Zu vermuten ist, dass es als optimale Situation gilt, den Lebensabend in seinem gewohnten Lebensumfeld verbringen zu können, idealerweise umsorgt von der Familie. Die wenigsten Menschen können sich in der Blüte ihres Lebens vorstellen, pflegebedürftig zu werden und die Hilfe anderer zu beanspruchen. Den Wunsch, im Alter nicht in einem Pflegeheim leben zu müssen, haben viele.
Er geht einher mit dem gesetzlichen Vorrang, die häusliche Versorgung bei Pflegebedürftigkeit zu unterstützen[1], Heimaufenthalte zu vermeiden.
Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, unter welchen Bedingungen ein Heimaufenthalt bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit vermeidbar ist.
Der sich momentan abzeichnende demografische Wandel in Deutschland hat verschiedenste Auswirkungen. Einerseits führt er auf individueller Ebene zu einer höheren Lebenserwartung und auf der gesellschaftlichen Ebene zu einem Zuwachs alter und sehr alter Menschen in der Gesellschaft. Das hat zur Folge, dass viele Menschen eine lange Phase des Altseins erleben. Diese ist zum Teil einhergehend mit reduzierten Alltagskompetenzen, der Zunahme von gesundheitlichen Problemen und dem erhöhten Risiko von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit. Gerade aber gesundheitliche Voraussetzungen und persönliche Alltagskompetenzen sind maßgeblich entscheidend für eine selbstbestimmte häusliche Lebensführung im Alter.
Um dem häufig auftretenden Wunsch alter Menschen gerecht zu werden, auch bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in der vertrauten Wohnung zu bleiben, gilt es Wege für die Versorgung dieser Personengruppe zu finden.
Aber alte und pflegebedürftige Menschen sind so unterschiedlich und leben so verschiedenartig wie Menschen anderer Altersgruppen auch. Das Alter mit seinen Einschränkungen bietet somit kein einheitliches Bild. Es bestehen große Unterschiede hinsichtlich der Steuerungsmöglichkeiten, der psychischen und der körperlichen Gesundheit, einem möglichen Hilfearrangement, dem entstammenden Milieu und weiterer Faktoren, die den Alltag und das Leben im Alter beeinflussen können. Diese Verschiedenheiten machen es so komplex wie schwierig, gewünschte und effektive Angebote an Alltags- und Versorgungskonzepten für die häusliche Versorgung bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit bereitzustellen.
Es werden die Lebenssituationen alter, pflegebedürftiger Menschen im häuslichen Umfeld untersucht und erarbeitet, welche Ressourcen und Bedingungen gegeben sein sollten, um ungewollte Heimaufenthalte zu vermeiden.
Dabei geht es keinesfalls um das „Infragestellen“ der Notwendigkeit von Pflegeheimen. Es gibt es Versorgungssituationen, die im häuslichen Umfeld nicht zu bewältigen sind.
Nicht alle Menschen haben die Voraussetzungen, sich im häuslichen Umfeld bei Hilfe und Pflegebedürftigkeit versorgen zu lassen. Kleine oder keine Netzwerke, gesundheitliche Grenzen (hierbei sei vor allem eine fortgeschrittene Demenz zu nennen), der Wunsch nach einem Leben im Pflegeheim und andere Gründe sprechen für vollstationäre Pflegeeinrichtungen.
Im Zentrum steht die Betrachtung der wesentlichen Einflussfaktoren, unter denen sich ein Heimeinzug vermeiden lässt. Hierzu werden im ersten Teil der Arbeit Aspekte betrachtet, die vermutlich Einfluss auf den Verbleib im häuslichen Umfeld haben. Dazu gehören die Wohnsituation, die Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, der Leistungsumfang der sozialen Pflegeversicherung, das Hilfenetzwerk, das Selbstbestimmungsrecht alter Menschen und ihre finanzielle Situation.
Der zweite Teil dokumentiert Methodik und Ergebnisse der empirischen Erhebung. Daten aus neun Interviews wurden analysiert und ausgewertet. Im Detail ging es um die Erfahrungen Pflegebedürftiger, die im häuslichen Umfeld leben oder nach der Zunahme unlösbarer Probleme, in ein Pflegeheim gezogen sind. Es wurden dazu Situationen aufgegriffen und näher betrachtet, die ein Leben mit Pflege- und Hilfebedürftigkeit im häuslichen Umfeld ermöglicht oder verhindert haben.
Im dritten Teil der Arbeit werden Themengebiete diskutiert, die sich aus Erkenntnissen des Theorieteils und der empirischen Erhebung ergeben haben und eine Rolle bei der Umsetzung der Ergebnisse des empirischen Anteils der Arbeit spielen können.
Abschließend werden Handlungsempfehlungen gegeben, welcher Rahmen bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit für den Verbleib im häuslichen Umfeld geschaffen sein sollte. Sie basieren auf Ergebnissen des theoretischen Teils der vorliegenden Arbeit und Erkenntnissen der empirischen Erhebung. Punktuell finden sie durch Themenbereiche der Diskussion Ergänzung.
