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E-Book

Sinnesmomente - Sinnmomente

Wie Spiritualität alltäglich wird

AutorPeter Wild
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783843605397
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Frischer Apfelduft, samtige Pfirsichhaut, kräftiges Salatgrün: Ein Bummel über den Wochenmarkt ist ein Fest für die Sinne. Doch unsere vielfältigen Sinneserfahrungen sind für uns oft so selbstverständlich, dass wir sie gar nicht wirklich wahrnehmen. Aufmerksam und offen bei den Sinneserfahrungen zu verweilen, ermöglicht, dass in ihnen Sinn aufscheint. Denn wie der Duft eines Apfels oder der Klang eines Akkords ist auch die Gotteserfahrung momentan und will je neu wahrgenommen werden. So wird Spiritualität im besten Sinn alltäglich.

Peter Wild, geboren 1946, arbeitet als Erwachsenenbildner der Evangelisch-reformierten Landeskirche Zürich und leitet seit vielen Jahren Meditationskurse im In- und Ausland. Der Theologe, Germanist und Religionswissenschaftler ist Autor zahlreicher Bücher über Meditation und Spiritualität.

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Leseprobe

Kapitel 1
Unter der Hand oder:
Die Kunst der Wahrnehmung


Kaum einer
geht behutsam mit sich um
legt seine Hand
auf die andere Hand
gibt die Wärme
und nimmt die Wärme
der einen
mit der anderen Hand
Werner Lutz3

Einstimmung: einfach sitzen


Setzen Sie sich in einen Raum, in dem Sie sich wohlfühlen und in dem Sie ungestört verweilen können; setzen Sie sich so hin, dass Sie zur Ruhe kommen; drücken Sie mit Ihrer Art zu sitzen den Wunsch aus, zur Ruhe zu kommen.

Legen Sie dann Ihre Hände in den Schoß – mit dieser sprachlichen Wendung beschreiben wir nicht nur eine äußere Armhaltung, sondern auch eine innere Haltung: Wir sind passiv, wir packen nichts an, unsere Hände bleiben untätig.

Nehmen Sie sich wahr: Gelingt es Ihnen, sich auf diese Passivität einzulassen? Oder tauchen noch wichtige Aufgaben auf, die erledigt sein wollen, bevor Sie sich der Ruhe hingeben?

Nehmen Sie sich wahr: Manchmal kann der Wunsch, uns der Ruhe zu widmen, zunächst das Gegenteil auslösen; in unserem Kopf und unserem Herzen kommen und gehen die Gedanken wie verrückt, ganz laut, sie übertönen jegliche Ruhe … Scheint es dann nicht besser zu sein, die Ruhe abzubrechen und aufzustehen? Macht es für Sie Sinn, bei diesem inneren Lärm die Ruhe aufrecht zu halten?

Lenken Sie die Aufmerksamkeit zu Ihren Händen: Vertrauen Sie sich der Zweisamkeit, Unbeweglichkeit und Ruhe Ihrer Hände an. So lange, wie Sie Lust dazu haben.

Falls Ihnen ein solches Sitzen bereits vertraut ist, pflegen Sie es bewusst; dehnen Sie die Zeit aus. Falls es Ihnen nicht vertraut ist, probieren Sie es aus. Wenn Sie es als Einengung erleben, bleiben Sie bitte nur kurze Zeit in diesem Sitzen; wenn Sie sich daran gewöhnt haben und es nicht mehr als unangenehm erleben, beginnen Sie etwas länger zu verweilen.

Geben Sie Ihrem Sitzen einen Namen. Der Name kann beschreiben, was Sie im Sitzen erleben oder erfahren möchten. Der Name kann zum Wunsch werden, der Sie zum Sitzen einlädt.

Markthallen oder die Kunst der Wahrnehmung


Mein erster Gedankengang ist der folgende: Woher gewinnen spirituelle Erfarungen ihre Bedeutung und worauf basieren sie? Basieren sie mehr auf »Spiritualität« oder basieren sie mehr auf »Erfahrung«?

