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E-Book

Igel-Kinder

Kinder und Jugendliche mit Asperger-Sydrom verstehen

AutorReiner Bahr
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783843603317
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Sie sind extrem eigensinnig, haben kaum Freunde, vermeiden Blickkontakt oder reden ohne Rücksicht einfach drauflos. Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom sind bereits im Kindergarten auffällig und scheitern häufig trotz großer Intelligenz in der Schule. Mit den eigenwilligen Verhaltensweisen dieser 'Igel-Kinder' zurechtzukommen, ist für Eltern wie Lehrkräfte kein leichtes Unterfangen. Der Sonderpädagoge Reiner Bahr erklärt die Ursachen und Folgen dieser besonderen Form des Autismus und zeigt Eltern, Erzieherinnen und Lehrkräften Wege, wie sie 'Igel-Kinder' verstehen lernen und gezielt fördern und unterstützen können.

Reiner Bahr ist Fachleiter für Sonderpädagogik am Studienseminar in Duisburg. Er ist ausgewiesener Experte auf dem Gebiet des selektiven Mutismus und ist Mitglied im Beirat der internationalen 'Selective Mutisme Organization.'

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Leseprobe

2. Das Asperger-Syndrom im Kleinkind- und Vorschulalter – frühe Diagnostik und Förderung


Was bereits im Kleinkindalter auffällig ist


Mirkos Eltern sind besorgt. Der kleine Junge ist jetzt 20 Monate alt und beginnt gerade zu krabbeln. Er spricht zwar schon die ersten Worte – »Mama«, »Papa«, »Auto« –, aber selbst die Eltern kommen nicht richtig an ihn heran. Er hat als Säugling viel geschrien, kaum gelächelt und wollte sich auch nicht beruhigen lassen, wenn die Mutter ihn liebevoll auf den Arm nahm. Im Vergleich zu den Gleichaltrigen aus der Kleinkindgruppe scheint er entwicklungsverzögert zu sein. Könnte Mirko eine Störung aus dem autistischen Spektrum haben?

Es ist verständlich, dass Mirkos Eltern sich Sorgen machen, denn tatsächlich sind viele Kinder mit 20 Monaten bereits weiter entwickelt. Sie laufen, schauen aufmerksam auf alles, was sich um sie herum bewegt, und sie lernen jeden Tag neue Wörter. Trotzdem muss Mirkos Entwicklungsverzögerung noch keine Störung oder gar Krankheit sein, denn der Junge könnte schlichtweg ein Spätentwickler sein, der in Kürze die bisher ausgebliebenen Entwicklungsschritte nachholt. Dennoch ist es wichtig, dass die Eltern sich Rat holen. Sehr oft habe ich beim Erheben von Entwicklungsdaten von Kindern, die später auffällig wurden, gehört, dass Kinderärzte schlichtweg zum Abwarten geraten hatten. Dadurch ist dann wertvolle Zeit, die für eine frühe Förderung hätte genutzt werden können, verloren gegangen. Bezogen auf die Sprachentwicklung kann z. B. ganz klar gesagt werden: Das Ausbleiben eines rasanten Wortschatzzuwachses gegen Ende des zweiten Lebensjahres ist ein deutliches Warnsignal für eine spätere Sprachentwicklungsstörung, wenngleich diese nicht immer eintreten muss.

In jedem Fall verdient die frühe Sprachentwicklung ganz besondere Beachtung, auch und gerade bei einem Kind mit Asperger-Syndrom. Hier kommt es darauf an festzustellen, wie das Kind auf sprachliche Äußerungen reagiert und inwieweit es selbst den sprachlichen Kontakt sucht. Man sollte sich dabei darüber im Klaren sein, dass jede Äußerung mehr bedeutet als nur das Bezeichnen einer Person oder eines Gegenstands. Sagt eine Mutter beispielsweise zum kleinen Kind einen Satz wie: »Schau, da kommt Papa«, enthält dieser mehr als die reine Information darüber, dass sich der Vater nähert – die Mutter bringt durch ihren Tonfall auch zum Ausdruck, dass Papa nicht irgendjemand, sondern dass er eine für das Kind wichtige Person ist, über deren Ankunft es sich freuen soll. Die Aussage enthält also auch ein Gefühl. Mit anderen Worten: Ein Kind muss lernen, die in einer Mitteilung enthaltenen Informationen so zu deuten, wie sie gemeint waren – inhaltlich und emotional –, da sie sonst nicht vollständig verstanden werden.

