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Verunsichert, ängstlich, aggressiv

Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen - Ursachen und Folgen

AutorHelga Simchen
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl188 Seiten
ISBN9783170266186
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Länger bestehende Verhaltensstörungen entwickeln bei Kindern und Jugendlichen eine besondere Dynamik, die Qualität und Perspektive ihres gesamten Lebens bis ins Erwachsenenalter beeinflussen kann. Ängste und Aggressionen signalisieren den Beginn einer psychischen Destabilisierung und bahnen den Weg zum stummen oder oppositionellen Außenseiter. Verhaltensstörungen können auch die Realitätswahrnehmung verändern, was innerlich verunsichert und die Entwicklung psychischer Störungen wie Ängste, Aggressionen, Selbstwertkrisen, Dauerstress, Essstörungen, sich selbst verletzende Handlungen und Suchtverhalten bis hin zu kriminellen Handlungen auslösen kann. Aus der Summe vieler Belastungsfaktoren kommt es schließlich häufig - und das auch zeitversetzt - zu psychischen Erkrankungen. Wie sind Verhaltensstörungen in Familie, Schule und sozialem Umfeld frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig zu vermeiden, wie lassen sie sich ursachenorientiert behandeln? Eine Hilfe und Anleitung dazu möchte dieses Buch sein.

Frau Dr. med. Helga Simchen ist als niedergelassene Fachärztin für Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Neurologie des Kinder- und Jugendalters sowie als Psychotherapeutin in Mainz tätig. Zuvor arbeitete sie über 20 Jahre als Oberärztin an einer Kinderklinik und an einer Universitätsklinik für Psychiatrie und Neurologie des Kindes- und Jugendalters.

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Leseprobe

1 Ängstlich und aggressiv als Kind – psychisch krank als Erwachsener


1.1 Die Kindheit prägt unser Verhalten


Die meisten Kinder und Jugendlichen mit Verhaltensproblemen suchen in ihrem Elternhaus oder in der Schule nach den Ursachen ihrer Unzufriedenheit mit sich selbst, um ihre über Jahre bestehende Hilflosigkeit zu überwinden. Aus Selbstschutz und zur eigenen psychischen Entlastung richten sie gegen andere in ihrem persönlichen Umfeld Schuldzuweisungen.

Bisher wurde, ausgehend von den Thesen der Psychoanalyse, eine von den Eltern ausgehende Beziehungsstörung als Hauptursache für psychische Auffälligkeiten im Kindesalter angesehen. Die Grundlagen dieser Theorie wurden vor gut 100 Jahren von Sigmund Freud formuliert, dessen Konzept auf dem sog. „Ödipus-Komplex“ basiert. Dieser sieht, kurz gesagt, in der Rivalität von Mutter und Tochter um die Zuneigung des Vaters und der Rivalität zwischen Vater und Sohn um die Gunst der Mutter die Ursache für die Entwicklung einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung mit den verschiedensten Folgen.

Die neurobiologisch orientierte Forschung der letzten Jahrzehnte zeigt jedoch immer deutlicher, dass Beziehungsstörungen durch Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen selbst – in Wechselwirkung mit ihrem häufig ebenfalls verhaltensauffälligen Umfeld – entstehen. Dabei spielt eine „andere“ Art der Wahrnehmungsverarbeitung und deren Auswirkungen auf die Entwicklung von Selbstwertgefühl und Sozialverhalten eine wichtige Rolle.

Diese meist angeborene Regulationsstörung erschwert es den Kindern von klein auf, den Anforderungen, die an sie gestellt werden und die sie an sich selbst stellen, gerecht zu werden. Die Betroffenen sind ständigen Enttäuschungen, sowohl im Leistungs- als auch im sozialen Bereich, ausgesetzt. Das vorwiegend erfolglose Streben nach gewünschter Veränderung beeinträchtigt ihr Selbstwertgefühl und Verhalten. Das gezeigte Verhalten irritiert Eltern, Geschwister, Freunde, Klassenkameraden und Lehrer, die es sich nicht erklären können und als gegen sich gerichtet deuten. So entsteht ein Kreislauf, der vom betroffenen Kind keinesfalls so gewollt ist, und bei dem es selbst am meisten unter dem Gefühl der Isolation leidet.

