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E-Book

Verbote und Geheimnisse

Das Tabu und die Genese der europäischen Moderne

AutorAlexandra Przyrembel
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl417 Seiten
ISBN9783593411453
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Auf seinen Reisen in die Südsee entdeckte James Cook im 18. Jahrhundert das polynesische Tabu. Missionare brachten dieses Wissen nach Europa. Wie es dann mit der Professionalisierung von Ethnologie und Psychoanalyse als wissenschaftliches Konzept Eingang in die europäische Kultur fand, erzählt Alexandra Przyrembel in ihrer Wissensgeschichte des Tabus. Ungewöhnlich ist dabei die Verknüpfung der Wissens- mit einer Erfahrungsgeschichte. Am Beispiel der Sozialreformbewegung und der Tierschutzbewegung des 19. Jahrhunderts legt die Autorin die Bedeutung von Tabus in der europäischen Gesellschaft offen und zeigt: Die Geschichte der Modernisierung ist auch eine Geschichte des Tabus.

Alexandra Przyrembel, Dr. phil., ist Privatdozentin am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Göttingen.

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Leseprobe
Das Tabu hat eine Geschichte. Die Geschichte seiner Entdeckung wird in diesem Buch erzählt. Im Gefolge der ?Südsee?-Euphorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts beschrieb der Entdecker und Kartograph James Cook (1728-1784) das Tabu in seinen Tagebüchern erstmals als zentrales, gleichwohl seltsam anmutendes Charakteristikum der Bevölkerung des südpazifischen Ozeans. Mehr als hundert Jahre später wandte sich der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856-1939) neuerlich dem Tabu zu. In einem Brief schwärmte Freud gegenüber seinem amerikanischen Kollegen und Freund Ernest Jones (1879-1958) von seinem neuesten Erkenntnisinteresse: dem 'marvellous', dem 'wunderbaren' Tabu. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts - im Gefolge des ?Primitivismus?-Kults, der die Sozial- und Geisteswissenschaften in London, Paris oder auch Wien seit nunmehr einigen Jahrzehnten erfasst hatte - beschäftigte sich Freud mit dem angeblichen Aberglauben der 'armen, nackten Kannibalen' Australiens im Allgemeinen und dem Konzept des Tabus im Besonderen. Freuds Lesart zufolge erklärte diese neue Kategorie zentrale gesellschaftliche Phänomene - den Umgang mit den Toten, die Bedeutung der Herrscher - auch der europäischen Gesellschaft. 'Die Tabuverbote entbehrten', so die Beobachtung Freuds, 'jeder Begründung; sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen.' Diese Interpretation Freuds über die Bedeutung und Präsenz scheinbar unbekannter Verbote und Geheimnisse hat sich als Meistererzählung über die Wirkung von Tabus etabliert. Diese Meistererzählung hatte mit Cooks Beschreibungen des scheinbar kuriosen 'Tafoo' der Südsee-Bevölkerung nur noch wenig zu tun.
Mit Freuds Essaysammlung Totem und Tabu (1913) etablierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts somit eine der zentralen Deutungen über die Wirkungen des Tabus. Freuds Interesse an diesem Gegenstand hat nicht allein wissenschaftshistorische Gründe wie etwa das Interesse der Sozial- und Geisteswissenschaften an der Religion der ?primitiven? Völker Afrikas oder Asiens. Dass Freud sich mit dem Ordnungssystem des Tabus überhaupt beschäftigte, ist vielmehr auch Ergebnis der Erfahrung von Tabuisierung. Nicht allein die wissenschaftlichen 'Reflexionen' über die neue Ordnung des Tabus, sondern ebenso die 'nackte Erfahrung der Ordnung und ihrer Seinsweisen' prägte die neue Meistererzählung über das Tabu. Die Rekonstruktion dieses dialektischen Prozesses, in dem einerseits das diffuse Wissen über das Südsee-Tabu zu einer analytischen Kategorie geformt und in dem andererseits die ?nackte Erfahrung? von Tabuisierung gemacht wurde, ist Gegenstand des vorliegenden Buches. Dieser Prozess ist mit der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts unmittelbar verknüpft.