Zu bedenken ist überdies, dass sich nicht nur die Mutter dem Kind, sondern dass sich üblicherweise auch das Kind selbst spätestens am Ende des ersten Lebensjahres gezielt seinen engsten Bezugspersonen zuwendet, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch nicht oder kaum sprechen kann. Doch sein Blick und seine Lautäußerungen geben Hinweise darauf, wohin die Aufmerksamkeit gerichtet werden soll. Barbara Zollinger, eine Logopädin aus der Schweiz und große Expertin auf dem Gebiet der frühen Kindersprache, zeigt in ihrem Buch Die Entdeckung der Sprache30 sehr anschaulich auf, dass in der frühen Aufmerksamkeitsausrichtung zwischen Kind, Gegenstand und Bezugsperson die zentralen Gründe für die sozial-kommunikative Entwicklung liegen. Sie beschreibt, wie das Kind das Hingeben von Gegenständen immer mit einem erwartungsvollen Blick verbindet, der eine Antwort einzufordern scheint. Das Kind entdeckt den anderen als »Du«, es erfährt, dass Handlungen durch Mimik, Gestik und Lautäußerungen steuerbar sind. Da bei Kindern mit Asperger-Syndrom offenbar gerade im Blickkontakt und in der Aufmerksamkeit Auffälligkeiten bestehen, liegt die Vermutung nahe, dass bereits in dieser frühen Entwicklungsphase die späteren Kommunikationsschwierigkeiten grundgelegt sind. Es ist anzunehmen, dass die betroffenen Kinder nicht alle in einer Situation enthaltenen Informationen verstehen, insbesondere werden die sprachbegleitenden Merkmale zu wenig beachtet (vgl. hierzu und zum Folgenden auch die Ausführungen im vorigen Kapitel zu den Störungen der zwischenmenschlichen Kommunikation im Abschnitt »Die Folgen des Asperger-Syndroms für die kindliche Entwicklung«).

Ich komme noch einmal auf das obige Beispiel des kleinen Mirko zurück. Hier kommen nämlich mehrere bedenkliche Auffälligkeiten zusammen: Mirko hat offenbar nicht nur eine eventuell verzögerte Sprachentwicklung, sondern auch eine Verzögerung in der motorischen Entwicklung, denn er müsste mit 20 Monaten eigentlich schon laufen. Des Weiteren empfindet er den Körperkontakt mit der Mutter offenbar nicht wirklich als angenehm, und die Eltern haben das Gefühl, dass sie nicht richtig an ihr Kind herankommen. Dies sind mögliche Hinweise auf autistisches Verhalten, das die Eltern weiter beobachten sollten. Allerdings lehrt die Erfahrung, dass es noch lange bis zu einer genauen Diagnosestellung dauern kann. Dies ist in der Medizin keineswegs ungewöhnlich: Oft besteht eine Krankheit bereits seit längerer Zeit, wenn sie erstmals diagnostiziert wird. Das gilt besonders dann, wenn das Krankheitsbild sich eher durch abweichendes Verhalten als durch körperliche Symptome, also durch Schmerzen oder durch äußerlich sichtbare Veränderungen zeigt. Im Kindesalter sind Diagnosen für abweichendes Verhalten oder Entwicklungsverzögerungen besonders schwierig zu stellen, weil es ja für die einzelnen Meilensteine der Entwicklung große Bandbreiten gibt.

