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Kants 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten'

Ein systematischer Kommentar (Reclams Universal-Bibliothek)

AutorHeiner F. Klemme
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783159617909
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Kants Text ist einer der unangefochtenen Klassiker der Philosophie überhaupt. Gleichzeitig stellt das Werk eine der besten und aus diesem Grunde auch am häufigsten verwendeten Einführungen in das Gebiet der philosophischen Ethik dar. Der systematische Kommentar von Heiner F. Klemme zeichnet den Argumentationsgang detailliert nach und bietet so Einstiegs- und Verständnishilfen für jeden speziell an diesem Werk und allgemein an ethischen Fragestellungen Interessierten. Bezugstext des Kommentars ist die Textausgabe in der Universal-Bibliothek (Buch: 978-3-15-004507-7, E-Book: ISBN 978-3-15-960023-9).

Heiner F. Klemme, geb. 1962, studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Marburg, Edinburgh und Bonn, Promotion 1995 an der Universität Marburg, Habilitation 2003 an der Universität Magdeburg, Professor für praktische Philosophie an der Universität Wuppertal (2006-2008), Professor für Philosophie der Neuzeit und Leiter der Kant-Forschungsstelle an der Universität Mainz (2008-2014), seit 2014 Professor für Geschichte der Philosophie und Leiter des Immanuel-Kant- Forums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 1. Vorsitzender der 2017 neugegründeten 'Christian-Wolff-Gesellschaft für die Philosophie der Aufklärung'. Gastprofessuren in Brasilien und China. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen der Philosophie der Neuzeit und der praktischen Philosophie.

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Leseprobe

[21]I. Grundlagen und Voraussetzungen


Philosophie und Freiheit


Philosophie ist eine Wissenschaft. Ihr wissenschaftlicher Charakter beruht auf Begriffen, Prinzipien und Zwecken, die ihren Ursprung in einem Vermögen haben, welches Kant »Verstand«, »Vernunft« oder auch »das Vermögen der Spontaneität« nennt. Insofern der Philosoph diese Begriffe und Prinzipien durch den Gebrauch seiner reinen Vernunft erkennt, »studiert er die Gesetzgebung der Vernunft.« (1998, 540; vgl. 520521) Denken ist kein Widerfahrnis, nicht etwas, das mit uns und in uns geschieht. Denken ist vielmehr Ausdruck einer Spontaneität, derer wir uns bewusst sind, sobald wir sie in Anspruch nehmen. Im Denken verknüpfen wir unsere Begriffe miteinander. Denken ist aber nicht identisch mit Erkennen. Wir können uns Gegenstände denken, die wir nicht erkennen können. Wir wissen nicht, ob es sie gibt.

Ein berühmtes Beispiel ist Gott: Wir können uns einen Begriff von ihm machen, seine Existenz aber nicht förmlich erkennen. Ebenso wenig können wir beweisen, dass Gott nicht existiert. Der Begriff »Gott« gehört nicht zu den reinen Verstandesbegriffen, die objektive Realität haben, wenn sie auf sinnlich gegebene Vorstellungen bezogen werden. Diese Idee ist Kants Auffassung nach eine Vernunftidee. Als Vernunftwesen denken wir uns Gott als erste Ursache der Existenz der Welt. Denn der Gedanke, dass die Welt ohne Ursache in ihre Existenz getreten ist, ist unvernünftig. Reine Begriffe können also auch eine Bedeutung haben, obwohl wir uns mittels ihrer auf keinen in Raum und Zeit gegebenen Gegenstand beziehen.

Ein anderes Beispiel ist der Begriff der Freiheit. Kant definiert Freiheit in einer Bedeutung des Wortes als »eine absolute [22]Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen«. Dies ist die »transzendentale Freiheit« (KrV A 446 / B 474). Traditionell wird Gott transzendentale Freiheit zugeschrieben: Er ist die erste Ursache der Welt. Sie bezeichnet aber auch die Eigenschaft einer Ursache, Ereignisse in der Welt zu bewirken, die in ihrem eigenen Wirken unter den Gesetzen der Natur stehen. Worauf es Kant mit dem Begriff der Handlung ankommt, ist der Gedanke, dass sie einem Menschen nur dann zugerechnet (imputiert) werden kann, wenn er sie gewollt hat, wenn es also eine freie Handlung ist.

