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Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen. Ursachen, Behandlung und Umgang mit Betroffenen

AutorAnnika Althoff
VerlagScience Factory
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl91 Seiten
ISBN9783956873515
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Sich freiwillig Schmerz zuzufügen, finden die meisten Menschen abschreckend und nicht nachvollziehbar. Dennoch gibt es bei vielen Jugendlichen ein impulsives selbstverletzendes Verhalten, das oft zur Sucht wird. Die Betroffenen fügen sich Schmerz zu, indem sie sich schneiden, ritzen, verbrennen, kratzen, beißen und sogar schlagen. Dieses selbstverletzende Verhalten dient häufig der Kompensation enormer psychischer Spannungen. In vielen Fällen liegen die Ursachen dabei in traumatischen Erlebnissen, die häufig auf die Kindheit zurückzuführen sind. Annika Althoff untersucht in dieser Publikation die Ursachen von selbstverletzendem Verhalten sowie Erklärungsansätze zur Entstehung und zum Verlauf der komplexen Störung. Die Autorin stellt dabei auch Möglichkeiten der Prävention und Therapie vor und gibt Ratschläge für den Umgang mit Betroffenen. Aus dem Inhalt: - Selbstverletzendes Verhalten; - Jugendliche; - Soziale Arbeit; - Prävention; - Therapie

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Leseprobe

4 Epidemiologie und Verlauf


 

Allgemein sind die Prävalenzangaben schwer zu bestimmen und zu bewerten, was unter anderem in einer mangelnden terminologischen Klarheit des Konzeptes begründet ist. Zudem führen die meisten Selbstverletzenden das Verhalten im Privaten durch, verdecken ihre Kleidung oder erklären sichtbare Verletzungen mit angeblichen Unfällen; so gehen die Schätzungen der Forscher teilweise weit auseinander (vgl. Petermann/Nitkowski 2015, S. 51). Weiterhin wird die Bestimmung der Prävalenz durch unterschiedlich verwendete Erhebungsmethoden erschwert (vgl. Warschburger/Kröller 2008, S. 215).

 

Generell lässt sich sagen, dass Deutschland im europäischen Vergleich zu den Ländern mit den höchsten Prävalenzraten für SVV unter Jugendlichen gehört (vgl. Plener et al. 2012a, S. 16 ff.).

 

Im Folgenden wird versucht, verschiedene Prävalenzangaben unterschiedlicher Studien zusammenzufassen und daraus Schlüsse zu ziehen. Die Häufigkeiten in Schülerpopulationen variieren zwischen 3% und 37% (vgl. Vonderlin et al. 2011 zit. nach Petermann 2012, S. 1). Aus Stichproben von Schülerpopulationen in Deutschland wurde bei Jugendlichen eine Lebenszeitprävalenz von 25,6% für zumindest einmaliges SVV berichtet (vgl. In-Albon et al. 2015, S. 6). Betrachtet man die Angaben für gelegentliches SVV (ein- bis dreimal) und repetitives SVV (mehr als viermal), so ergeben sich Prävalenzwerte von 2-15% (vgl. Warschburger/Kröller 2008, S. 215). Nach Untersuchungen von Brunner et al. (2007, S. 643) herrscht eine Ein-Jahresprävalenz von 10,9% für gelegentliches SVV und von 4% für repetitives SVV. Weitere Studien geben an, dass für Jugendliche der neunten Klasse eine Lebenszeitprävalenz von 25,6%, eine Ein-Jahresprävalenz von 14,9% und eine Sechs-Monatsprävalenz von 14,2% herrscht (vgl. Hoffmann 2013, S. 129). Auch hier lassen sich die verschiedenen Werte aufgrund der unterschiedlichen Eingrenzungen erkennen. Muehlenkamp und Gutierrez (2004) stellten in ihrer Studie an 390 High-School-SchülerInnen mit einem Altersdurchschnitt von 16,3 Jahren SVV in 15,9% der Fälle fest. Es ergeben sich Hinweise darauf, dass SVV bei Jugendlichen mit einer höheren Prävalenz auftritt als im jungen Erwachsenenalter (vgl. Petermann/Nitkowski 2015, S. 53).