Bei der Themenbearbeitung fanden fast ausschließlich Quellen Berücksichtigung (Literatur, Studien, sonstige Veröffentlichungen), die nicht älter als sieben Jahre waren[2]. Sie garantieren die Aktualität der Daten bzw. der gegebenen Situation in der Gesellschaft und den Stand der Forschung. Hervorzuheben sind hierbei die Ergebnisse der MuG- Studien (Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung). Mit ihnen wurden zum ersten Mal in Deutschland repräsentative Daten zu Hilfe und Pflegebedürftigkeit in Privathaushalten sowie vertiefende Untersuchungen zu den Bedingungen und Konsequenzen von Hilfe und Pflegebedürftigkeit erhoben. Im Rahmen des Folgeprojektes MuG III wurden 2002 durch Infratest Sozialforschung München unter der Leitung von Ulrich Schneekloth vertiefende Zusatzstudien durchgeführt und Daten erhoben.
Zur ersten Recherche war die Publikation: „Altenpflege in Deutschland, Bestandsaufnahme und Perspektiven“ des Informationszentrums Sozialwissenschaften, sehr hilfreich. Da viele Studien zur Thematik im Internet (World Wide Web) veröffentlicht werden, begann die Recherche in diesem Medium. Verwendet wurden Datenbanken wie GeroLit, WISE und DIMDI. Schlagworte waren: Wohnen im Alter, Selbstbestimmung und Autonomie, Informationsstand und Informationsdefizit alter Menschen, Hilfebedarf, soziale Netzwerke formelle und informelle Hilfe und andere.
Eine umfassende Literaturrecherche wurde in den Beständen der Bibliothek an der Alice Salomon - Fachhochschule durchgeführt. Veröffentlichungen verschiedener Bundesministerien sowie Zahlen des Statistischen Bundesamtes stützen die gemachten Aussagen.
Seit sieben Jahren ist der Autor ehrenamtlich für das Bezirksamt Pankow von Berlin tätig. In diesem Rahmen werden von ihm Senioren ab 80 Jahre im häuslichen Umfeld besucht. Sie erhalten Gratulationen zu Geburtstagen oder Ehejubiläen.
Im Laufe der Jahre konnte er einige der Besuchten näher kennen lernen. Persönliche Gespräche und Kontakt zu Familienangehörigen wurden dann die Regel. Den Wunsch, ihren Lebensabend im gewohnten Umfeld zu verbringen, haben fast alle Senioren.
Als examinierter Altenpfleger hat der Autor in seiner beruflichen Tätigkeit in einer vollstationären Pflegeeinrichtung einige pflegebedürftige Menschen kennen gelernt, die ungewollt im Heim leben. Sie kamen häufig nach gravierenden gesundheitlichen Ereignissen, haben sich häufig schnell erholt, und leben dann neben den schwerst-pflegebedürftigen und nicht selten hochgradig dementen Mitbewohnern als „normales Bewohnerklientel“ im Pflegeheim. Sie sind sich häufig ihrer Situation bewusst und wünschen eine Trennung von den (jährlich zunehmenden) pflege- und betreuungsintensiven Bewohnern. Durch gesonderte Wohnbereiche, Wohngruppen, Wohnzimmer oder Sitzplatzkonstellationen am Tisch, wird im Pflegeheimalltag versucht, dieser Situation zu begegnen.
Im Rahmen seines studienbegleitenden Praktikums beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) war der Autor im April 2006 stiller Beobachter bei ca. 60 Begutachtungsverfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit (§18 SGB XI). Ihn überraschte dabei der große Anteil von Antragstellern, die Hilfebedarf hatten, der sich aber nicht überwiegend auf die Pflege bezog. Die Begutachteten gaben häufig Bedarf und Defizite im Rahmen der Mobilität und der hauswirtschaftlichen Versorgung an.
Die Wohnung reinigen, eine Begleitung beim Einkauf, Hilfe bei der Beantwortung von Ämterpost, das Stellen von Anträgen und Probleme bei der ärztlichen Versorgung wurden u. a. thematisiert.
Hohe Zahlen zur Ablehnung einer Pflegestufe bestätigten die gemachten Beobachtungen. Von 674.101 durchgeführten Erstbegutachtungsverfahren 2005 wurden 29,3 % der Anträge abgelehnt.[3] Das bedeutete 197 511 Antragsteller hatten einen Hilfe- oder Pflegebedarf, erfüllten aber nicht die unter § 14 SGB XI [4] definierten Voraussetzungen zum Erhalt von Leistungen nach SGB XI.
Für eine Projektarbeit an der Alice Salomon Hochschule wurden vom Autor vier pflegebedürftige Menschen interviewt. Eine Person lebt nach einem viermonatigen Heimaufenthalt wieder in ihrer Wohnung, die...