Der Leibhaftige und ein Auftrag von Oben
Was nun folgte, waren die Jahre des Wiederaufbaus. Wie jedes zusammengebrochene System brauchte ich Hinwendung und Bestätigung. Nun, eigentlich Liebe, aber was soll ich sagen, man bekommt nicht immer, was man sich wünscht oder braucht. Vor allem dann nicht, wenn niemand da ist, der es hat, um es zu verteilen. Es ist meinen Großeltern hoch anzurechnen, was sie leisteten, schließlich waren ihre eigenen Traumata nie verheilt. Diese brachen erst im hohen Alter brachial über sie herein, denn irgendwann lässt die Kraft zur Verdrängung einfach nach. Nun bemühten sie sich neben der Pflege von Uroma Bertl auch noch um ihren schwer traumatisierten Enkel. Während Opa arbeiten war, sollte ich irgendwann am frühen Nachmittag von der Schule zurück sein. Doch statt nach Hause zog es mich in die Natur der Umgebung in Dölitz bei Leipzig. Direkt vor unserem Haus dehnte sich ein riesiger Gartenverein aus, dahinter kamen Wiesen und der Silbersee, und auf der anderen Seite stand eine alte Siedlung, »Zur Krähenhütte« genannt, die einen wunderbaren alten Baumbestand hatte, daran grenzten wieder Gärten.
Wie oft hörte ich es von Ferne jodeln, manchmal begleitet von einer tieferen, rauen Stimme, die meinen Namen schrie, denn Tante Emmy war als Verstärkung häufig mit von der Partie. Statt des erwarteten Donnerwetters war meine Oma jedoch immer einfach nur froh, wenn sie mich gefunden hatte. Das hilft einem Kind zwar auch nicht gerade bei der Orientierung, half mir persönlich aber ein Stück weit, meine Seele zu heilen.
Es gehörte nun zum festen Ritual, dass wir zweimal in der Woche, ich glaube Dienstag und Freitag, durch die Gartenanlage pilgerten, links vorbei am Monte Scherbelino, einem der größten, mittlerweile nicht mehr genutzten, jetzt begrünten Müllberge in Leipzig. Ursprünglich wurde hier der unbrauchbare Schutt aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs aufgeschichtet, später diente er als offizieller Müllablageplatz. Dann kam man in ein Gebiet mit kleinen Häusern, die alle aus rotem Backstein gebaut waren und sich um einen mächtigen Wasserturm gruppierten. Hier praktizierte eine Kinderpsychologin. Es gab nur Gruppensitzungen, wir spielten, malten und bastelten. Frau Doktor nutzte ihre Beobachtungen analytisch, um mehr über die Kinder zu erfahren, und auch als therapeutische Interventionsmöglichkeit. Für mich waren diese Sitzungen echte Höhepunkte, und ich konnte es kaum erwarten, bis wir wieder zum Wasserturm wanderten. Mir taten die Stunden gut, und ich gewann dadurch an Stabilität und etwas mehr Zutrauen zu den Menschen.
An die Schule in dieser Zeit kann ich mich kaum erinnern. Viel zu sehr war mein Bewusstsein mit der Verarbeitung anderer Dinge beschäftigt, als dass ich mich wirklich auf den Unterrichtsstoff konzentrieren konnte. Die Schule gab mir aber eine in der Folge wichtige Fertigkeit, denn ich begann zu lesen – viel zu lesen. Und ich saugte das Wissen meiner Oma und Uroma auf: die gesamte Welt der böhmischen Sagen und Legenden, das Wissen um Kräuter, Pilze und Bäume, dazu ihre seherische Begabung, die Anwendung der Edelsteine und so manch volkstümliches Ritual.
Auch blieb Mutter Natur meine Lehrmeisterin. Wir fuhren oft zu Tante Lindl, der Schwester meiner Oma, und ihrem Mann Onkel Walther in den Harz nach Wernigerode, in die Dahlener Heide, der Geburtsstätte Opa Kurts, oder in die alte Heimat nach Aussig a.d. Elbe, Ustí nad Labem, wo Bekannte eine Datsche direkt gegenüber der Burg Schreckenstein hatten.
Die Macht der Bewusstseinswandlung
Ich öffnete mich stark der Welt der Musik, besonders klassischer, und fand darin Kraft. Zurückblickend kann ich sagen, dass für meine Heilung und spirituelle Entwicklung Bücher, Musik und Natur die stabilsten Inspirations- und Kraftquellen waren und sind. Daneben entdeckte ich noch eine andere Fähigkeit, die mir half, die Angst vor geschlossenen Räumen zu überwinden. In der böhmischen Linie meiner Familie hatte jeder eine bestimmte mystische Fähigkeit. Bei Uroma Bertl waren es seherische Fähigkeiten, meine Oma hatte Zugang zu Steinen und Kristallen, meine Mutter hatte heilerische Begabung, und meine Fähigkeit ist die Bewusstseinswandlung. Diese Fähigkeit machte sich bei mir zuerst bemerkbar durch sogenannte Astralreisen. Da ich unter immer wiederkehrenden Albträumen litt, lernte ich früh, willentlich aus dem Schlaf zu erwachen. Eine weitere Technik, die ich zur Flucht nutzte, war das Wegdrehen. Dabei vollführte ich im Traum eine ruckhafte Drehung des ganzen Körpers, die mich förmlich in eine andere Traumebene schleuderte. Erst viel später lernte ich, dass dies eine Form luziden Träumens ist. Stück für Stück, Traum für Traum, Nacht für Nacht lernte ich nun, meine Träume zu beeinflussen. Bis ich allerlei Künste beherrschte: Ebenen wechseln, Dinge bewegen, fliegen, die Zeit anhalten und vieles mehr. So konnte ich mich dem bedrohlichen Monster eines Tages stellen und es verjagen. Es stellte sich heraus, dass dieses Monster ein Hüter der Schwelle war. Der Hüter ist neben dem Schutzengel und dem dunklen Begleiter die dritte wesentliche Instanz des spirituellen Abenteuers. Er begegnet dir in jeder Schwellensituation. Die Hüter sind die bewachenden Sphingen der Tore zu den höheren Reichen. Sie sind mächtige Engel und treten als deine größte Angst in Erscheinung. Sie zwingen dich zu konditioniertem Verhalten und erscheinen, wenn du ausbrichst und statt der Sicherheit des gewohnten Programms unsicheres Terrain wählst. Sie versuchen, dich mit allen Mitteln davon abzubringen, den auf spirituelle Entwicklung gerichteten Ausgang zu wählen. Diesen Schritt schaffst du nur, wenn er dir wichtiger ist als das eigene Überleben. Während der Engel dir auf dem Weg hilft, wird der Dämon nichts unversucht lassen, dich auf den falschen Pfad zu locken, und der Hüter stellt ein prüfendes Hindernis auf dem richtigen Weg dar. Er fordert den Beweis: Bist du wirklich bereit?
