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E-Book

H wie Habicht

AutorHelen Macdonald
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783843711470
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der Spiegel-Bestseller Der Tod ihres Vaters trifft Helen unerwartet. Erschüttert von der Wucht der Trauer wird der Kindheitstraum in ihr wach, ihren eigenen Habicht aufzuziehen und zu zähmen. Und so zieht das stolze Habichtweibchen Mabel bei ihr ein. Durch die intensive Beschäftigung mit dem Tier entwickelt sich eine konzentrierte Nähe zwischen den beiden, die tröstend und heilend wirkt. Doch Mabel ist nicht irgendein Tier. Mabel ist ein Greifvogel. Mabel tötet. »Um einen Greifvogel abzurichten, muss man ihn wie einen Greifvogel beobachten, erst dann kann man vorhersagen, was er als Nächstes tun wird. Schließlich sieht man die Körpersprache des Vogels gar nicht mehr - man scheint zu fühlen, was der Vogel fühlt. Die Wahrnehmung des Vogels wird zur eigenen. Als die Tage in dem abgedunkelten Raum vergingen und ich mich immer mehr in den Habicht hineinversetzte, schmolz mein Menschsein von mir ab.« Helen Macdonald Ein Buch über die Erinnerung, über Natur und Freiheit - und über das Glück, sich einer großen Aufgabe von ganzem Herzen zu widmen. »[Macdonalds] anschaulicher Stil - verblüffend und außerordentlich präzise - ist nur ein Teil dessen, was dieses Buch ausmacht. Die Geschichte vom Abrichten Mabels liest sich wie ein Thriller. Die allmählich und behutsam anwachsende Spannung lässt den Atem stocken ... Fesselnd.« Rachel Cooke Observer * New York Times Bestseller * Costa Award für das beste Buch des Jahres 2014 * Samuel Johnson Prize

Helen Macdonald ist Autorin, Lyrikerin, Illustratorin und Historikerin. Sie arbeitet an der University of Cambridge, England, im Bereich Geschichte und Philosophie der Wissenschaften. H wie Habicht erhielt in England den renommierten Samuel Johnson Prize, der herausragenden Sachbüchern verliehen wird, sowie den hochdotierten Costa Award für das beste Buch des Jahres.

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Leseprobe

1

Geduld

Fünfundvierzig Autominuten nordöstlich von Cambridge beginnt eine Landschaft, die mir im Laufe der Zeit sehr ans Herz gewachsen ist. Dort geht feuchtes Moor in ausgedörrten Sand über. Es ist ein Land der knorrigen Kiefern, der ausgebrannten Autos, der kugeldurchlöcherten Straßenschilder und der US-Air-Force-Stützpunkte. Es herrscht eine nahezu gespenstische Atmosphäre. In den nummerierten Häuserblocks der Kiefernforstbetriebe verfallen die Gebäude. Hinter dreieinhalb Meter hohen Zäunen gibt es inmitten grasbewachsener Hügelgräber Stellflächen für atomare Luftwaffen, Tätowierstudios und Golfplätze der Air Force. Im Frühling setzt hier ein Lärmchaos ein: ununterbrochener Flugverkehr, Schüsse aus Druckluftgewehren über Erbsenfeldern, rufende Heidelerchen und dröhnende Düsentriebwerke. Die Landschaft heißt Brecklands – das gebrochene, zerklüftete Land –, und dort fand ich mich an diesem Morgen zu Beginn des Frühjahrs vor sieben Jahren wieder, auf einer Reise, die ich ganz und gar nicht geplant hatte. Um fünf Uhr morgens starrte ich auf einen erleuchteten quadratischen Fleck, den das Licht der Straßenlaterne an die Zimmerdecke warf, und hörte einem Paar zu, das sich draußen auf dem späten Nachhauseweg von einer Party unterhielt. Ich fühlte mich komisch: übermüdet, überreizt, unangenehmerweise irgendwie, als wäre mein Gehirn entfernt und mein Schädel stattdessen mit Alufolie aus der Mikrowelle ausgestopft worden, zerknüllt, verschmort und kurzschlussfunkensprühend. Nnngh. Aufstehen, dachte ich und warf die Bettdecke zurück. Los, raus! Ich schlüpfte in Jeans, Stiefel und Pulli, verbrühte mir den Mund an zu heißem Kaffee, und erst als mein eiskalter, uralter Volkswagen und ich die A14 schon halb hinter uns hatten, fiel mir wieder ein, wohin ich fuhr und warum. Da draußen, jenseits der beschlagenen Windschutzscheibe und der Straßenmarkierung, war der Wald. Der zerklüftete Wald. Dorthin war ich unterwegs. Um Habichte zu sehen.