Nach meiner Überzeugung verdanken sich spirituelle Erfahrungen eindeutig der Erfahrung, und Erfahrungen wiederum verdanken sich unseren sinnlichen Wahrnehmungen. Tag für Tag, Augenblick für Augenblick, bewusst oder kaum bewusst, orientieren wir uns über die Sinne. Wie ausschlaggebend und bereichernd dies ist, merken wir an den Tagen, an denen unsere Sinne wirklich im Mittelpunkt stehen dürfen. An Ferientagen beispielsweise, wenn die alltägliche Routine uns in den Freiraum der Erfahrung entlässt.

Ich möchte deshalb dieses Kapitel über die Wahrnehmung mit Erinnerungen an einen Urlaub beginnen, der für mich noch nicht weit zurückliegt. Mit einem Freund aus der Gymnasiumszeit war ich in Frankreich unterwegs. Der letzte Ort, den wir gemeinsam entdecken wollten, war La Rochelle, eine Hafenstadt am Atlantik. Und eine Erinnerung, die ich, Monate später, gerne lebendig werden lasse, verbindet sich mit den Markthallen mitten in der Altstadt von La Rochelle.

Wir waren schon fast zwei Stunden lang absichtslos durch die Gassen und Straßen der Altstadt gebummelt. Wir hatten im Café de la Paix, auf das wir an der Place de Verdun zufällig gestoßen waren, einen Espresso getrunken und die Fotos, die an einen berühmten Stammgast, den Krimiautor Georges Simenon, erinnerten, bestaunt. Wir hatten uns in der Boutique Le Criollos dazu bewegen lassen, die Schokoladespezialitäten von Sébastien Morosini nicht nur zu bestaunen, sondern auch zu kosten und zu kaufen. Nun standen wir vor den Markthallen. Es war Freitagnachmittag, es herrschte Hochbetrieb. Wir umgingen die Gemüse- und Obststände außerhalb der Hallen und traten durch einen Seiteneingang in das Innere.

Wir befanden uns im Bereich der Metzgereien, was uns nicht interessierte. Gleich anschließend jedoch stießen wir auf die Käsehändler. Zuerst waren es die Namen der Käse, die uns beschäftigten. Wir machten uns gegenseitig auf jene Käsesorten aufmerksam, denen wir im Laufe unserer Reise durch die Region von Poitou-Charentes schon begegnet waren, sei es als Abschluss der Mahlzeit, sei es als Teil des Frühstücks. Nach der Wiederentdeckung der Namen setzten wir unsere Nasen ein. Wir versuchten die Gerüche, die Duftmarken der einzelnen Käse, wahrzunehmen, was in dieser Überfülle an Käse gar nicht so leicht war. Am ehesten gelang es uns, wenn wir einen Käse vom Essen her schon in Erinnerung hatten. Schließlich kamen wir mit einem der Händler, der selbst auch Käse produzierte, ins Gespräch. Wir ließen uns erzählen, was bei der Produktion seiner Spezialitäten alles mitspielte. Doch das Gespräch wurde für unser Französisch schwierig. Wir zogen uns mit der Versicherung aus der Affäre, wir hätten ihm mehrere Käse abgekauft, wenn wir jetzt gleich nach Hause fahren würden, doch wir hätten noch einen weiten Weg vor uns … Wir beide nahmen uns vor, in Zukunft auch zu Hause mehr auf Käsespezialiäten zu achten und die Fachgeschäfte in unserer Region aufzustöbern.

Und dasselbe geschah, als wir zu den Fischständen kamen. Wir hatten auf unserer Reise fast immer Fisch gegessen und kannten die entsprechenden Bezeichnungen von den Speisekarten. Nun konnten wir uns von den Fischen ein Bild machen. Fische, deren Namen wir bisher nicht getraut hatten, wurden nun durch ihr
Aussehen vertrauenswürdig. Den Gesprächen, die an den Verkaufsständen geführt wurden, entnahmen wir, dass die Herkunft der Fische – Meer, Bach oder Teich – und ihre Fangfrische eine Rolle spielten, dass Rezepte ausgetauscht und verglichen wurden. Ganz aufmerksam hörten wir zu, als an einem der Fischstände debattiert wurde, wie eine merluche, ein Seehecht, zubereitet werden sollte.

