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E-Book

Welch unerhörte Lust zu leben

Von großen Wunden und noch größeren Flügeln

AutorPetra Urban
VerlagVier-Türme-Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783896809940
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Missbrauch ist ein einschneidendes Erlebnis, das das ganze Leben prägt. Petra Urban schreibt aus eigener Erfahrung darüber, wie man mit dem Erlebten umgehen kann. Sie zeigt, wie es ihr irgendwann gelang, sich aus den belastenden Fängen ihrer Vergangenheit zu befreien und ein Leben mit Freude und Erfüllung zu beginnen. Petra Urban macht Mut, dass wir aus dem Leid herauswachsen, stark werden und Flügel bekommen können.

Petra Urban studierte Germanistik und Philosophie, arbeitet als Schriftstellerin. Zu ihren Veröffentlichungen gehören erfolgreiche Romane, Erzählungen und Kurzgeschichten. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen und arbeitet auch als Dozentin für Literatur.

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Leseprobe

Atemlos I.

Die Lunge hat falsche Luft geatmet

es heißt eine neue Sprache finden.

— Rose Ausländer


Es war eine atemlose Zeit damals. Von seelischem Gleichgewicht keine Spur. Ich war nervös und unkonzentriert. Dazu so ungeschickt wie selten in meinem Leben. Bei einem Museumsbesuch meinte ich mein Schicksal in den Gemälden von Georg Baselitz zu entdecken, in seinen berühmten Umkehrbildern. Denn genau so kam ich mir vor: als hätte mich irgendwer am Kragen gepackt und kurzerhand auf den Kopf gestellt.

Schier alles, was ich anfasste, fiel mir aus den Händen. Ich weiß nicht, wie oft ich mich bücken musste, um irgendetwas aufzuheben, wie viele Male ich nach Handfeger und Kehrblech rannte, um zerschlagenes Glas oder Porzellan aufzukehren, und wie oft ich beim Essen aufsprang und zum Wasserhahn eilte, weil ich mich wieder einmal bekleckert hatte. Nichts, wirklich nichts schien damals sicher in meinen Händen. Und ich ärgerte mich maßlos über meine Missgeschicke, alle diese verpatzten Handgriffe, die nichts als Unmut und Unordnung in mein Leben brachten. Bisweilen fluchte ich so laut und böse, dass mich die Wucht meiner Worte regelrecht erschreckte. Dazu aber kam noch ein anderes, ungleich wesentlicheres Problem: Über Nacht hatte ich das Gefühl, nicht mehr richtig durchatmen zu können. Vor allem bei meinen Spaziergängen durch die Weinberge fiel es mir auf. Irgendetwas schien mir die Luft abzuschnüren. Beinah so, als hätte sich über Nacht eine Klammer um meinen Brustkorb gelegt, als würde etwas Unsichtbares ihn zudrücken.

Natürlich ging ich zum Arzt, genau genommen zu verschiedenen Ärzten. Und natürlich ließ ich allerlei Untersuchungen über mich ergehen. Schließlich ist die Atmung die wichtigste Funktion unseres Körpers, der Grundstoff unseres Lebens sozusagen, sprich Anfang und Ende.

Als Kind hatte ich eine Asthmatikerin miterlebt: Frau Müller, die Nachbarin meiner Großeltern auf dem Land. Eine lebenslustige Person in bunter Kittelschürze, die mich mit ihrer gleichbleibend guten Laune beeindruckt hat. Immer schwang ein Jubeln in ihrer Stimme mit. Und immer hat sie bei der Arbeit gesungen, im Haus und auch im Garten, beinah so, als wolle sie auf diese Art und Weise die Sorgengeister vertreiben. Später konnte sie nicht mehr singen. Nur noch lächeln und freundlich über den Zaun hinweg winken. Und noch später hat sie dann im Schlafzimmer gelegen, wo ich sie besuchen durfte und wo ich diese schrecklichen Erstickungsanfälle, dieses Kämpfen und Krampfen miterlebt habe.

Die Erinnerung an Frau Müller und ihre Krankheit zum Tode war es, die mich schließlich auch noch zu einem Lungenspezialisten führte. Am Ende aber blieben alle Untersuchungen ohne Befund. Ich hätte die Lunge einer Sportlerin, hieß es. Da war nichts, was meine Kurzatmigkeit erklärte. Und so lautete der Rat, den meine Hausärztin mir schlussendlich mit auf den Weg gab: Stress reduzieren. Das Leben ein wenig ruhiger und entspannter angehen.

Gemeinsam mit einer Freundin betrachtete ich meine vergangenen Wochen und Monate aus der Vogelperspektive. Gut, da waren einige private Turbulenzen gewesen, auch hatte sich das Karussell meiner Termine etwas schneller gedreht als gewöhnlich. Schließlich pendelte ich seit einiger Zeit zwischen zwei Städten hin und her. Aber stresste mich das? Nein. Ganz im Gegenteil. Mein randvolles, bewegtes Leben machte mir Spaß.

Etwas anderes musste mir den Atem rauben. Aber was? Ich hatte keine Ahnung. Und so oft ich mir die Frage auch stellte, ich fand keine Antwort. Grübelnd erforschte ich mein Innerstes, schenkte dem Thema jede Menge Aufmerksamkeit. Aber nichts. Weit und breit keine Antwort. Nur abgrundtiefes Schweigen.