Ich wusste, dass das schwierig werden würde. Habichte sind schwierig. Haben Sie schon einmal einen Greifvogel gesehen, der in Ihrem Garten einen anderen Vogel fängt? Ich nicht, aber ich weiß, dass es geschieht. Ich habe Beweise gefunden, manchmal winzige Spuren auf den Steinplatten der Terrasse: ein kleines insektenähnliches Singvogelbein, der Fuß dort eingekrallt, wie die Sehnen ihn bewegt hatten. Oder – noch grausiger – ein abgetrennter Schnabel, der Ober- oder Unterschnabel eines Sperlings, ein kleiner kegelförmiger Tropfen geröteten Blaugraus, durchsichtig schimmernd, noch mit ein paar hellen Federn daran. Aber vielleicht haben Sie es ja tatsächlich schon einmal gesehen. Vielleicht haben Sie zufällig aus dem Fenster geblickt, als ein verdammt großer Vogel mitten auf dem Rasen gerade eine Taube ermordete oder eine Amsel oder eine Elster – das gewaltigste, eindrucksvollste Stück Wildnis, das man sich vorstellen kann. Als hätte jemand einen Schneeleoparden in Ihre Küche gesetzt, der dann die Katze frisst. Es ist schon vorgekommen, dass ich von Leuten im Supermarkt oder in der Bibliothek angesprochen wurde, die mir mit weit aufgerissenen Augen erzählten: Heute Morgen hat ein Greifvogel in meinem Garten einen anderen Vogel gefangen! Mir liegt schon auf der Zunge zu antworten: Ein Sperber!, da sagt mein Gegenüber: »Ich habe im Bestimmungsbuch nachgeschaut. Es war ein Habicht!« Aber es ist nie einer – die Bestimmungsbücher funktionieren nicht. Beim Kampf gegen die Taube wird der Greifvogel auf Ihrem Rasen plötzlich überlebensgroß, und die Illustrationen im Buch stimmen mit der Erinnerung nicht überein. Der Sperber ist grau mit schwarz-weiß quergebänderter Körperunterseite, gelben Augen und langem Schwanz. Auch der Habicht ist grau mit schwarz-weiß quergebänderter Körperunterseite, gelben Augen und langem Schwanz. Hmm, denken Sie beim Lesen der Beschreibung. Sperber: dreißig bis vierzig Zentimeter groß. Habicht: achtundvierzig bis sechzig Zentimeter. Na also! Der Vogel war riesig. Es muss ein Habicht gewesen sein. Sie sehen absolut identisch aus, Habichte sind nur größer. Einfach nur größer.

Nein. Im echten Leben ähnelt der Habicht dem Sperber ungefähr so wie der Leopard der Hauskatze. Er ist größer, ja. Aber er ist auch massiger, blutiger, tödlicher, furchterregender und viel, viel seltener zu sehen. Diese Vögel der tiefen Wälder – nicht der Gärten – sind der geheimnisumwitterte Gral der Vogelbeobachter. Man kann eine Woche in einem Wald voller Habichte verbringen und nie einen zu Gesicht bekommen, höchstens Spuren ihrer Anwesenheit wahrnehmen. Eine plötzliche Stille, gefolgt von den Rufen zu Tode erschrockener Waldvögel, das Gefühl, dass sich etwas knapp außerhalb des Gesichtsfeldes bewegt. Vielleicht eine halb aufgefressene Taube, ausgestreckt auf dem Waldboden inmitten einer Explosion weißer Federn. Oder Sie haben Glück: Sie gehen im nebligen Morgengrauen spazieren, schauen sich um und sehen für den Bruchteil einer Sekunde einen Vogel vorbeifliegen, die Zehen mit den riesigen Klauen locker gekrümmt gehalten, die Augen auf ein fernes Ziel gerichtet. In diesem Sekundenbruchteil prägt sich das Bild unauslöschlich in Ihr Gedächtnis ein und lässt Sie begierig nach mehr zurück. Die Suche nach Habichten ist wie die Suche nach Gnade: Sie wird einem gewährt, aber nicht oft, und man weiß nie, wann oder wie. Etwas besser stehen die Chancen an einem stillen, klaren Morgen im Vorfrühling, denn dann verlassen die Habichte ihre Welt in den Bäumen und vollführen ihre Balzflüge am offenen Himmel. Darauf hoffte auch ich an jenem Morgen.

