Ken Blue berichtet in seinem Werk „Heilung erfahren nach geistlichem Missbrauch“ von Menschen, die diese Art von Missbrauch am eigenen Leib erfahren haben. Nachfolgend werden drei dieser Berichte vorgestellt. Hierbei wird der Missbrauch sowohl aus Sicht des Opfers als auch aus Sicht des Täters beleuchtet.
Sarah ist 36 Jahre alt und seit einigen Jahren als Bürokauffrau bei einer Versicherung angestellt. Sie ist seit vielen Jahren aktives Mitglied einer evangelischen Gemeinde. Ihr Ehemann und ihre Kinder sind ebenfalls regelmäßige Besucher dieser Kirchengemeinde. Als Sarah immer mehr in ein depressives Tief rutscht, vereinbart sie einen Termin bei einer Beratungsstelle außerhalb ihrer Gemeinde und beginnt die Sitzung mit den Worten: „Entweder werde ich verrückt oder ich stehe kurz vor einem großen Durchbruch in meinem geistlichen Wachstum.“ Der Berater bemerkt, dass dies zwei vollkommen entgegengesetzte Dinge seien und fragt Sarah, wie sie darauf käme. Sie berichtet, dass sie vor einigen Monaten verzweifelt ihren Pastor aufgesucht habe, da ein Gefühl von Traurigkeit sie nicht mehr losließ. Sie erzählt, wie der Pastor angeblich ohne Umschweife auf ihr „Grundproblem“ zu sprechen kam. Als der Berater nachfrägt, was dies genau sei, senkt Sarah den Blick und beteuert: „Ich bin selbst an allem schuld. Mein Pastor sagt, ich würde mich gegen Gott auflehnen.“
Was folgt, ist eine unglückliche und nur zu häufig vorkommende Geschichte innerhalb christlicher Gemeinden. Als Sarah ihren Pastor um Hilfe bittet, nennt dieser ihr als „Rezept“ einige Bibelstellen. Diese sollte sie auswendig lernen und immer wieder aufsagen. Auf diese Weise würden ihre Gedanken von sich selbst abgelenkt und auf Gott gerichtet. Die Depression würde laut Aussage des Pastors verschwinden, sobald Sarah ihre sündige Ich-Bezogenheit überwunden hätte.
Sarah hat den Vorschlag ihres Pastors ausprobiert, ihre Depression ist davon jedoch nicht verschwunden. Das Gegenteil ist der Fall - es kommen massive körperliche Beschwerden hinzu. Sarah fühlt sich von ihrem Pastor verurteilt und beteuert dem Berater, dass sie dessen Ratschläge alle treu umgesetzt hatte. Sie berichtet von plötzlich auftretenden Albträumen und zunehmender Schlaflosigkeit. In solchen Augenblicken sei sie überzeugt davon, ein schlechter Mensch zu sein, da ihr Leben sonst sicher nicht solch ein Chaos wäre.
Insgesamt kämpft Sarah sechs Monate auf diese Weise mit sich und ertappt sich immer wieder bei dem Gedanken, all dem bald ein Ende setzen zu wollen. Dann wiederum beschäftigen sie die Gedanken, dass sie eventuell doch kurz vor einem Durchbruch vor einer größeren „Heiligkeit“ stünde, wie viele Gemeindemitglieder ihr das prophezeiten. Immer wieder überkommt Sarah jedoch das Gefühl, dass sie ihre aktuelle Lage und akute Last nicht mehr lange aushalten und ertragen könne (vgl. Blue, 1993, S. 116-117).
Kurzbetrachtung: Fall „Sarah“
Bei der Betrachtung von Sarahs Geschichte fallen einige Faktoren ins Auge: Sarahs Pastor ignoriert die körperlichen und emotionalen Dimensionen ihres Problems und vollzieht eine Problemlösung mit einem engen, stark „vergeistlichten“ Ansatz. Er glaubt ohne viel nachzufragen Sarahs Grundproblem zu kennen. Allerdings sind hier wenig greifbare Faktoren am Werk und dieses kaum Fassbare ist es, was den Tätern von geistlichem Missbrauch die Macht gibt, großen Schaden anzurichten, bewusst oder unbewusst (vgl. Blue, 1993, S. 22).
Sarah hatte sich ihrem Pastor gegenüber verletzlich gezeigt, indem sie über ihre persönlichen Probleme sprach. Sie ging von der Annahme aus, dass der Pastor in diesem Problembereich „gesünder“ war als sie bzw. dass dieser zumindest besser darüber Bescheid wusste und ihr somit helfen konnte. Wird zusätzlich die Position des Pastors als geistliche Autorität hinzugenommen, so wird leicht verständlich warum dessen Worte so viel Gewicht in Sarahs Denken hatten. Als sie mit ihm über ihre Depression sprechen wollte, unterstellt der Pastor ihr, selbst die Ursache für ihr Problem zu sein. Seiner Meinung nach lehnt Sarah sich gegen Gott auf und ist in seinen Augen somit auch das Problem. Er lenkt die Aufmerksamkeit von einer Emotion auf einen Menschen, von Sarahs Gefühlswelt auf ihr Wesen. Nun ist nicht mehr die Depression das Problem, sondern der Mensch selbst. Der Pastor hält Sarah für jemanden, der sich auflehnt und sich bemühen sollte, mehr nach biblischen Maßstäben zu leben. Die Ratsuchende bemerkt in ihrem Fall nicht, dass sie nicht die Hilfe bekommt, die sie sie sucht und braucht. Anstelle der notwendigen Hilfeleistung wird ihre geistliche Stellung vor Gott in Frage gestellt und im Ansatz verurteilt (vgl. ebd.).