 

„Auch wenn gelegentlich von einem Anstieg der Auftretenshäufigkeit der Störung bei Jugendlichen in den letzten Jahren berichtet wird (z.B. MacAniff Zila & Kiselica, 2001; Nock, 2010; Pipher, 1994), spiegelt dies, wie es scheint, nur die zunehmende Beachtung des Störungsbildes wider. Die wachsende Bekanntheit der Problematik erleichtert es wiederum den Betroffenen, sich Unterstützung zu suchen und offener mit ihrer Störung umzugehen. Es kann daher angenommen werden, dass selbstverletzendes Verhalten zukünftig als Störungsbild stärker wahrnehmbar wird, ohne dass eine tatsächliche Zunahme der Prävalenz vorliegen muss“ (Petermann/Nitkowski 2015, S. 61).

 

Fasst man die Aussagen der verschiedenen Studien und Autoren zusammen, so lässt sich davon ausgehen, dass ca. 25% der Jugendlichen in Deutschland zumindest einmalig SVV angewandt haben, wobei nur ein kleiner, aber nicht unerheblicher Teil davon auch repetitives SVV zeigt. Geht man davon aus, dass ca. 4% die Häufigkeitskriterien, die im DSM-V definiert werden, erfüllen und sich somit wiederholt selbstverletzen, so spricht man hier von einem gesundheitlichen Problem, das in etwa das Ausmaß der Prävalenz der ADHS annimmt (vgl. In-Albon et al. 2015, S. 6 f.).

 

Die Frage einer unterschiedlichen Prävalenz selberverletzenden Verhaltens bei den Geschlechtern wird in der Literatur nicht eindeutig beantwortet. Viele Studien berichten, dass Mädchen und Frauen häufiger von SVV betroffen sind als Jungen und Männer. Resch (1998 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 55) beispielsweise berichtet als Ergebnis eines Vergleichs verschiedener Untersuchungen über ein Geschlechterverhältnis von 2:1 bis hin zu 9:1, also über deutlich mehr weibliche Betroffene. Auch in der Heidelberger Schulstudie wurde festgestellt, dass 14-jährige Mädchen SVV doppelt so häufig wie Jungen durchgeführt haben. Bei der repetitiven Form von SVV zeigten die Mädchen dreifach so hohe Häufigkeiten wie die Jungen (vgl. Resch 2005 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 53 ff.). Werden auch Praxen wie Sich-Schlagen oder nach Gegenständen treten, um sich zu verletzen, in die Definition integriert, steigt der Anteil männlicher Akteure deutlich an (vgl. Muehlenkamp/Gutierrez 2004 zit. nach Liebsch 2011, S. 111).

 

Eine mögliche Erklärung dafür, dass Mädchen häufiger von SVV betroffen zu sein scheinen als Jungen, ist, dass Frauen eher als Männer die Tendenz aufweisen, Aggressionen gegen sich selbst statt gegen ihre Umwelt zu richten (vgl. Muehlenkamp/Gutierrez 2004 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 56).

 

Da Frauen häufiger als Männer Opfer sexuellen Missbrauchs werden und dies als Risikofaktor für SVV gilt, liefert dieser Aspekt einen weiteren Erklärungsansatz. Zudem werden häufig Borderline-PatientInnen zu Stichproben herangezogen; hier überwiegt der Anteil an betroffenen Frauen deutlich (vgl. Muehlenkamp/Gutierrez 2004 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 56).

 

Durch bereits benannte Probleme bei der korrekten Bestimmung der Prävalenz ist es ebenfalls schwierig, zuverlässige Angaben über die langfristige Entwicklung zu machen. Eindeutige empirische Belege für Veränderungen der Prävalenz der Störung existieren daher derzeit nicht (vgl. Petermann/Nitkowski 2015, S. 61).