Ich schlug die rostende Autotür zu und machte mich mit meinem Fernglas auf den Weg durch den vom Frost zinnfarben getünchten Wald. Teile davon waren verschwunden, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Ich stieß auf zerstörten Boden, abgeholzte Flächen voller ausgerissener Wurzeln und vertrocknete Nadeln im Sand. Lichtungen. Die brauchte ich. Allmählich drang mein Gehirn wieder in Bereiche vor, die es seit Monaten nicht benutzt hatte – so lange hatte ich in Bibliotheken und Hörsälen gesessen, auf Bildschirme gestarrt, Seminararbeiten korrigiert, akademische Querverweise aufgespürt. Dies war eine ganz andere Art der Jagd. Hier war ich ein anderes Tier. Haben Sie schon einmal ein Reh beobachtet, das die Deckung verlässt? Es tritt heraus, hält inne und bleibt stehen, reglos, die Nase in der Luft; es blickt sich um und schnuppert. Vielleicht fährt ein nervöses Zucken über seine Flanke. Und wenn es sich vergewissert hat, dass alles sicher ist, stakst es aus dem Unterholz, um zu äsen. An jenem Morgen fühlte ich mich wie dieses Reh. Nicht dass ich in der Luft geschnuppert oder ängstlich innegehalten hätte – aber wie das Reh bewegte auch ich mich nach archaischen und emotional verankerten Mustern durch die Natur, in einer Weise und mit einer Wachsamkeit, die sich der bewussten Kontrolle entzieht. Irgendetwas in meinem Inneren befahl mir, wie und wohin ich treten sollte, ohne dass ich selbst viel darüber wusste. Vielleicht sind es Jahrmillionen der Evolution, vielleicht ist es Intuition, aber auf der Jagd mit meinem Habicht bin ich angespannt, wenn ich mich in der Sonne bewege oder im Sonnenlicht stehen bleibe. Unbewusst nähere ich mich dann den vom Licht durchbrochenen Stellen oder schlüpfe in die engen, kalten Schatten entlang der breiten Schneisen zwischen den Kiefernwäldchen. Ich zucke zusammen, wenn ich einen Häher rufen oder eine Krähe krächzen höre, zorniger Alarm. Beides kann entweder Achtung, Mensch! oder Achtung, Habicht! heißen. Und an diesem Morgen versuchte ich, das eine aufzuspüren, indem ich das andere verbarg. Die uralten geisterhaften Eingebungen, die seit Tausenden von Jahren Sehnen und Seele zu einer Einheit verschmelzen, hatten die Führung übernommen, taten, was sie immer taten, verursachten mir im hellen Sonnenlicht auf der falschen Seite eines Hügelkamms, Unbehagen, zogen mich auf die andere Seite einer ausgebleichten grasbewachsenen Anhöhe – zu einem Tümpel. Von seinem Rand stoben Wolken kleiner Vögel auf: Buchfinken, Bergfinken, eine Schar Schwanzmeisen, die in den Weidenzweigen hängen blieben wie lebendige Wattebäusche.

Der Tümpel war ein Bombenkrater, einer von einer ganzen Reihe von Kratern, die ein deutsches Flugzeug im Krieg über Lakenheath hinterlassen hatte. Eine Wasseranomalie, ein Tümpel in den Dünen, von dicken Sandseggenbüscheln umgeben, viele Kilometer vom Meer entfernt. Ich schüttelte den Kopf. Seltsam. Andererseits ist es hier sehr seltsam, und bei einem Spaziergang im Wald trifft man auf alle möglichen Dinge, die man nicht erwartet. Weitläufige Flächen von Echter Rentierflechte zum Beispiel: winzige Sternchen und Röschen, Andeutungen einer uralten Flora, die das erschöpfte Land besiedelt. Im Sommer knirscht sie unter den Füßen und wirkt wie ein Stück Arktis, das am falschen Ort auf die Welt gefallen ist. Überall ragt knochiger und scharfkantiger Feuerstein empor. An einem feuchten Morgen kann man Bruchstücke davon aufsammeln, die Handwerker aus der Jungsteinzeit aus dem Gesteinskern herausgeschlagen haben, winzige Schuppen, die von kaltem Wasser benetzt glänzen. Die Gegend hier war in der Jungsteinzeit das Zentrum der Feuersteinverarbeitung. Später wurde sie für ihre Kaninchen berühmt, die man des Fleisches und des Fells wegen hielt. Riesige umzäunte und von Dornenböschungen eingeschlossene Gehege dehnten sich einst über die gesamte Sandlandschaft aus und gaben den Ortschaften hier Namen wie Wangford Warren oder Lakenheath Warren. Damit brach schließlich auch eine Katastrophe herein. Gemeinsam mit den Schafen grasten die Kaninchen das Land so...

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