Häufige Aussagen eines betroffenen Kindes lauten: „Alle sind gegen mich!“, „Niemand versteht mich!“ oder „Mich mag sowieso keiner.“

Die Betroffenen entwickeln je nach Veranlagung ängstliche oder aggressive Verhaltensweisen, die ohne Behandlung an Dauer und Intensität zunehmen, bis sie schließlich nicht mehr tolerierbar sind.

1.2 Reaktionen der Umgebung


Durch erzieherische Maßnahmen wie Nichtbeachtung unerwünschter Verhaltensweisen, ständiges Kritisieren, dauerndes Zurechtweisen oder gute Ratschläge („Strenge dich mehr an!“, „Es geht schon, wenn du dir mehr Mühe gibst!“, „Du kannst es, wenn du willst!“ usw.) fühlen sich viele Kinder noch ungerechter behandelt und überhaupt nicht mehr verstanden. Denn ihr Problem ist es gerade, dass ihnen die Änderung des Verhaltens trotz großer Bemühungen ohne Hilfe von außen nicht gelingt.

Manche Kinder reagieren aggressiv, andere mit verschiedenen Ängsten, je nach genetischer Veranlagung und Umwelteinfluss.

Die Ängstlichen geben sich selbst für alles die Schuld, ziehen sich zurück und entwickeln Autoaggressionen. Sie leiden am meisten, was häufig von der Umwelt gar nicht bemerkt wird. Der oberflächliche Betrachter bemerkt wohl ihr introvertiertes Verhalten, ansonsten hinterlassen sie einen angepassten, liebenswerten und unauffälligen Eindruck, solange ihre Fähigkeit zur Kompensation ausreicht. Ist diese erschöpft, führen ihre aufgestauten Emotionen zu unerwartet heftigen Reaktionen, die den Beginn einer schweren psychischen Störung einleiten können.

Die Aggressiven leiden psychisch weniger und geben für ihr Verhalten den anderen die Schuld, was durch den oberflächlichen Wahrnehmungsstil begünstigt wird, ebenso wie durch die Fähigkeit, Unangenehmes auszublenden. So können sie über lange Zeit die Reaktionen der Umwelt auf ihr Verhalten ignorieren oder verdrängen.

1.3 Dauerstress – Ursachen und Folgen


Aggressivität und Ängste als Folgen einer angeborenen veränderten Verarbeitung von Wahrnehmungen können Defizite im Leistungs- und Verhaltensbereich verursachen und so über einen langen Leidensweg zum Kindheitstrauma werden. Je schwerer die Störung der Wahrnehmungsverarbeitung ist, umso stärker wird die Entwicklung der Persönlichkeit beeinträchtigt, deren erste Anzeichen immer Verhaltensauffälligkeiten sind. Sie signalisieren den Beginn einer psychischen Störung, deren Ursachen beim Kind selbst oder in seinem sozialen Umfeld liegen. Beide beeinflussen sich gegenseitig und lösen im Körper Stressreaktionen aus. Jede schwere und anhaltende psychische Belastung erzeugt Dauerstress, der wiederum Körper und Psyche noch mehr belastet.

Abb. 1: Von den Eltern mitgebrachte Zeichnungen von Kindern und Jugendlichen, die auf ein Aggressionspotential hinweisen.

Ständige Enttäuschungen beeinträchtigen das Selbstwertgefühl, verunsichern, verursachen Ängste oder Aggressionen – deren Folge eine psychisch instabile Persönlichkeit mit Dauerstress ist. Ein ständig erhöhter Spiegel an Stresshormonen im Blut verringert die Bildung von Serotonin, dem sog. „Wohlfühl- oder Glückshormon“, dessen Mangel wiederum zu Ängsten, Zwängen und Depressionen führt.