Mirkos Beispiel zeigt, dass es frühe Hinweise auf ein mögliches Asperger-Syndrom oder eine andere Störung aus dem autistischen Spektrum gibt. Inzwischen liegen zu den frühen Symptomen auch wissenschaftliche Befunde vor. Durch Befragungen und durch die Analyse von privaten Videofilmen aus der frühen Kindheit wurde herausgefunden, dass klare Unterschiede zu unauffälligen Kleinkindern bestehen. Nach Renate Giese zeigen sich diese Unterschiede zusammengefasst wie folgt:31

  • Die betroffenen Kinder suchen schon als Säuglinge nur begrenzt Augenkontakt zu ihren Bezugspersonen; dieser ist flüchtig oder starr.
  • Sie lächeln seltener und sind weniger aktiv.
  • Sie lassen sich weniger zum Erkunden von Gegenständen ermuntern und tun sich schwer damit, die Aufmerksamkeit gemeinsam mit den Bezugspersonen auf eine Sache zu lenken.
  • Sie ahmen Gesichtsausdrücke weniger nach.
  • Sie zeigen weniger Interesse für die Sprache und die menschliche Stimme.
  • Sie spielen weniger abwechslungsreich, konzentrieren sich auf wenige Gegenstände und zeigen kaum Symbol- oder Rollenspiel.

Diese frühen Signale sind einerseits eindeutig, andererseits aber auch recht diskret und werden von den Eltern manchmal nicht bemerkt und auch vom Kinderarzt in der Kürze der jeweils zur Verfügung stehenden Untersuchungszeit nicht festgestellt. So kommt es, dass manches Kind erst dann richtig auffällig wird, wenn es durch den Besuch des Kindergartens oder sogar erst in der Schule in Vergleichssituationen mit anderen gerät. Hier wird dann nicht nur erwartet, dass ein Kind die Meilensteine der Entwicklung in Bezug auf Sprache, Spiel und Motorik erfüllt. Es muss nun auch bestimmte Leistungen im Sozialverhalten zeigen: Es soll sich von der Mutter lösen, sich in die Gruppe einfügen, zuhören, mit anderen spielen und vieles mehr.

Ein Kind mit Asperger-Syndrom wird in solchen Vergleichssituationen schnell auffällig. Dennoch kommt es noch nicht notwendigerweise zur Diagnosestellung, weil es auch beim Sozialverhalten wieder große Unterschiede in der Entwicklung der einzelnen Kinder gibt. Mir scheint, dass aufgrund der inzwischen größeren Bekanntheit autistischer Störungsbilder die Diagnose heute zwar früher, aber insgesamt doch immer noch relativ spät gestellt wird. Eine Untersuchung von Patricia Howlin und Anna Asgharian, an der 770 Familien mit autistischen Kindern teilgenommen haben, kommt zu dem Ergebnis, dass ein frühkindlicher Autismus im Durchschnitt mit fünfeinhalb Jahren und ein Asperger-Syndrom erst mit elf Jahren exakt diagnostiziert wurde.32 Persönlich kenne ich Beispiele, bei denen ein Asperger-Syndrom sogar erst mit vierzehn oder fünfzehn Jahren festgestellt wurde. Bedenkt man die oben dargestellten Frühsymptome, so ist das durchschnittliche Diagnosealter wirklich sehr hoch.

Informierte Eltern und Erzieherinnen sollten sich nicht scheuen, den Verdacht auf ein Asperger-Syndrom früh auszusprechen. Auch wenn es für alle Kinder eine große Bandbreite des Verhaltens gibt und die Grenzen zwischen individuellen Eigenheiten und einer Störung schwer auszumachen sind, ist es niemals verkehrt, besonderen Beobachtungen genauer nachzugehen. Denn es geht ja auch darum, die betroffenen Kinder spezifisch, also bezogen auf ihre Störung, zu fördern und nötigenfalls eine professionelle Therapie zu beginnen. Die Äußerung eines Verdachts kann natürlich die genaue Abklärung nicht ersetzen. Diese erfolgt – nach Schilderung der Beobachtungen – in der Regel durch einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er wird zunächst mithilfe einer Checkliste ein sogenanntes »Screening« (wörtlich »Aussieben«) durchführen und den aufgrund der Beobachtungen geäußerten Verdacht erhärten. Wenn die Hinweise eindeutig sind, werden weitere Untersuchungen nötig sein. Manchmal ist für die genaue Abklärung ein mehrtägiger Aufenthalt in einer Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie erforderlich. Dort...

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