Beziehen wir die Frage nach der transzendentalen Freiheit auf den Menschen, müssen wir zwischen der Spontaneität unseres Denkens und unseres Willens unterscheiden. Es ergibt nach Kant keinen Sinn, den Begriff der transzendentalen Freiheit auf unser Denken zu beziehen, wohl aber auf unseren Willen. Denn es ist unser Wille, durch den wir handelnd in die Geschehnisse der Welt eingreifen. Ist unser Wille frei? Sind wir befähigt, Handlungen in der Welt zu bewirken, ohne in unserem Wollen unter den allgemeinen Gesetzen der Natur zu stehen? Verfügen wir über eine Form der Spontaneität des Handelns, so wie es in dieser Welt vielleicht kein anderes Lebewesen aufzuweisen vermag? Die Freiheit ist eine transzendentale Idee, also ein Begriff, dessen objektive Realität nicht durch Verweis auf einen sinnlichen Anschauungsgehalt aufgewiesen werden kann. Aber immerhin handelt es sich um eine Idee unserer reinen Vernunft. Wir können diese Idee widerspruchsfrei denken. Und wir können (davon ist Kant in der Kritik der reinen Vernunft überzeugt) beweisen, dass es keinem Kritiker des Begriffs der Freiheit (den Kant einen »Fatalisten« nennt) gelingen wird, seine reale Unmöglichkeit zu beweisen. Die theoretische Philosophie erklärt die transzendentale Freiheit zu einem möglichen Begriff.

[23]Neben dem Begriff der transzendentalen Freiheit verwendet Kant den Begriff der praktischen Freiheit. In welchem Verhältnis diese beiden Begriffe der Freiheit zueinander stehen, ist nicht mit letzter Eindeutigkeit zu entscheiden. Das liegt zum einen an unklaren Positionsbestimmungen Kants, zum anderen aber daran, dass er im Verlaufe der Jahre seine Auffassungen geändert haben mag, ohne dies immer hinreichend deutlich gemacht zu haben. Prinzipiell scheint es aber keine praktische Freiheit ohne transzendentale Freiheit zu geben. Würden wir einen Begriff von praktischer Freiheit ohne das Vermögen eines Subjekts, selbst Ursache der Handlungen zu sein, annehmen, wäre Freiheit nichts anderes als ein Modus empirischer Kausalität. Freiheit wäre Natur. In der Kritik der praktischen Vernunft wird Kant dies die »Freiheit eines Bratenwenders« (5:97) nennen. Das ist ironisch, ist spöttisch gemeint. So wie ein über offenem Feuer installierter Drehmechanismus den Braten gleichmäßig wendet, würde der Mensch über (wie wir sie nennen können) Handlungsfreiheit verfügen, wenn er das tun könnte, was er entsprechend seiner unter den Gesetzen der Natur stehenden Begierden tun möchte. In diesem Falle wäre der Mensch aber eine Sache, ein Automat, dem seine Handlungen nicht zugerechnet werden können. Ihm fehlte ein wesentliches Element praktischer Freiheit: Die im Begriff des freien Willens gedachte »absolute Spontaneität der Handlung« (KrV A 448 / B 476).

