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E-Book

Kulturelle Vielfalt in der Schule

Islam als Herausforderung

AutorIngrid Wiedenroth-Gabler
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl193 Seiten
ISBN9783170356795
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Lehrerinnen und Lehrer sind durch das Thema Islam oft verunsichert. Antworten auf die Frage, inwieweit kulturelle und religiöse Heterogenität im Schulalltag gelebt werden kann, erfordern neben fundiertem Fachwissen Reflexionsvermögen und Handlungskompetenz. Das Buch bietet Lehrkräften Basiswissen und Anregungen zum Umgang mit religiös bedingten Konflikten sowie Problemlösungsstrategien. Nach der Klärung der Konzepte von Interkulturalität und Transkulturalität zeigt das Buch die Herausforderung von Schulen und Lehrern. Wie kann religiösen Konflikten begegnet werden? Welchen Stellenwert sollte die Religionsausübung in der Schule einnehmen dürfen? Das Buch präsentiert konkrete Unterrichtsideen, die zu einer religions- und kultursensiblen Schule beitragen.

Dr. Ingrid Wiedenroth-Gabler ist Wissenschaftliche Direktorin am Seminar für Ev. Theologie und Religionspädagogik der TU Braunschweig. Sie hat von 2006 bis 2014 an der Entwicklung von Kerncurricula mitgearbeitet und war vom Kultusministerium mit der begleitenden Qualifikation der Lehrkräfte für Islamischen Religionsunterricht beauftragt.

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2


Dokumentationen ›Herausforderung Islam‹


 

2.1       Reflexionen zu Religion im Allgemeinen und islamischer Religion im Besonderen


Impressionen: Mit welcher Perspektive sehe ich den Islam?


Als in wissenschaftlicher Theorie und Praxis tätige Religionspädagogin hat die Brille, mit der ich Religion betrachte, drei verschiedene Färbungen. Da gibt es zunächst die protestantisch getönte Glaubensbrille, von frühester Kindheit eingeübt in die christliche Deutung der Welt: der schützende Gott, Jesus als Gottessohn und Vorbild, Kirche als mitunter fremder, aber zumeist vertrauter Ort der religiösen Selbstvergewisserung. Durch Studium und Forschung hat sich eine neutrale ›wissenschaftliche‹ Brille dazu gesellt; oft religionskritisch, der Blick auf Religion und Glauben als System von Orientierung und Weltanschauung. In den letzten zwölf Jahren ist nun eine neue Brille dazugekommen: Es handelt sich um die ›islamische‹ Glaubensbrille, nur probehalber aufgesetzt in der Zeit, während der ich in einem Mehrheitskollektiv von muslimischen Frauen und Männern nicht nur gezwungen war, meine protestantische und auch die neutrale, wissenschaftliche Brille zu hinterfragen, sondern sie auszutauschen und mich zeitweise in eine muslimische Sicht auf Gott (Allah) und die Welt einzulassen. Welche neuen Erkenntnisse hat mir das vermittelt? Während ich durch das Theologiestudium gelernt habe, Wahrheitsansprüche zu relativieren und als menschliche Konstruktionen einzuschätzen (unabhängig davon, ob es eine übergeordnete Wahrheit gibt), war ich in der Zusammenarbeit mit Muslimen mit massiven Wahrheitsansprüchen konfrontiert. Dies betraf nicht nur die Vorstellung, der einzig wahren Religion anzugehören, sondern auch den Umgang mit den Offenbarungsquellen. Ich habe als wissenschaftliche Theologin gelernt, zwischen einem theologischen Bekenntnissatz und einer wissenschaftlichen Aussage zu unterscheiden: Ich kann im Gottesdienst bekennen, dass Jesus Christus für mich gestorben und auferstanden ist, kann aber wissenschaftlich nur die Aussage treffen, dass sich nicht die Auferstehung selbst, sondern nur der Glaube an die Auferstehung durch die Jüngerinnen und Jünger historisch ›beweisen‹ lässt.

Das war und ist in der Begegnung mit Muslimen häufig anders: Hier werden die Aussagen der Tradition oft wie historische Wahrheitssätze verstanden. Kaum ein christlicher aufgeklärter wissenschaftlicher Theologe wird die biblischen Erzählungen von der Schöpfung oder dem Garten Eden mit Adam und Eva als erste Menschen für historische Tatsachenberichte halten. Dem gegenüber wurde mir in Gesprächen mit Muslimen die Autorität des Korans und dessen historische Glaubwürdigkeit zum Teil mit der Selbstreferenz von Koranversen bestätigt. Und: Während meine ›kulturelle Landkarte‹ zwar im Hinblick auf ›Sinngebung‹ religiös-christlich geprägt ist, spielt dies wohl bei meiner persönlichen Lebensführung und Gestaltung der Sozialbeziehungen eine Rolle, beeinträchtigt aber nicht mein Verhältnis zur Wissenschaft; diese darf mit gutem Grund ›gottlos‹ sein. Über Glaubensvorstellungen spreche ich in religiös-christlichen Kollektiven, in vielen Kontexten gilt aber: Religion ist Privatsache, mein Eindruck war, dass zumindest bei praktizierenden Muslimen die islamische Sicht eine entscheidende Rolle spielte. Das betraf nicht nur die persönliche Einstellung im Sinne der Glaubensüberzeugung, sondern oft das gesamte Tun, das immer wieder mit islamischen Regeln, Geboten oder Traditionen begründet wurde. Dazu kam trotz menschlicher Sympathien eine teilweise unreflektierte Abgrenzung zu den Nicht-Muslimen, die häufig in der Dichotomie von ›gläubig vs ungläubig‹ zum Ausdruck gebracht wurde, teilweise mit fast entschuldigendem Lächeln, aber oft auch mit Hinweis auf die unhinterfragbare Autorität der islamischen Quellen. Wenn ich protestierte, weil ich nicht als ›ungläubig‹ bezeichnet werden wollte, wurde mir zumindest zugutegehalten, dass ich Angehörige der Buchreligionen sei. Die wahren ›Ungläubigen‹ seien Atheisten oder Polytheisten. Wer weiß, welchen Status diese im Koran genießen, ahnt, dass dies die Sache nicht besser macht.