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Einleitung: Das Tabu und die Moderne10
Erster Teil: Wissen Europa, die Südsee und das Tabu28
Kapitel 1 James Cook und die ›Entdeckung‹ des Tabus im ausgehenden 18. Jahrhundert38
Kapitel 2 Missionare, der Satan und die Bekämpfung des Götzentums um 180053
Die protestantische Offensive – Programme zur Rettung vor dem Satan54
›Moderne‹ Missionare?64
Missionare in der Südsee – Aufgaben und Erfahrungen68
Predigen, Beobachten, Schreiben und Sammeln – Die missionarische Offensive und ihre transnationale Welt73
Kapitel 3 Faszination: Medien und die Vermittlung von Wissen I83
Missionare berichten84
Verführungen – Der Tanz, die Kannibalen und die Macht des Tabus88
Die Inselgruppe Marquesas, das Tagebuch und die Intimität der Beobachtung99
Missionare, der ›ethnologische‹ Blick und das Tabu107
Kapitel 4 Ethnologie, Psychoanalyse und die (Wieder-)Entdeckung des Tabus um 1900114
Freud als Vater und die psychoanalytische Semantik der Innenschau115
Die Faszination des ›Primitiven‹ um 1900119
James Frazer, die Ethnologie und die Gefahr der Ansteckung123
Sigmund Freud, die ›armen nackten Kannibalen‹ und die Entdeckung des Unbewussten132
Vom »wunderbaren Tabu« zum Inzestverbot140
Zweiter Teil: Glauben Sünden, Tabus und die Ordnung der sozialen Frage144
Kapitel 5 Der Schmutz und die Wilden157
Zwei Männer – Pietät und Abscheu157
Der Erlöser Wichern, die Innere Mission und die religiöse Offensive159
Verbotene Räume: Wicherns Reisen in die »Höhlen der Armen«173
Engels, der Ekel und Die Lage der arbeitenden Klasse in England182
Ekel und Sünde in den Berichten Wicherns und Engels’196
Kapitel 6 Die Brüder des Rauhen Hauses: Rituale der Reinigung201
Hamburg und der Tod der Religion201
Von London nach Hamburg – Die Stadtmission als Importartikel204
Vereine und die ›Terrains‹ der Inneren Mission208
Kulturen des Religiösen – die Brüdergesellschaft211
Brüderbriefe – Semantiken der Liebe und der Verachtung223
Kapitel 7 Die Furcht vor dem Verderben: Medien und die Vermittlung von Wissen II230
Die religiöse Furcht vor dem Verderben234
Verwildern, Trinken und die ›Giftquelle der Prostitution‹240
Der Hausbesuch: Schreiben, Ordnen, Verstehen252
Geschichten des Scheiterns und die ›Sonderanthropologie‹ der Unterschicht261
Dritter Teil: Fühlen Abscheu, Blut und die Liebe zum Tier272
Kapitel 8 Der Geruch der Tiere283
Hygiene: Die Entstehung der modernen Schlachthäuser286
Reinlichkeit der Luft, Reinlichkeit des Fleisches289
Reisende Experten – Kartographien der Schlachthäuser296
Kapitel 9 Tierliebe: Medien und die Vermittlung von Wissen III300
Tierschutz – eine Bewegung entsteht304
Predigen, Schreiben und Agitieren309
Mitleid mit der geschundenen Kreatur315
»Teufelsdreck«: Über Pferdebankette und das Essen323
Kapitel 10 Topographien: Im »Riesenmagen« der Stadt336
Apparate und die ›Idee des humanen Tötens‹340
Schluss358
Quellen und Literatur372
Dank413
Personenregister415

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