1.4 Was tun bei mangelhafter Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung?


„Auffälliges Verhalten“ kann aber auch bedeuten, dass Kinder und Jugendliche eigentlich anders sein wollen, es aber aus vielerlei Gründen nicht können. Diesem Konflikt sind sie hilflos ausgesetzt und erleben ihn als sehr belastend. Meist können sie ihre Probleme nicht verbalisieren, weil sie sie selbst nicht verstehen. Deshalb sollte auffälliges Verhalten möglichst von Beginn an hinterfragt werden. Dazu muss nicht immer gleich ein Therapeut hinzugezogen werden, sondern die Eltern sollten mit den Lehrern und natürlich mit dem Kind nach den möglichen Ursachen suchen. Eltern und Lehrer sollten ihre Kompetenzen und Möglichkeiten, die Kinder im Leistungs- und Sozialverhalten zu beurteilen oder durch entsprechende Maßnahmen deren Verhalten zu beeinflussen, nutzen. Gelingt das nicht, sollte ein Neuropädiater oder ein Neuropsychiater nach den möglichen Ursachen für das veränderte Verhalten befragt werden. Hier muss immer das Ziel sein, die Ursachen zu beseitigen. Da es aber noch viel zu wenige entwicklungsneurologisch ausgebildete Ärzte gibt, brauchen viele Betroffene eine Anleitung zur Selbsthilfe. Bei der Vielzahl der angebotenen Therapien ist es erforderlich, dass sich die Betroffenen zuerst ausführlich über mögliche Ursachen und therapeutische Maßnahmen informieren. Die Selbsthilfegruppen leisten hierbei eine hervorragende Arbeit und sollten neben dem Kinderarzt die ersten Ansprechpartner sein.

1.5 Wann sollte ein Verhaltenstherapeut befragt werden?


Jede Therapie sollte den Betroffenen als Ganzes in seiner biopsychosozialen Einheit sehen und das soziale Umfeld mit einschließen. Bei allen psychischen und psychosomatischen Auffälligkeiten sind die Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und der Leidensdruck der Betroffenen die wichtigsten Parameter für die Schwere der Symptomatik und entscheiden über die Dringlichkeit einer professionellen Hilfe.

Ein gutes Selbstwertgefühl in der Kindheit zu erlangen, ist die wichtigste Voraussetzung für psychische Stabilität im Erwachsenenalter. Das Selbstwertgefühl entwickelt sich in der frühen Kindheit, etwa zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr, und ist später nur noch sehr schwer zu verändern, da es viele Denk- und Verhaltensweisen prägt, die sich dann einschleifen. Die Fähigkeit zur Gefühlssteuerung und somit auch zur Steuerung von aggressivem Verhalten ist in ihrer Anlage angeboren. Störungen in diesen Bereichen können schon in den ersten Lebensjahren beobachtet und therapeutisch beeinflusst werden.

Es ist immer die Summe verschiedener Störungen, die die Entwicklung des Kindes traumatisch belasten und professionelle Hilfe erfordern. Eine frühzeitige Behandlung kann helfen, Häufigkeit und Schwere von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen zu reduzieren. Hier reicht eine Verhaltenstherapie allein oft nicht aus; eine entwicklungsneurologische und psychiatrische Diagnostik sollte deren Ursachen klären. Dazu dient die Beantwortung folgender Fragen:

  • Wie ist der Selbstanspruch des Kindes und wie sind seine Möglichkeiten, ihm gerecht zu werden?
  • Wie ist sein Verhältnis zu seinen Eltern, zur Umwelt und umgekehrt?
  • Wie ist seine Wahrnehmungsverarbeitung und wie sein Entwicklungsstand?
  • Wie sehr leidet es und wie auffällig ist sein Verhalten?
  • Was wurde unternommen und warum blieb es erfolglos?

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und eine Notwendigkeit, die Frühdiagnostik möglichst vielen Kindern zugänglich zu machen. Denn psychische Erkrankungen nehmen immer mehr zu und werden schon als „Epidemie des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. Leider werden ihre ersten Symptome, die schon im Kindesalter zu finden sind, als solche bis heute nur unzureichend bewertet oder fehlinterpretiert.

1.6 Jahrzehnt der Verhaltensstörungen


In den USA wurde der Zeitraum von 2000 bis 2010 zum Jahrzehnt der Verhaltensstörungen erklärt, weil sie ständig an Bedeutung zunehmen und ihre...

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