheidung kann überhaupt als freie Wahl begriffen werden, die dadurch frei ist, dass sie sich an einer solchermaßen gerechten und guten Ordnung zu orientieren im Stand ist.

Dass Autonomie insofern auch in der Moderne wie in der Antike die rechtliche Dimension mit sich führt, ist daher offenkundig. Übersehen werden kann dies nur durch ein Missverständnis von Selbstbestimmung als individueller Freiheit und Autonomie als individueller Willkürherrschaft. Beide sind abzulehnen. Vielmehr muss für ein Verständnis von Autonomie, das in die Koordinaten von Selbst und Welt, Selbst und Gesellschaft, Selbst und Gott relational eingebunden bleibt, eine grundlegende Spannung berücksichtigt werden, die im Bezug von Autonomie und Fürsorge, respektive von freier Entscheidung und Entscheidungsassistenz, ihre Entsprechung finden kann. Dabei müssen für die Autonomie nicht nur die Vernunftbezüge, sondern alle Dimensionen des Menschseins berücksichtigt werden, also neben seiner Vernunftfähigkeit, seine Subjekthaftigkeit, inklusive seiner Leiblichkeit, seiner Sozialität und auch seiner Zeitlichkeit bzw. seiner Endlichkeit. Nur ausgespannt in diese Bedingungen des Menschseins werden wir dessen gewahr werden können, womit die Autonomie es zu tun hat und worin sie angemessen zum Ausdruck kommen kann. Die neuzeitliche Reflexionssubjektivität unterzieht zwar die Gesetzmäßigkeit der Kontrolle vernünftiger Selbstbestimmung, wird Selbstbestimmung aber ihrerseits nicht in solipsistischer Manier an das Individuum binden, sondern systematisch eingebunden in Mit- und Umwelt, in den Rahmen von Sozialität und Geschichte, Leiblichkeit und Endlichkeit verstehen wollen und müssen. Dass »kein Mensch« »eine Insel« ist (John Donne), hat nicht zuletzt Konsequenzen eben gerade auch für das Verständnis von Selbstbestimmung und menschlicher Freiheit. Diese erkennt sich angesichts der vorgegebenen Eingebundenheit in jene Bezüge als angemessen gerade in der Unterwerfung unter ein Gesetz, das der Wirklichkeit des Lebens entspricht und in dessen Befolgung sich dann allein auch die Freiheit und Selbstbestimmung des Subjekts ausdrücken können.

Aufgrund dieser Relationalität ist daher ein Verständnis von Autonomie abzulehnen, das Selbstbestimmung einseitig nur als freie vernünftige Tat anerkennen möchte und sie denen aberkennt, die diese vernünftige Leistung nicht mehr oder noch nicht erbringen können. An den Rändern des Lebens oder bei Menschen mit Behinderung würde dies dazu führen, diesen die Autonomie und mit ihr schließlich auch das Personsein abzusprechen. Gegen eine solche Bindung des Personseins an Rationalität ist festzuhalten: Menschsein erschöpft sich nicht in kognitiven Fähigkeiten. In Berücksichtigung seiner Leiblichkeit ist das Personsein als relational zu erfassen. Selbstbestimmung und Freiheit sind daher selbst eingebunden in jene relationalen Zusammenhänge, die auch die Freiheit und Selbstbestimmung je unterschiedlich bestimmt sein lassen. Mit solcher Relationalität der Person und einer relationalen Selbstbestimmung kann damit Personsein überhaupt als relationales bestimmt werden. Autonomie – gerade als Selbstbestimmung – orientiert sich dann am anderen. Entsprechend dem antiken Begriff von Autonomie als Ausdruck eines autos nómos, vereinigt nun das Subjekt in sich genau jene Spannung zwischen objektiver Geltung des Gesetzes und subjektiver Bestimmung. In dieser Spannung dokumentiert sich die Unhintergehbarkeit relationaler Bezogenheit von Autonomie, die sich im Verhältnis von Personalität und Freiheit manifestiert. Um phänomenologisch die Parameter des Personseins angemessen zu erfassen, ist deren Selbstbestimmung daher selbst als relational zu begreifen. Autonomie des Subjekts entspräche mithin der relationalen Selbstbestimmung der Person und hat damit selbst Teil an deren Relationalität.

Von Autonomie ist in der Gegenwart besonders im Rahmen der medizinischen Ethik, insbesondere der Frage der Patientenautonomie die Rede. Autonomie ist auch dort in ihrer neuzeitlichen Bedeutung im Sinne der Selbstbestimmung aufgefasst, die im Zuge der Aufklärung als Befreiung des Subjekts aus fremder Bevormundung begriffen wird. So ist in der Medizin im Zusammenhang der Fragen von Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungsassistenz die Rolle der Selbstbestimmung gegenüber einem bevormundenden Paternalismus des Arztes zu klären. Wird Autonomie selbst relational verstanden, verbietet sich eine strikte Trennung von Autonomie und Fürsorge oder einer als fürsorglich verstandenen Bevormundung. Eine relationale Selbstbestimmung lässt vielmehr den Aspekt einer nicht nur kontingenten, sondern permanenten Angewiesenheit der Menschen aufeinander hervortreten, der sich dem genannten Verständnis...

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