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Schiffbruch

Das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik

AutorJulian Lehmann, Stefan Keßler, Wolfgang Grenz
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783426428863
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Spätestens seit den Unglücken vor Lampedusa im Herbst 2013, bei denen über sechshundert Flüchtlinge starben, ist klar: Die europäische Flüchtlingspolitik versagt. Dabei haben sich die Regierungen der Europäischen Union eigentlich darauf geeinigt, ein gemeinsames Asylsystem zu schaffen. Doch während die europäischen Binnengrenzen fallen, werden die Außengrenzen undurchlässig. Wer es trotzdem bis nach Europa schafft, den erwarten oft ein mangelhaftes Asylverfahren und unzumutbare Lebensbedingungen - auch in Deutschland. Die Asylexperten Wolfgang Grenz, Julian Lehmann und Stefan Keßler machen deutlich: Europa betreibt eine fehlgeleitete Flüchtlingspolitik, die das Leben und die Rechte der Flüchtlinge aufs Spiel setzt.

Wolfgang Grenz war von 1979 bis 2013 hauptamtlich für Amnesty International tätig, zuletzt als Generalsekretär von Amnesty International Deutschland. Er ist Gründungsmitglied von Pro Asyl und Vorstandsmitglied der UNO-Flüchtlingshilfe.

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Leseprobe

Kapitel 2

Europa auf der Flucht –
Die Entstehung des Flüchtlingsrechts


Asyl: Erstritten, versprochen und gebrochen


Wer war Varian Fry?


In der »neuen Mitte« Berlins, unweit des Potsdamer Platzes mit seinen Glas- und Stahlpalästen, trägt eine Straße den Namen von Varian Fry. Kaum einer der Vorbeigehenden wird wissen, wer dieser Mann war. Und doch wäre es gerade heute, wo an Europas Grenzen wieder unzählige Menschen ihr Leben verlieren, wichtig, sich seiner zu erinnern.

Varian Fry, geboren 1907, war ein US-amerikanischer Journalist und Redakteur, der sich von 1940 an für das »Emergency Rescue Committee« engagierte. Das Komitee war nach der Besetzung Frankreichs von amerikanischen Aktivisten ins Leben gerufen worden, um Menschen, die nach der Machtergreifung der Nazis nach Frankreich geflohenen waren, eine Ausreise in die USA zu ermöglichen. Das Netzwerk versorgte mehr als tausend von der Gestapo verfolgte deutsche Emigranten und Regimegegner mit Geld, Pässen und Visa. Zu den so Geretteten gehörten bekannte Kulturschaffende und Intellektuelle wie die Schriftsteller Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Heinrich und Golo Mann, der Maler Max Ernst und die Philosophin Hannah Arendt. Im August 1940 reiste Varian Fry nach Marseille, um dort eine großangelegte Hilfsaktion zu leiten. Bis zu seiner endgültigen Abschiebung ein Jahr später rettete er zahllosen Menschen das Leben. In seinen Erinnerungen, die auf Deutsch unter dem Titel »Auslieferung auf Verlangen« [16] erschienen sind und sich wie ein Krimi lesen, beschreibt Fry die zahllosen Tricks, mit denen die Behörden damals erfolgreich getäuscht wurden: Er und seine Helfer kauften für die Flüchtlinge Visa, fälschten oder veränderten Reisepässe – alles, um bedrohte Menschen vor der Verfolgung zu retten.

Eine seiner Helferinnen war die Österreicherin Lisa Fittko: Gemeinsam mit ihrem Mann Hans führte sie von 1940 bis 1941 zahlreiche Flüchtlinge vom südfranzösischen Banyuls-sur-Mer über steile Weinberge und Geröll durch die Pyrenäen zum spanischen Küstenort Port-Bou. [17] Über weitere Mittelsleute wurden die Flüchtlinge von dort weiter nach Südfrankreich oder Nord- und Südamerika geschleust.

Im Gegensatz zu anderen Schleusern und den meisten heutigen »Menschenhändlern«, die den Flüchtlingen auch ihr letztes Hab und Gut abnahmen, wurden die Fittkos nicht für ihre Dienste bezahlt. Fry und das Emergency Rescue Committee sorgten lediglich für ihren Unterhalt. Für das französische Vichy-Regime – Marionetten der Nationalsozialisten – waren Varian Fry und die Fittkos Straftäter. Ihre Fluchthilfe aus Frankreich war illegal. Fittko entging einer Verhaftung nur durch den Schutz sozialistischer Genossen in der französischen Polizei und lokaler Verwaltungsbehörden; 1941 gelang ihr die Flucht nach Kuba, später siedelte sie in die USA über. Fry, der schon 1940 für kurze Zeit inhaftiert worden war, wurde nach 13 Monaten Tätigkeit im Dienste der Menschlichkeit in seine Heimat ausgewiesen.

Asyl in Europa – von der heiligen Pflicht zum Mittel der Politik


Die Notwendigkeit, Verfolgten zur Flucht zu verhelfen und ihnen Asyl zu gewähren, erreichte vor allem während und nach dem Zweiten Weltkrieg einen traurigen Höhepunkt. Doch Tausende blieben schutzlos, auch wenn Asyl im europäischen Kulturkreis eine lange Tradition hat. Das Wort »Asyl« hat lateinisch-griechische Wurzeln. Es meint ursprünglich einen Ort, an dem Verfolgte Zuflucht suchen konnten, und das Recht einer religiösen Autorität, diesen Schutz zu gewähren.

