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Frühe Hilfen und Frühförderung

Eine Einführung aus psychoanalytischer Sicht

AutorChristiane Ludwig-Körner
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl216 Seiten
ISBN9783170239647
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Schon zu Beginn der psychoanalytischen Bewegung beschäftigten sich Psychoanalytikerinnen und -analytiker mit frühkindlichen Entwicklungsprozessen und dem Aufbau der Mutter-Kind-Beziehung. In diesem Buch wird die Geschichte der psychoanalytischen Eltern-Säuglings- und Kleinkindpsychotherapie nachgezeichnet, die sich aus der Tradition der Bindungs- und Säuglingsforschung entwickelt hat. Anhand vieler Praxisbeispiele beleuchtet die Autorin die Komplexität des Themas und fordert ihre Kolleginnen und Kollegen dazu auf, psychoanalytische Kompetenzen nachdrücklich in diesen wichtigen Bereich der angewandten Psychoanalyse einzubringen.

Dr. phil. Christiane Ludwig-Körner ist Professorin an der Internationalen Psychoanalytischen Universität in Berlin.

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Leseprobe

1          Einführung in das Thema


Lange Zeit wurde nicht nur in der Sozialen Arbeit und in der Psychotherapie, sondern auch in der Frühförderung die frühe Kindheit vernachlässigt. Auch heute werden Sozialarbeiter/Sozialpädagoginnen, aber auch Kinderpsychotherapeuten für ihre Arbeit im Frühbereich ungenügend ausgebildet, obwohl bekannt ist, dass die meisten Kindesmisshandlungen und Tötungen im Kleinkindalter geschehen und eine verbesserte Ausbildung unabdingbar wäre.

Wie kann man sich das aktuell größere Interesse an der frühen Kindheit erklären? Welchen Stellenwert Kinder in unserer Gesellschaft haben, welche Bedeutung wir ihnen beimessen und was wir von ihnen erwarten, hängt von vielen Faktoren ab und zeigt sich u. a. auch im Interesse der Forschung an Säuglingen/Kleinkindern. So wurde in den letzten Jahrzehnten der »kompetente Säugling« entdeckt (Stone et al., 1973), in einer Zeit, in der in den westlichen Ländern die Geburtenrate zu sinken begann. Bei einer Geburtenrate von 1,3 Kindern pro Familie tritt die Einmaligkeit des Kindes in den Vordergrund, zugleich aber erhöhen sich auch die Erwartungen an das Kind. Die Umkehrung der Alterspyramide fordert, die Kinder möglichst optimal zu bilden, damit sie ihre Funktionen in der Gesellschaft bestmöglich erfüllen können. Nur ein gut gebildeter und psychisch gesunder, d. h. zukünftig arbeitsfähiger Mensch, kann die zu erwartende Last einer überalternden Gesellschaft tragen.

Aktuelle bildungs- und familienpolitische Diskussionen in Deutschland stehen auf der einen Seite im späten Einfluss der Pisa-Studien, auf der anderen Seite unterliegen sie der Notwendigkeit, Frauen wieder schneller nach der Geburt des Kindes in die Berufstätigkeit zurückzubringen. Kann es sein, dass die veränderte Sicht auf Kinder vor allem auch mit veränderten wirtschaftlichen Interessen einhergeht?

Neben dieser »ökonomischen Sicht« gibt es auch Überlegungen, dass die lange Ausblendung der frühen Lebenszeit (sowie der Lebensphase des Alterns und Sterbens) als kollektiver Verdrängungsprozess verstanden werden kann. Die völlige Abhängigkeit von anderen, die alle Menschen durchleben mussten (und müssen), ist oft so bedrohlich, dass sie verdrängt bzw. sogar abgespalten werden muss. Wenn der frühen Kindheit nun in weiten Kreisen eine größere Aufmerksamkeit zukommt, könnte dieses auf einen »psychischen Gesundungsprozess« der Gesellschaft hinweisen, in dem ihre Mitglieder sich nun doch mit oft schmerzhaften Gefühlen auseinandersetzen können und weniger verdrängen müssen. Ein veränderter Blick auf das Thema der Kindheit ist nur unter Einbezug der historischen Kontexte zu verstehen. Vielleicht wurden Kinder mit der Freiheit der Frau, sich bewusst für oder gegen ein Kind entscheiden zu können (Pille, Strafgesetzbuch § 218), zusätzlich »aufgewertet«, in dem sie mehr als zuvor als ein Teil der Mütter/Väter im Sinne eines Selbstobjekts erlebt werden?

Eine veränderte Sicht auf das Kind fand Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre statt, als Frauen begannen, für eine »natürliche Geburt« zu kämpfen. Die Säuglinge sollten unter psychisch optimalen Bedingungen ihr Leben beginnen können. Frauen wandten sich auch gegen eine Medizinalisierung und Programmierung der Geburt, wollten ihr Baby in familienfreundlichen Geburtshäusern oder zu Hause zur Welt bringen. Zu verstehen ist diese Veränderung auch vor dem Hintergrund der feministischen Bewegung. Sie war sehr einflussreich, so findet man heute z. B. selbst in den abgelegenen Gegenden Deutschlands die Kreissäle der siebziger Jahre nicht mehr vor. Es war in Deutschland auch der Beginn des »rooming in«. Auf die verheerenden Auswirkungen einer frühen Trennung von Mutter und Kind hatten bereits in den 1950er-Jahren James und Joyce Robertson mit ihren Filmen und Aufsätzen hingewiesen (1998). Beide hatten zuvor in den Kriegskinderheimen von Anna Freud mitgewirkt und arbeiteten dann in John Bowlbys Bindungsforschungen mit ( Kap. 2.1.3).

