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Filmwissen: Western

Grundlagen des populären Films

AutorGeorg Seeßlen
VerlagSchüren Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl300 Seiten
ISBN9783894727017
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
In den Grundlagen des populären Films analysiert der Kulturkritiker Georg Seeßlen detailreich und hintergründig die stilbildenden Elemente unterschiedlicher Filmgenres und verfolgt ihren Weg durch die Filmgeschichte. Ein enzyklopädisches Werk von hohem Rang, das präzise und informativ Filmwissen vermittelt ohne je oberflächlich zu sein. In Western verfolgen wir den Weg des einsamen Helden, der sich Feinden in mancherlei Gestalt gegenüber sieht, der Natur, den Fremden, den Frauen, den eigenen Träumen. Die Darstellung führt vom Helden der Stummfilmzeit Broncho Billy über die Klassiker von Howard Hawks und John Ford zu Clint Eastwood und lässt auch die Spaghetti-Western nicht aus.

Georg Seeßlen, geb. 1948, schreibt in vielen Zeitschriften und auf Websiten (u.a. Die Zeit, konkret, epdFilm, getidan.de) über Kino und Film und andere Aspekte der populären Kultur. Im Schüren Verlag sind von Georg Seeßlen neben den Grundlagen des populären Films Monographien über David Lynch (in der 6. Auflage) Stanley Kubrick und Steven Spielberg erschienen.

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Leseprobe

Die Indianer

Die Indianer, wie sie waren oder sind, haben sicher nicht sehr viel damit zu tun, wie der Western sie zeigt. Sie haben vielleicht aber auch nicht viel mit dem Bild gemeinsam gehabt, das in den Köpfen der weißen Christen von ihnen entstand. Es standen sich zunächst nicht die «Existenz» der Indianer und die «Existenz» der Weißen gegenüber – hier hätte man sich (und hat man, wie das Leben der ersten Pioniere zeigt) durchaus arrangieren können. Vielmehr hat die «Existenz» der Indianer die «Mythologie» der Weißen gefährdet. Nicht ihre Vorstellungswelt, ihr materieller Anspruch oder gar eine (zunächst gar nicht vorhandene) Aggressionsbereitschaft flößten dem Siedler Furcht ein, sondern die bloße Existenz der Ureinwohner. Anders ausgedrückt: Weil und solange es den Indianer gab, war dem weißen Christen die Welt aus den Fugen geraten, hatte sein ganz auf die wörtliche Auslegung der Bibel ausgerichteter Glaube einen gefährlichen Riss, und es war durchaus nicht die Sophisterei einiger Spinner, die heftig darüber debattieren ließ, ob Indianer eine Seele haben oder nicht, sondern es handelte sich um einen Ausdruck allgemeiner Verunsicherung, die zunächst in vielfältigen traumatischen oder verklärenden Versuchen zur Sinnerstellung, später in manifester Brutalität mündete.

Weil die Indianer das Weltbild der Europäer verwirrten, mussten sie sterben, es fand sich in der Bibel keine Erklärung für ihr Vorhandensein. Sie waren nicht die Nachkommen Noahs, stammten nicht von den Stämmen Sem oder Japhet ab, nicht einmal von Ham, wie die Schwarzafrikaner; die Indianer traten gleichsam von außen an die überlieferte Schöpfungsgeschichte heran und stellten sie in Frage.

Immer wieder versuchte die «weiße Mythologie» den Indianer zu integrieren, mit wechselndem Erfolg. Die rationale Wissenschaft erklärte die Herkunft des Indianers aus Asien, auf dem Weg über eine nun zerstörte Landbrücke. Im Laufe ihrer Wanderungen nach Süden haben sie, den jeweiligen Naturbedingungen angepasst, die verschiedenartigen Kultur- und Gesellschaftsformen entwickelt, denen man nun gegenüberstand. Einige sahen die Indianer als Nachfahren eines pazifischen Volkes, als Erben von Atlantis. Und in manchen religiösen Mythologien – insbesondere die Mormonen dachten und denken noch heute so – wurden die Indianer zum auserwählten Volk des Alten Testaments, das seiner Mission untreu geworden ist. Leslie A. Fiedler erinnert in diesem Zusammenhang an den Rancher in (Cat Ballou (1965, Regie: Elliot Silverstein), der zutiefst erstaunt darüber ist, dass ein Indianer nicht auf seinen hebräischen Gruß «Shalom» reagiert.