 

Unterschiedlichen Quellen zufolge liegt das durchschnittliche Alter, in dem SVV begonnen wird, zwischen dem zwölften und vierzehnten Lebensjahr (vgl. In-Albon et al. 2015, S. 7; Petermann 2012, S. 1; Petermann/Nitkowksi 2015, S. 58; Warschburger/Kröller 2008, S. 215). In der Phase des Jugendalters tritt SVV am häufigsten auf, mit zunehmendem Alter, meist ab einem Alter von 30-40 Jahren, nimmt das Auftreten des SVV wieder ab (vgl. Petermann 2012, S. 1; Warschburger/Kröller 2008, S. 215; Ferentz 2001, S. 2). TeilnehmerInnen einer Studie bei Waters und Rolfe (2002 zit. nach Gast 2007, S.145) gaben dafür verschiedene Gründe an. Beispielsweise erläuterten sie, mit der Zeit ein höheres Selbstwertgefühl entwickelt oder gelernt zu haben, über ihre Gefühle zu sprechen oder ihnen auf andere Weise Ausdruck zu verleihen als durch SVV. Andere TeilnehmerInnen gaben an, nun eine stabilere und unterstützende Umgebung zu erfahren mit Menschen, mit denen sie über ihre Schwierigkeiten sprechen können. So tritt SVV zwar mehrheitlich in der Adoleszenz auf, es wäre aber falsch anzunehmen, dass SVV ein vorübergehendes Problem der Adoleszenz darstellt, denn es kann Jahrzehnte lang aufrechterhalten werden (vgl. In-Albon et al. 2015, S. 7). Die Kontinuität scheint bei weiblichen jungen Erwachsenen größer zu sein als bei männlichen jungen Erwachsenen (vgl. Moran et al. 2012 zit. nach In-Albon et al. 2015, S. 7).

 

Beim Vorliegen einer geistigen Beeinträchtigung, einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung oder einer hirnorganischen Erkrankung kann das SVV auch schon im Kindesalter auftreten. SVV tritt zudem häufiger bei Menschen mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen oder einer geistigen Behinderung auf (vgl. Petermann 2008 zit. nach Hoffmann 2013, S. 129).

 

Je jünger der/die Jugendliche bei Beginn von SVV ist, desto schwerer scheint die Störung später ausgeprägt zu sein (vgl. Petermann/Nitkowski 2015, S. 59). Nixon/Cloutier/Aggarwal (2002, S. 1337 f.) konnten bestätigend dazu zeigen, dass Jugendliche mit schwerem SVV in einem signifikant jüngeren Alter begonnen haben als Jugendliche mit leichtem SVV. Bei ersteren liegt der Beginn im Durchschnitt bei elf Jahren, letztere beginnen im Durchschnitt mit vierzehn Jahren mit den Selbstverletzungen.

 

Hawton et al. (1996 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 59) postulieren hormonelle Gründe dafür, dass das SVV erst in der Pubertät einsetzt und bei Jugendlichen unter zwölf Jahren kaum zu beobachten ist. Dazu passt der Befund von Nixon/Cloutier/Aggarwal (2002, S. 1335), dass die Störung bei Jungen signifikant später beginnt als bei Mädchen (bei Jungen im Durchschnitt mit 15,2 Jahren, bei Mädchen mit 12,3 Jahren). Da Jungen im Durchschnitt ungefähr zwei Jahre später die Pubertät erreichen, stützt dieser Befund die hormonelle Hypothese.

 

Weiterhin wird SVV häufig durch bestimmte Ereignisse erstmalig ausgelöst. Dazu können nach Resch (1998 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 59) Misserfolgs- und Versagenserlebnisse gehören sowie Verlusterlebnisse, soziale Isolation oder Drucksituationen.

 

Als Prädikator für eine Inzidenz in der Adoleszenz sprechen eine Depression, Angst, antisoziales Verhalten sowie der Konsum von Nikotin, Cannabis und Alkohol. Prädikatoren für eine Inzidenz im jungen Erwachsenenalter bilden wiederum Angst- und Depressionssymptome in der Adoleszenz; repetitives SVV steht häufig im Zusammenhang mit weiteren psychischen Problemen (vgl. In-Albon et al. 2015, S. 7).

 

SVV nimmt in den meisten Fällen einen repetitiven Charakter an, wodurch eine Ähnlichkeit mit sucht- oder zwanghaftem Verhalten entsteht. Die meisten Betroffenen entwickeln ein spezifisches und für den Einzelfall charakteristisches Muster, sodass sich manche Betroffene täglich oder mehrfach täglich selbst verletzen, andere in einem wöchentlichen Rhythmus (vgl. Bywaters/Rolfe 2002 zit. nach...

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