In der psychoanalytischen Bewegung gab es bereits frühzeitig Ansätze, psychoanalytische Erkenntnisse nicht nur an Fachkräfte, sondern auch an Eltern zu vermitteln oder in der Arbeit mit kleinen Kindern umzusetzen (Kindergärten, Kinderheime, spezielle Beratungsstellen). Bereits in den 1930er-Jahren untersuchte der Psychoanalytiker René Spitz in seinen Hospitalismusforschungen die Auswirkungen mütterlicher Trennung auf kleine Kinder und begründete damit die psychoanalytische Säuglingsforschung mit anerkannten Psychoanalytikern wie Daniel Stern, Robert Emde, Louis Sander, Alicia Lieberman, Allen Schore, Beatrice Beebe, Peter Fonagy, Mary Target, Daniel Schechter und Arietta Slade und vielen, die sich ihnen seither anschlossen. Es waren vor allem Psychoanalytikerinnen, die Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Psychotherapien aus den Nöten des Alltags heraus anboten, wie Selma Fraiberg, Alicia Lieberman, Stella Aquarone, und Anstöße für eine große weltweite Bewegung gaben. Zu denken ist an dieser Stelle auch an die frühen Arbeiten von Horst Eberhard Richter, der mit seinem Klassiker »Eltern, Kind, Neurose« (1962), lange bevor die Familientherapie in Deutschland bekannt und aufgebaut wurde, nicht nur auf elterliche Delegationen an ihre Kinder und auf transgenerationale Transmissionen hinwies, sondern mit seinen Mitarbeitern auch praxisnahe Projekte in sozialen Brennpunkten in Gießen anstieß. Hans-Peter Hartmann, der lange in Gießen als Psychoanalytiker arbeitete, baute später in Heppenheim an der dortigen Klinik für Psychotherapie und Psychiatrie eine stationäre Eltern-Säuglings-/Kleinkindpsychotherapie auf. Über die Arbeit weiterer Kolleginnen wird im Kap. 8 berichtet, wo nicht nur auf die psychoanalytische Arbeit von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern eingegangen wird, sondern auch psychoanalytische Zentren und Projekte beschrieben werden.

Nicht zuletzt durch die Medien, die zunehmend mehr von den schrecklichen Schicksalen von Kindern, ihrem Leid und ihren Tötungen berichteten, sah sich die Bundesregierung genötigt – über alle Parteien hinweg einig –, handeln zu müssen. Die Gründung des »Nationalen Zentrums Frühe Hilfen« 2007 unter der Familienministerin von der Leyen könnte als Geburtsstunde der »Frühen Hilfe-Bewegung« in Deutschland angesehen werden. Ihre Zielsetzungen, Aufgaben und Projekte werden im Kap. 2.2 erläutert.

Die Bedeutung der Familie und ihr Wandel unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ist wie eine »Folie«, vor der alle Themen betrachtet werden müssen, die im Kap. 3 behandelt werden. Familien sind der Ort, wo nicht nur die Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit und Beziehung (Bindung) situiert sind, sondern auch die kindlichen Bildungs- und Erziehungsprozesse stattfinden. Adoleszente Eltern, Mütter mit Schwangerschafts- und Wochenbettdepressionen, Eltern mit psychischen Störungen, Frühgeborene und Kinder mit Regulationsstörungen sind die Hauptgruppen, für die Frühe Hilfen benötigt werden.

Projekte der Frühen Hilfen sind in Deutschland heute so zahlreich, dass in diesem Buch nur ausgewählte ausführlicher dargestellt werden können. Einige Projekte wurden ausgewählt, weil sie in anderen Ländern, aber noch nicht in Deutschland erfolgreich umgesetzt wurden ( Kap. 4). Anhand einiger Projekte soll auch auf Möglichkeiten und Grenzen einer Arbeit mit Laien hingewiesen werden ( Kap. 7).

Angesichts enger finanzieller Ressourcen ist es auf der einen Seite verständlich, dass Projekte favorisiert werden, die vorrangig mit semiprofessionellen Kräften zusammenarbeiten, andererseits bedarf es hoher professioneller Kompetenz, um jungen Familien zu helfen, sich aus ihren manchmal malignen Familienmustern zu befreien. Es besteht die Gefahr, dass Frühe Hilfen als nicht wirksam angesehen werden und dass sich das Tor, das sich gerade geöffnet hat, rasch wieder schließt. Die Gefahr einer »Verwässerung« wird zudem durch die fließenden Übergänge zwischen Bildungsprozessen (von Erwachsenen und Kindern), Frühförderung, Beratung, Krisenintervention und Psychotherapie verstärkt – Themen, die im Kap. 4 behandelt werden. Dort wird ein Modellprojekt vorgestellt, in dem versucht wird, die fiskalischen Grenzen unterschiedlicher Zuordnungsbereiche wie Bildung, Frühe Hilfen, Psychotherapie oder Frühförderung zu integrieren, unter dem Motto »Eltern-Förderung im Kindergarten«.

Wie befähigt sind Laien, aber auch Fachkräfte, wie Sozialarbeiter, Familienrichter, Ärzte und Psychologen, Kindeswohlgefährdungen einzuschätzen? Verfügen sie über das...

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