In einer Zeit ohne wirksame Rechtsschutzsysteme boten zunächst vor allem Heiligtümer – also Tempel oder andere sakrale Orte – Personen Schutz vor privater wie vor politischer Gewalt. Diesen Schutz konnten sowohl aus ihrer heimatlichen Rechtsgemeinschaft ausgestoßene Fremde in Anspruch nehmen wie auch andere Hilfesuchende, etwa entflohene Sklaven und sogar Verbrecher. Im Tempel oder in anderen heiligen Stätten konnten sie sich der Gewalt ihrer Verfolger zumindest zeitweise entziehen, weil der Schutz durch das Heiligtum höher geachtet wurde als das private Recht.

 

In der späteren Antike trat der religiöse Charakter des (Tempel-)Asyls zurück hinter den politischen Aspekt: Asyl wurde als Recht eines Staates betrachtet, das gegenüber anderen Staaten geltend gemacht und verteidigt werden konnte. Asyl wurde nun als Inbegriff von Macht und Eigenständigkeit verstanden, als Mittel der Politik statt als heilige Pflicht. Dementsprechend entzündeten sich bis zum Mittelalter am Asylrecht eher Machtkonflikte zwischen weltlichen Herrschern und der Kirche als zwischen den Staaten alleine. Abgeleitet von der Tradition des Tempelasyls bestand das Recht, Asyl zu gewähren, weiterhin als Privileg von Kirche und Klerus. Es gab dem Bischof die Möglichkeit, zugunsten des Verfolgten zu intervenieren. In einer Zeit, in der es kaum kodifizierte Rechtsordnungen gab, war das kirchliche Asylprivileg somit die einzige Garantie für einen gewissen Rechtsschutz. Doch dieses kirchliche Gewohnheitsrecht wurde in der Neuzeit durch die erstarkende zentrale Staats- und Herrschaftsgewalt beschnitten und bestritten – bis es schließlich endgültig staatliches Recht wurde. In diese Zeit fielen auch die ersten großen Flüchtlingsbewegungen, ausgelöst durch die Auseinandersetzung zwischen Anhängern der Reformation und Gegenreformation. Allerdings wurde Asyl damals schon nicht mehr als beliebiges Recht des Aufnahmestaates betrachtet, sondern auch als eine Pflicht, an die ein Verfolgter appellieren konnte.

Dieser Perspektivwechsel erlebte im 19. Jahrhundert eine weitere Schärfung. Staaten begründeten politisches Asyl nicht mehr nur mit ihrer Souveränität, sondern ausdrücklich auch mit ihrem Gastrecht und der Humanität. So erklärte das Osmanische Reich im Streit um die von Russland verlangte Auslieferung ungarischer Flüchtlinge nach dem Ungarn-Aufstand von 1848: »Die Auslieferung der Flüchtlinge, die sich unter den Schutz Seiner Majestät des Sultans gestellt haben, widerspräche nicht nur der Ehre, sondern auch der Menschlichkeit der Regierung Seiner Majestät.« [18] Asyl zu gewähren wurde zu einem hohen Gut, zu dem sich Staaten auch ohne entsprechende Gesetzesgrundlage nicht nur verpflichteten, sondern das sie vor anderen auszeichnete.

Das Asylrecht zwischen den Weltkriegen


Waren über die Zeiten hinweg nur kleine Gruppen oder Einzelpersonen auf Asyl angewiesen, änderte sich dies schlagartig gegen Ende des Ersten Weltkriegs: Allein nach der Oktoberrevolution 1917 flohen anderthalb Millionen russische Bürger ins Ausland, viele von ihnen ohne entsprechende Reisedokumente. 1921 verloren grundsätzlich alle, die nach der Oktoberrevolution geflohen waren, die Möglichkeit zu reisen. Denn die Bolschewiki entzogen ihnen kurzerhand die Staatsbürgerschaft. Und so strandeten anderthalb Millionen Illegale in den Nachbarländern – ohne die diplomatische Hilfe ihres einstigen Heimatstaates in Anspruch nehmen zu können. So ging es auch den Armeniern, die in den zwanziger Jahren vor den Pogromen in der Türkei flohen.

Der Völkerbund reagierte 1922 auf einen Appell des Internationalen Roten Kreuzes und ernannte den norwegischen Polarforscher Fridtjof Nansen zum Hochkommissar für Flüchtlingsfragen. Nansen sollte sich gezielt der Probleme russischer und armenischer Flüchtlinge annehmen. Doch sein Mandat wurde bereits 1928 auf andere Flüchtlinge ausgedehnt, die in vergleichbaren Schwierigkeiten steckten. Der Rechtsschutz für sie wurde zu jener Zeit vor allem durch sogenannte Arrangements abgesichert – von den Staaten unterzeichnete Verträge mit dem Hochkommissar. Nur wenn ein solches Arrangement bestand, konnte Nansen die ersten internationalen...

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