Es bestehen zwei wichtige Differenzen zwischen einer (wie wir sie nennen können) bloß transzendentalen und der praktischen Freiheit:

Erstens bedeutet die praktische Freiheit eine Weise der Verursachung, die unter einem spezifischen Gesetz der Kausalität steht. Dieses vom Gesetz der Natur spezifisch unterschiedene Gesetz nennt Kant das »Gesetz der Freiheit«, das [24]»moralische Gesetz« oder auch das »praktische Gesetz«. Ein Moralgesetz ist das Gesetz eines freien Willens, der als freier Wille in der Welt wirkt. Bestimmt der Wille sich selbst durch das Gesetz dieser Freiheit zum Handeln, stehen seine Handlungen unter einer doppelten Gesetzlichkeit: Auf der einen Seite können die Handlungen aus der Perspektive der Naturgesetzlichkeit wie gewöhnliche Ereignisse in Raum und Zeit beschrieben werden. Auf der anderen Seite sind diese Handlungen durch Begriffe zu charakterisieren, die sich jeglicher naturalistischen Reduktion entziehen. Wenn der Mensch nach Begriffen zu handeln vermag, deren Ursprung er selbst als ein Vernunftwesen ist, dann ist er auch frei zu wählen, ob er nach der einen oder der anderen Kausalität wirksam werden möchte.

Vorausgesetzt, dass transzendentale Freiheit eine zwar mögliche, ihrer objektiven Realität nach aber problematische Idee der reinen Vernunft ist: Was können wir dann zum Realitätsgehalt der praktischen Freiheit sagen? Diese Frage beantwortet sich durch die zweite Differenz, die zwischen diesen beiden Freiheitsbegriffen besteht. Die praktische Realität unserer transzendentalen Freiheit muss durch Überlegungen gerechtfertigt, bewiesen oder plausibilisiert werden, die genuin praktisch sind. Sie betreffen unseren Willen, nicht unseren Verstand. Wie kann dies gelingen? Sicherlich nicht dadurch, dass die praktische Philosophie eine Form von Freiheit förmlich zu beweisen versucht, die aus der Perspektive der theoretischen Vernunft eine bloße Idee ist. Es muss jedoch der praktischen Philosophie gelingen, der Idee der Freiheit eine praktische Bedeutung zu geben. Prinzipiell sind drei Strategien denkbar:

Erstens könnten wir unsere praktische Freiheit durch Erfahrung zu beweisen versuchen. Diese Strategie scheint Kant in [25]der Kritik der reinen Vernunft zu verfolgen. In ihr argumentiert er, dass wir unsere unmittelbar auf uns wirkenden sinnlichen Begierden durch »Überlegungen« (KrV A 802 / B 830) überwinden können, die die Vernunft über unser langfristiges Gut anzustellen in der Lage ist. Dieses Argument lebt von der Unterscheidung zwischen sinnlichen Begierden auf der einen und unserer Vernunft auf der anderen Seite. Beide können unsere »freie Willkür« (ebd.) bestimmen. Wir erkennen unsere praktische Freiheit (die »Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens«) insofern »durch Erfahrung«, als wir sie »als eine von den Naturursachen« (KrV A 803 / B 831) erkennen. Wie diese Vernunft jedoch der Grund von »objektiven Gesetzen der Freiheit« des Willens sein kann, die »sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht« (ebd.), bleibt unklar.

Zweitens könnten wir auf das unmittelbare Bewusstsein des Gesetzes der Freiheit verweisen. Wenn wir ein Bewusstsein dieses Gesetzes haben (das Kant auch das »moralische Gesetz« nennt), dann verfügen wir über praktische Freiheit. Wir müssen das tun können, was wir tun sollen. Diese Strategie schlägt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft mit seiner Lehre vom »Faktum der Vernunft« ein.

Drittens böte sich an, auf das unmittelbare Bewusstsein einer praktischen Spontaneität zu verweisen, welches sich im Wollen selbst zeigt. Wären wir uns unmittelbar der Freiheit unseres Willens in den Akten unseres Wollens bewusst, hätten wir die Freiheit in praktischer Hinsicht [26]bewiesen. Diese Strategie scheint Kant in der Grundlegung zu verfolgen. Wir werden uns später mit ihr ausführlich beschäftigen.

Allen drei Strategien gemeinsam ist der Rückbezug auf Begriffe, deren Bedeutung a priori gegeben ist: Sie sind erfahrungsunabhängig, nicht empirisch (also a posteriori) gegeben. Würden sie auf Erfahrung beruhen, würde die Philosophie der Freiheit ein Teil der Philosophie der...

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