Es gibt aber für diese Vorstellung ein viel früheres Beispiel noch aus der Zeit der Stummfilm-Western. In dem Ken Maynard-Film The Red Raiders aus dem Jahr 1926 regt sich ein Kavallerie-Sergeant furchtbar über einen jüdischen Rekruten auf, der beständig «mit den Händen» redet. Als dieser Indianer gewahr wird, die das Fort besuchen, in dem die Soldaten stationiert sind, und sich mittels Zeichensprache verständigen, stutzt er, betrachtet die Nasen der Indianer, fasst sich an seine eigene, hat dann die Erleuchtung und ruft: «Brudders!» Er nimmt zwei der Indianer beiseite und redet mit ihnen in Zeichensprache, wie er meint. Nach einiger Zeit hat er den ganzen Schmuck und die Kleider der Indianer für eine Handvoll Plunder eingetauscht. Enttäuscht wendet er sich an seinen Sergeanten und meint, dass es sich bei den Indianern doch nicht, wie er angenommen hatte, um die «verlorenen Stämme Israels» handelt, denn ein Jude hätte sich niemals so leicht übers Ohr hauen lassen.

Die Begegnung mit dem Indianer ist für den WASP (White Anglo-Saxon Protestant) die eigentliche mythologische Grundsituation, durch die er entweder zu einem neuen Menschen wird, der den Europäer in sich überwindet, oder an der er scheitern muss. «Der Western ist demnach in seiner archetypischen Form ein Werk der Literatur, in dem ein verpflanzter WASP in der Wildnis auf ein radikal fremdes Wesen, den Indianer, trifft. Das Ergebnis dieser Begegnung ist entweder die Verwandlung des WASP in einen Menschen, der weder Weißer noch Indianer ist (das geschieht manchmal durch Adoption, manchmal durch reine Nachahmung, niemals jedoch durch Rassenmischung) oder die Vernichtung des Indianers (er wird entweder bekehrt, in ein Ghetto geschickt oder bisweilen einfach ermordet). In beiden Fällen wird die Spannung dadurch gelöst, dass der eine der beiden mythologischen Partner ausgeschaltet wird, im ersten Beispiel auf eine rituelle oder symbolische Weise, im zweiten durch physische Gewalt. Die erstgenannte Methode lässt einen radikal anderen Western entstehen, einen Sekundärwestern, der die Abenteuer des Neuen Menschen, des amerikanischen tertium quid beschreibt. Die andere Methode – unsere eigene ‹Endlösung› – führt zur Auslöschung des Western» (Leslie A. Fiedler).

Viele Helden von Westernfilmen kämpfen im Grunde in diesem Konflikt, entweder eine neue, allerdings durch das Tabu der Rassenmischung zukunftslose Identität zu finden, oder durch vehemente Entscheidung für die eigene Seite den Indianer zum Feind zu erklären, im gleichen Moment aber auch die eigene Integrität zu verlieren. Dieser Konflikt taucht auch in zahlreichen Verkleidungen auf, und sogar in solchen Filmen des Genres, in denen gar keine Indianer vorkommen, ist die Struktur dieses Konflikts sichtbar und haben sich die Indianer in Assoziationsbezügen (Frau, Natur, Banditen etc.) «aufgehoben».

Der Hass auf den Indianer, zu dem der weiße Siedler letztlich in einem Verhältnis stand wie Kain zu Abel, kam zu einem guten Teil daher, dass der Weiße in Amerika den Garten Eden, das Paradies und somit seine eigene «Wiege», seine vormalige Heimat, wiedergefunden zu haben glaubte. Kolumbus selbst hielt den Orinoko für den Fluss Gihon, einen der vier in der Bibel beschriebenen Flüsse des Paradieses. Nun musste der Weiße zu seinem Schrecken feststellen, dass das Paradies keineswegs unbewohnt und leer war, sondern dass nackte Menschendort lebten, die offenbar im Gegensatz zu den Weißen nicht aus dem Paradies vertrieben worden waren. Von daher ist erklärlich, wie nahe Hass und Verklärung, Identifikation und Auslöschung beieinander lagen und wie nahe sie auch in den Mythen der Unterhaltung beieinander sind.