Die Dynamik, die dieser Begegnung zugrunde liegt, ist subtil. Ein nach Hilfe Ausschau haltender Mensch wendet sich mit seiner Frage an eine Autorität, die sich offensichtlich selbst über jeden Zweifel erhaben fühlt. Der Pastor ist der Meinung, aufgrund seiner Autoritätsstellung müssten seine Gedanken und Überzeugungen richtig sein. Darüber hinaus geht er davon aus, dass die Fragen seiner Ratsuchenden aus einer falschen Geisteshaltung heraus gestellt werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass er das Schlimmste und nicht das Beste von der Ratsuchenden annahm. Daraufhin entsteht ein Machtkampf.
Zweifellos ist der Pastor Sarah gegenüber offen und ehrlich und sicher war es seine Absicht zu helfen. Die Manipulation setzt erst dann ein, als Sarah eine Frage stellt und er sich auf seine Position als Autoritätsperson zurückzieht (vgl. ebd.).
Alexander ist 49 Jahre alt, verheiratet und hat mit seiner Ehefrau einen gemeinsamen fünfjährigen Sohn. Er ist als kaufmännischer Leiter in einem mittelständigen Unternehmen tätig. Seit einigen Jahren ist er Teil der Gemeindeleitung und Fürsprecher einer Gruppe, die sich innerhalb der Gemeinde eine größere Öffnung für den Heiligen Geist wünscht. Dieser Wunsch wird in der Gemeinde allerdings nicht als Chance, sondern als Gefahr gesehen. Während verschiedener Treffen einer übergemeindlichen Gruppe, in der Raum für Anbetung und Ausüben von Geistesgaben gegeben wird, suggeriert der Leiter von Alexanders Gemeinde, dass auch bei ihnen dieser Raum für Anbetung zukünftig angeboten werden sollte. Kaum sind sie jedoch wieder im normalen Gemeindealltag eingetroffen, wird vor diesen „seelischen Dingen“ strikt gewarnt und Alexander wird von einigen Mitgliedern der Gemeindeleitung immer mehr in Rechtfertigungsdruck gebracht. Schließlich wird ein klärendes Gespräch mit den Ältesten der Gemeinde, einem Mediator und ihm einberufen. Einer der Ältesten schließt die Tür des Besprechungsraums ab, steckt den Schlüssel in die Hosentasche und sagt: „Wir verlassen diesen Raum nicht eher, bis wir wieder eines Sinnes sind[1]“. Das „eines Sinnes sein“ schien Alexanders Verzicht auf die Erfahrungen mit dem Heiligen Geist zu beinhalten. Während diesem Treffen wird über Stunden seelischer Druck auf ihn ausgeübt und Alexander bekommt einige aus dem Kontext gerissene Bibelzitate sowie stimulierende Gebete zu hören. Alexander kann und will jedoch nicht hinter das zurück, was ihm wichtig und wertvoll geworden ist. Er sehnt sich nach einer Gottesbeziehung, die von Anbetung und Freiheit geprägt ist. Er wechselte daraufhin kurzentschlossen mit seiner Familie die Gemeinde.
In der neuen lebendigen Gemeinde fühlen Alexander und seine Familie sich zu Beginn rundum wohl und am richtigen Ort. Er übernimmt nach kurzer Zeit die Leitung des Seelsorgedienstes und erlebt, wie Menschen innerlich und äußerlich heil werden. Die Gemeinde erfährt großen Zuspruch und schließlich wird das Gemeindehaus mit seinen mitreißenden Gottesdiensten zu klein. Ein renovierungsbedürftiges Gebäude wird erworben und bald beginnen in Alexanders Augen damit die ersten Schwierigkeiten: Die mit großem Eifer begonnenen baulichen Arbeiten führen die Gemeinde sehr bald an die Grenzen des kräftemäßig und finanziell Machbaren. Das Gebäude wird dennoch fertiggestellt und die Gemeindemitglieder und die Leitung sind stolz darauf, endlich eine „große Gemeinde“ zu sein. Es hatte bereits vor dem Gebäudeerwerb Wachstums-Prophetien gegeben, die nun nach Fertigstellung des Gebäudes in Zahlen konkretisiert wurden. Der Wunsch nach Größe wirkt sich auf verschiedenste Art und Weise aus. Die Technik muss vom Besten sein, bekannte Gastredner werden engagiert, die Beleuchtung muss so gestaltet werden, dass alle Aktivitäten „auf der Bühne“ optimal zur Geltung kommen und der Chor soll einheitliche Kleidung tragen. Was für Alexander noch von viel entscheidenderer Auswirkung ist, betrifft die Tatsache, dass er beobachtet, wie die Gemeinde immer mehr vom Pastor alleine gesteuert wird. Seine Vorstellungen und Wünsche bezüglich der Gemeindeangelegenheiten werden auf einmal in einer Art und Weise vorgetragen und durchgesetzt, die fast einer Gleichschaltung gleichkommt. Alexander scheint es, als würde der erzielte Erfolg nach und nach allen Verantwortlichen zu Kopf steigen. Er war inzwischen Verantwortlicher für die Finanzen innerhalb der Gemeinde geworden, da er als kaufmännischer Leiter eines mittelständischen Unternehmens hier eine kompetente Rolle einnehmen konnte. Seine...