Kapitel 2 legt die Grundlagen für eine durch und durch strukturierte Herangehensweise an das Thema Recruiting in den nachfolgenden Kapiteln. Bevor wir also mit dem Recruiting-Prozess selbst beginnen können, ist ein gemeinsames Verständnis der Grundlagen entscheidend. Welche Themen verstehen wir wie und welche Schlüsse ziehen wir daraus? Wenn wir, Sie lieber Leser und wir, uns nicht auf einer Ebene befinden, wird Ihnen das Buch im besten Fall unverständlich vorkommen. Einige der Vereinbarungen, die wir in Kapitel 2 als Grundlage für unser Recruiting-Verständnis treffen, können Sie gegebenenfalls für sich und Ihr Unternehmen auch anders entschieden haben. Um uns und unsere Gedankengänge dennoch verstehen zu können, sollten Sie sich unsere Vereinbarungen bzw. Definitionen zumindest zu Gemüte geführt haben.
Fassen wir alles zusammen und betrachten unsere Motivation, die dazu geführt hat, dieses Buch zu schreiben, dann kann man in wenigen Worten festhalten, dass es uns um die Professionalisierung der Rekrutierung geht – einen längst überfälligen Akt. Professionelles Recruiting und dazugehörige professionelle Recruiting-Strategien gehen bis auf Caesar zurück, der damals bereits seinen Soldaten angeblich 30 Prozent ihres Jahressolds versprach für die Vermittlung eines neuen Soldaten – ein klassisches „Mitarbeiter werben Mitarbeiter“-Programm, welches auch heute noch eine der effektivsten Methoden zur Mitarbeitergewinnung darstellt. Erstaunlich, dass scheinbar bereits Caesar erkannt hatte, dass die Quelle für gute neue Mitarbeiter die eigenen Mitarbeiter sind. Diese Legende deutet zumindest auf eine strategische Überlegung hin, wenngleich wir dies auch nicht belegen können.
Recruiting als etwas zu begreifen, was einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf, scheint also vor vielen Jahren bereits erkannt worden zu sein. Diese Erkenntnis hat man aber, böse gesagt, gerade in den vergangenen Jahren wohl wieder vergessen. Recruiting wurde zu einem Themengebiet degradiert, welches nebenbei vom „Personaler“ erledigt wurde, wenn gerade einmal Zeit dazu war. Mittlerweile befinden wir uns an einem Punkt, an dem in Recruiting-Abteilungen weitere spezialisierte Recruiting-Stellen geschaffen werden. Die Ausgründung von Berufsgruppen und damit die Zuweisung zu einer speziellen Tätigkeit, die man dann kontinuierlich perfektionieren konnte, begleitet die Menschheit seit jeher: sei es der Jäger oder der Kämpfer oder aber der Schmied und der Müller. Springen wir auf dem Zeitstrahl ein wenig weiter in Richtung Zukunft, stellen wir fest, dass das Thema der Spezialisierung immer weiter verfeinert wurde. Berufsgruppen wurden weiter aufgeteilt, denkt man beispielsweise an Ärzte. Mit fortschreitender Entwicklung gewannen Tätigkeiten an Komplexität. Neue Subbereiche wurden entdeckt und Disziplinen erweiterten sich. Heute stehen wir vor einem ganzen Blumenstrauß an Spezialisierungen in vielen Berufsgruppen, weitere werden kommen. Kaum eine Zunft verschloss sich den Themen Spezialisierung und Weiterentwicklung. Kaum eine? Ja, denn eine Berufsgruppe wehrte den Fortschritt erfolgreich bis heute ab: die Personaler. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, wie die Literatur zeigt (Becker 2010; Berthel/Becker 2013; Jetter 2008). Leider verstehen sich die meisten dennoch als Generalisten: „Wir können alles“ – aber eben nichts richtig. Verstehen Sie diese Gedanken bitte nicht als Angriff, sondern als Chance, Personalarbeit neu zu schreiben. Zumindest die Disziplin Recruiting wollen wir nun gemeinsam verändern.
Wir haben uns in der zweiten Auflage dieses Praxishandbuches noch einmal das gesamte Kapitel inhaltlich vorgenommen und haben einige überraschende, einige erwartete und einige unerwartete Dinge vorgefunden. So fiel uns überraschenderweise auf, dass vieles, was wir in den Jahren 2013 und 2014 über den Arbeitsmarkt geschrieben hatten, auch heute fast noch genauso anzutreffen ist, nehmen wir einzelne Verschiebungen von Zahlenkohorten einmal aus. Die zugrunde liegende Verknappung von Fachkräften geht weiter voran und hat sich, entgegen der Prognosen von 2014 eher im Bereich der Informationstechnologie (IT) verstärkt. Dieser Bereich mit seinem übergeordneten Leitthema, der Digitalisierung, bringt erwartungsgemäß viele Neuerungen in das Recruiting. Um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen, liefern wir in diesem Kapitel eine aus unserer Sicht passende Einordnung der Digitalisierung in das Recruiting. Zudem klären wir die gängigen Begrifflichkeiten, die sich um die neue Themenwelt ranken und verbinden sie mit den bestehenden Recruiting-Ansätzen, die nach wie vor gut sind und im Einsatz sein sollten. Beginnen wollen wir aber mit einem Blick auf den stetig vorhandenen Mangel an Fachkräften und einigen notwendigen und grundlegenden Definitionen diesbezüglich.