Da in Europa alles auf eine «verbietende» Gesellschaftsform hinauslief, der Geist sich verdunkelte zur Zeit der ersten Kontakte mit den Uramerikanern, wurde auf den Wilden alles projiziert, was man selber an Leidenschaft und Trieb verbieten musste. Tatsächlich aber musste dieser Wilde von den Weißen erst erfunden werden, denn der Indianer, den man vorfand, musste erst vom Weißen so deformiert werden, dass er in das Schema passte und damit die Legitimation zur Ausrottung gab. Dabei wurde gewaltsam ein historischer Entwicklungsprozess in die eine Richtung gelenkt, die der Vorstellung der Kolonisatoren entsprach. Aus der Vielfalt indianischer Kulturen und Nationen, die in einem steten Austauschprozess begriffen waren, im Mittelpunkt einer «eigenen» Geschichte, wurde das statische Wesen «Indianer», seiner Geschichte und Identität beraubt und zu einer Randerscheinung in der Geschichte der Weißen. (Selbst dort, wo er indianerfreundlich ist, hat der Western diese Haltung nie überwinden können.)

Der Mythos vom Indianer im Western hat nicht nur eine historische und eine religiöse, sondern auch eine erotische Komponente. Da ist zunächst der Mythos von der «guten Indianerin», die ihr Vorbild in der Geschichte von Pocahontas, der Tochter des Häuptlings, und dem Kapitän John Smith fand, mit dem sie zusammenlebt. Diese gute Indianerin erscheint dem weißen Westerner als Möglichkeit, seine Flucht vor der Zivilisation, und damit vor der weißen Frau, zu beenden. Die gute Indianerin will den Frieden zwischen den Weißen und den Indianern, und sie ist sogar bereit, ihr Volk an die Weißen zu verraten. Ihr Wert für den weißen Mann liegt in ihrer Sinnlichkeit und Unterwürfigkeit zugleich, zwei Wesensmerkmale, die in der Frau des puritanischen Kulturkreises nicht mehr zur Deckung gebracht werden konnten.

Im Mythos von der Indianerprinzessin Pocahontas, den die amerikanische Literatur immer wieder aufgegriffen hat, und die nun ihre letzte Verklärung als Zeichentrick-Schönheit im Disney-Film gefunden hat, liegt auch ein Teil der neuen «Schöpfungsgeschichte» Amerikas verborgen. Pocahontas ist die Mutter Amerikas, eine Erlöserin, wie sie von den Pionieren gesehen wurde: Hier hat eine Frau die Rolle Christi als Erlöserin eingenommen. So hat das Leben in der Wildnis für den Westerner immer zugleich einen heiligen und einen sündigen erotischen Aspekt. Im jedem Westerner, der in die Stadt kommt, aus den Bergen, aus den Wäldern, aus der Prärie, steckt ein Teil von dem weißen Mann, der mit einer Indianerin geschlafen hat und ganz heimisch bei den Seinen nicht mehr werden kann, und in jedem Jungen, der das puritanische Farmhaus verlässt, steckt die Sehnsucht nach der schönen Indianerprinzessesin.

Während der Mythos dem weißen Pionier die indianische Frau als Mutter und Erlöserin zur Seite stellt, auch als Verlockung zum anderen Leben, ist die weiße Frau, die unter die Indianer gerät, immer eine Märtyrerin. Das Urbild all dieser Erzählungen ist die Geschichte von Hannah Duston, die von Indianern als Kind entführt wurde und sich die Freiheit mit dem Tomahawk erkämpfte, ein Sinnbild für die Antisinnlichkeit und den Stolz der Siedlerfrau, vor deren fesselnder Kraft sich der Mann fürchten muss. Um ihre Abscheu vor den Indianern erklärlich zu machen, werden diese mit einigen mythologischen...

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