Als wir die Hallen verließen, blieben wir noch eine Weile bei den Obst- und Gemüseständen. Im Nachhinein denke ich, dass es vor allem die Farben waren, die uns daran hinderten, am Obst und am Gemüse einfach so vorbeizugehen.

In den Tagen, da ich mich immer wieder diesem ersten Kapitel widme, lese ich den Roman Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt der isländischen Autorin Audur Jónsdóttir. Ich stoße dabei auf eine Textstelle, die meiner Marktbeschreibung Konkurrenz macht. Sunna, die Hauptfigur dieses Romans, hat zu einem früheren Zeitpunkt ihres Lebens in Barcelona Spanisch und Katalanisch studiert. Wenn sie ihre aktuelle Situation in Reykjavik erzählt und reflektiert, werden Barcelona und die sinnliche Lebenshaltung, die sie dort im Süden entfalten konnte, zu einem farbigen Kontrast zum Leben in Reykjavik. So beschreibt sie den Weihnachtsmarkt im alten jüdischen Viertel von Barcelona:

Auf den Marktplatz hatte sich ein Geruch aus Kerzenwachs, Räucherkerzen, Zuckerwaffeln, heißer Schokolade, Röstkastanien und türkischem Honig gelegt, die von Baldachinen bedeckten Marktstände krachten fast zusammen vor lauter Heiligenstatuen, Jesuskindern,
Krippen und Heiligen Drei Königen.
Im Labyrinth des jüdischen Viertels hing überall Lichterschmuck, sogar die ältesten Häuser glänzten blau, grün und rot wie Sterne am Himmel, Wegweiser durch das Gedränge.
An den Ständen türmten sich Obst, Gemüse und Käselaiber, schimmelige, parmesangelbe, schneeweiße; zuckende Fische, zappelnde Krebse mit zusammengebundenen Scheren, Miesmuscheln in Schale, Tintenfisch in Stücken und Hummer auf Eis, sehr bleiche Schweinsfüße und abgeschlagene Schweinsköpfe, kopfloses Geflügel, Tunfisch-Steaks, Gewürze in Säckchen und Olivenöl in Kanistern. Darüber hingen Fleischbrocken, Schweine- und Wildschweinkeulen über Plastikeimern mit zerschnittenen Herzen, aus denen schwarzes Blut floss; dazu gab es: selbst gemachtes Aioli, Dattelkuchen, Wein, Bauernbrot, Oliven mit Knoblauch und Schokoherzen, die auf der Zunge zergingen. Die Atmosphäre war süß, dicht, trunken: gesättigt mit dem Geruch von Blut, Fruchtzucker, Meersalz, Zwiebelatem und Milchsäure.4

Dass ich mich in die Atmosphäre von La Rochelle zurückversetze, hat aber nicht nur zur Folge, dass ich bei der Lektüre von Büchern auf verwandte Stellen aufmerksam werde. Die Erinnerung der Sinneseindrücke aus den Urlaubstagen lässt mich auch in der Gegenwart sinnlicher leben. Beim gewohnten Spaziergang entlang der Aare überraschen mich der Geruch des Wassers, die unterschiedlichen Gerüche der Erde in den Uferböschungen, der winterliche Farbenreichtum der Blätter, die noch an den Bäumen hängen. Und beim Einkauf in unseren kleinen und mittelgroßen Dorfläden – ich kenne sie inzwischen so gut, dass ich die Produkte blind aus den Regalen holen könnte – nehme ich mir wieder Zeit: schaue, nehme den Duft der Früchte wahr, nehme Früchte und Gemüse in die Hand, male mir aus, welche Gerichte aus ihnen entstehen könnten. Und im Käseladen registriere ich die vielfältige Herkunft der einzelnen Käselaiber – Alpkäsereien, von denen ich noch nie gehört habe; ich lasse mir von der Leiterin des Ladens erzählen, wie sie zu diesen Käsereien Kontakt gefunden hat.

Ich staune zudem, wie viele Gesichter die Stadt La Rochelle mir geschenkt hat. Ich liebte es, in diesen Fe­rientagen in La Rochelle, aber auch an den früheren Orten, irgendwo zu sitzen und die Menschen wahrzunehmen. Auf dem Cours des Dames, einer Allee in der Nähe unseres Hotels, gab es mehrere Bänke. Ich setzte...

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