Deshalb die ›Gretchenfrage‹ an Sie: Wie halten Sie es mit der Religion? Halten Sie Religion auch für eine Privatsache? Vielleicht denken Sie, dass Religion deshalb auch in der Schule keine Rolle spielen sollte. Aber vielleicht erleben Sie auch zunehmend Irritationen in dieser Weltsicht, wenn Schüler plötzlich einen Gebetsraum einfordern. Wenn Mädchen von einem Tag auf den anderen ihre Kleidung von ›lässig modern‹ in ›traditionell muslimisch bedeckt‹ umtauschen. Wenn Sie während des Fastenmonats Ramadan bereits in der Grundschule fastende, durstige, übernächtigte Kinder vor sich sitzen haben, die sich auch bei freundlicher Ermahnung weigern, vor dem Sportunterricht zu trinken.

Ob man will oder nicht, selbst, wenn man insistiert, dass Religion Privatsache sein solle: Religion beeinflusst die Gesellschaft und Schule, diese ist als Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Prozesse besonders davon tangiert. Dies betrifft besonders islamisch geprägte Religionsausübung.

Es gilt also in diesem Kapitel zu beantworten: Was ist eigentlich Religion? Wie lassen sich Religionen beschreiben, welche Funktionen haben sie in der Gesellschaft?

Die knappe Darstellung der islamischen Glaubensgrundlagen nimmt den größten Teil des Kapitels ein. Dazu vorab ein Statement: Ich bin mir darüber im Klaren, dass es den Islam nicht gibt, dass Musliminnen und Muslime genauso individuell und heterogen sind wie andere religiös oder nicht religiös geprägte Menschen; dennoch braucht es erstmal einen allgemeinen Überblick, bevor man sich den Feinheiten zuwenden kann.

2.1.1     Informationen zu Religion und Islam


R1: Religion als schillernder, heraufordernder Begriff

Zum Religionsbegriff

Etymologisch: Der Begriff ›Religion‹ leitet sich ab von ›religio/relegere‹: sich oft hinwenden, gewissenhaft beachten sowie von ›religare‹: sich rückbinden. Damit wird einerseits die sichtbare Facette von Religion im Sinne von Ritualen und kultischen Handlungen, andererseits die innere Dimension der Religiosität angezeigt.
Substantielle Beschreibungen (in Anlehnung an eine Veröffentlichung des Bistum Limburg)
»Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. […] Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.« (Karl Marx) Religion ist erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen. (Gustav Mensching)
Das Wesen der Religion besteht im ›Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit‹. ›Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.‹ (Friedrich Schleiermacher)
»Religion ist der Versuch, nichts in der Welt als fremd, menschenfeindlich, schicksalhaft, sinnlos anzunehmen, sondern alles, was begegnet, zu verwandeln, es einzubeziehen in die eigene menschliche Welt. Alles soll so gedeutet werden, dass es »für uns« wird. Alles Starre soll biegsam, alle Zufälle notwendig, alles sinnlos Scheinende als wahr und gut geglaubt und gedacht werden. Religion ist der Versuch, keinen Nihilismus zu dulden und eine unendliche (endlich nicht widerlegbare) Bejahung des Lebens zu leben.«(Dorothee Sölle)

R2: Definitionsversuche zwischen Wesen und Funktion von Religion

Kulturalistische Definition

Eine Religion ist

1.  »ein Symbolsystem, das darauf zielt

2.  starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen,

3.  indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und

4.  diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß

5.  die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen« (Geertz, 1987, S. 48).

Abgrenzung: Substantialistisch/funktionalistisch

Substantialistischer (oder essentialistischer) Religionsbegriff: essentielle Merkmale oder Inhalte wie ›Erfahrung‹, ›Glaube an Kräfte, das Heilige oder Götter‹, das allen Religionen Gemeinsame wird in einem stark verallgemeinerten, formalen Sinn wiederzugeben, um das ›Wesen‹ (d. h. die Substanz oder Essenz) der Religion an sich...

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