Nachdem nun also das Monster besiegt war, stand ein Tor offen, welches vorher verschlossen war. Ich erwachte, schwebte über mir und sah auf mich herab. Ich erschrak und stürzte förmlich wieder in meinen Körper hinein, bevor ich die Augen öffnete. Das Ereignis dauerte nur wenige Sekunden.
Dadurch aber war meine Neugier geweckt, denn wenn ich meinen Körper verlassen könnte, würde mich kein Raum mehr gefangen nehmen. Gefühlt kam ich so in einer neuen Freiheit an, die mich emotional weiter stabilisierte. Mir war klar: Wenn ich diese Fähigkeit in Notfall nutzen wollte, musste ich lernen, sie zu beherrschen.
Die ersten Versuche führten zu der Erkenntnis, dass es mir am leichtesten gelang, wenn ich den Moment abpasste, in dem ein Traum an Kraft verlor und ich mir dann ins Bewusstsein rief, dass alles eben nur ein Traum sei. So erwacht der Geist lange vor dem Körper. In einem solchen Zustand begann ich, vorsichtig und unter langsamer, andauernder Kraftanstrengung, eine Hand und schließlich den ganzen Arm zu heben, wobei mein Körperarm entspannt liegen blieb. Wendet man sich dann dem zweiten Arm zu, fällt es dort wesentlich leichter, auch diesen anzuheben und zu befreien. Anschließend lockerte ich beide Schultern und legte den Fokus auf den Bauch, denn von hier geht der wesentliche Impuls aus, der sich nach oben fortpflanzt, so, als ob man sich im Bett aufrecht hinsetzen möchte. Sind Bauch und Herz frei, befreit sich auch der Kopf, und der Astralkörper löst sich vom Materiellen. Allerdings ist er immer noch durch die sogenannte Silberschnur mit dem Körper verbunden. Diese hat ihren Namen daher, dass der Astralkörper aus silbern-blau-weiß schimmerndem Licht besteht, das wie Sternenlicht aussieht. Der Astralkörper ist aber nicht mit der Seele zu verwechseln, und egal was du während einer Astralwanderung erlebst, es ist nicht mit dem vergleichbar, was nach dem Tode kommt. Der Astralkörper wird gebildet aus reinem Bewusstsein in Verbindung mit Lebensenergie. Daher ist es auch wichtig, dass die Silberschnur nicht zerreißt. Denn dann verlässt automatisch der lebendige Wille den Astralleib, der dann Schwierigkeiten hat, in den Körper zurückzufinden. Aber keine Angst, selbst bei weitesten Entfernungen reißt die Silberschnur nicht ab. Die größte Gefahr besteht nur, wenn der Körper künstlich bewegt oder geweckt wird. Auch sollte diese Technik gemieden werden, wenn du mit anderen im Streit liegst, da missgünstige Emotionen ebenfalls die Verbindung abreißen lassen können.
Bereits beim dritten oder vierten Mal kam es zu einer Situation, die mir heute noch im Gedächtnis haften geblieben ist. Die bisherigen Austritte erfolgten immer nachts oder in der Morgendämmerung. Nun war es aber so, dass ich nachmittags ein kleines Schläfchen im Kinderzimmer hielt, während der Rest der Familie im Wohnzimmer einen Film ansah. Der Austritt kam etwas unfreiwillig. Zuerst dachte ich, ich würde träumen, als aber nichts weiter geschah, merkte ich, dass ich nicht unmittelbar vor einer weißen Wand stand, sondern mit dem Blickfeld nach oben an der Decke schwebte. Da ich noch nicht wusste, wie man sich in diesem Zustand am besten bewegt, versuchte ich, mich mit den Fingern an der Decke festzuhalten und mich abzustoßen. Nun ja, mit etwas Geschick klappt das, man sollte auf jeden Fall sehr gefühlvoll zu Werke gehen, denn festen Halt findet man nicht. Wände stellen zwar ein Hindernis dar, aber man kann sie mit etwas Anstrengung durchdringen. Dennoch empfiehlt es sich, besser offene Fenster und Türen zu nutzen. Ich kämpfte mich nun durch die Wände bis in die Stube, wo gerade der Film »Der grüne Bogenschütze« nach Edgar Wallace im Fernsehen anfing. In meinem Alter hatte ich so einen spannenden Film noch nicht gesehen. Als es mir zu unheimlich wurde, beschloss etwas in mir,...