Es war mir unerklärlich. Irgendetwas raubte mir die Luft, verschlug mir förmlich den Atem, und ich kam nicht darauf, was es sein könnte. Hilflos stand ich mir selbst gegenüber. Zutiefst verunsichert und zutiefst beunruhigt, weil im Lauf der Zeit auch noch üble Stimmungsschwankungen hinzukamen, und das mit einer Heftigkeit und Häufigkeit, wie ich sie lange nicht erlebt hatte.

Immer öfter sprach ich im Freundeskreis über das Thema »Atem«. Atem hat etwas mit Freiheit zu tun, erfuhr ich. Ja, und? Brachte mich das weiter?

Da ich als Literaturwissenschaftlerin davon überzeugt bin, dass von guten Worten eine gute Wirkung ausgeht, verordnete ich mir – neben regelmäßigen Entspannungsübungen, die ich mittlerweile machte – eine Portion Poesie. Lyrische Lebenshilfe sozusagen. Und ich wählte, was naheliegend war, Goethes berühmtes Gedicht von den »zweierlei Gnaden«:

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:

Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;

Jenes bedrängt, dieses erfrischt;

So wunderbar ist das Leben gemischt.

Du danke Gott, wenn er dich presst,

Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.

— Johann Wolfgang von Goethe


Ich las das Gedicht so oft, dass ich es bald schon auswendig aufsagen konnte. Und siehe da, die Verse wirkten anregend und inspirierend auf mich. Denn sie führten dazu, dass ich meinem Atem gegenüber aufmerksamer und achtsamer wurde, seinem Tempo und seinem Rhythmus nachspürte, seinem unermüdlichen Kommen und Gehen. Was im Umkehrschluss hieß, dass ich auch mir selbst gegenüber achtsamer und aufmerksamer wurde.

Goethe beim Wort nehmend, begann ich damit, meinem Schöpfer für dieses wunderbare Geschenk zu danken. Atem ist Leben und Leben ist Atem, ist ein Geschehen, »in dem ich mich rhythmisch ereigne«, wie es bei Rilke heißt. Mir fiel auf, dass der Atem, dieses Sinnbild des Lebens, mit Polarität zu tun hat. Ohne Einatmen kein Ausatmen. Ohne Spannung keine Entspannung. Ohne Leere keine Fülle. Das eine ohne das andere unmöglich. Das Leben demnach ein ewiger Wechsel, ein Spiel der Gezeiten, zweierlei Gnaden eben.

Da mir die poetische Beschäftigung mit meinem Atem wohltat, schaute ich mich schon bald nach neuen luftigen Worten um, stöberte in meinem Bücherregal herum und machte schließlich eine Entdeckung bei Rose Ausländer. »Im Atemhaus«, so der Titel eines Gedichts, das mir großartig zu passen schien.

Im Atemhaus

Unsichtbare Brücken spannen

von dir zu Menschen und Dingen

von der Luft zu deinem Atem

Mit Blumen sprechen

wie mit Menschen

die du liebst

Im Atemhaus wohnen

eine Menschblumenzeit

— Rose Ausländer


Das Wort »Atemhaus« gefiel mir. Nie zuvor hatte ich darüber nachgedacht, dass die Luft, die uns umgibt, dieses unsichtbare, vorzügliche Element, eine Art Haus sein könnte. Atemluft, die alles mit allem verbindet, die Beziehungen herstellt, unsichtbare Brücken spannt, von Mensch zu Mensch, von Tier zu Tier, von Pflanze zu Pflanze und immer so weiter – bis sie am Ende die ganze Schöpfung in einem riesigen Haus miteinander vereint. Atmend also sind wir in Kontakt mit der ganzen Welt. Atmend findet Berührung statt. Ein wirklich schöner Gedanke – der mich aber auch nicht weiterbrachte.

Zeit verging. Langsam geriet ich in Panik. Denn nach wie vor stellte ich mich so seltsam ungeschickt an. Und nach wie vor litt ich unter dieser verstörenden Atemlosigkeit und den Stimmungsschwankungen. Hinzu kam, dass ich bei allem, was ich tat, auf einmal das Gefühl hatte, mich beeilen zu müssen. Dabei gab es keinen Grund zu ständiger Eile, nichts und niemand hetzte mich, außer ich selbst eben. Und das tat ich gut.

Zum Glück mischte sich der Zufall, dieser göttliche Spaßvogel, in mein Leben ein. Weil mir – was nicht weiter verwunderlich war! – beim Aufräumen eines Schranks ein Karton aus der Hand gefallen war, hatte ich Fotos aufsammeln müssen, jede Menge über den Boden verstreute Fotografien. Dabei war ich auf eine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus Kindertagen gestoßen. Kopf an Kopf hockte ich neben meinem Bruder im Sand, hielt ein Brennglas in der Hand, geduldig wartend, dass die Strahlen der Sonne es endlich schaffen würden, das Stückchen Papier zu unseren Füßen zu entzünden.

Je länger ich das Foto betrachtete, umso klarer war die Botschaft, die ich darin entdeckte: Kräfte bündeln ... Zentrieren ... Geduld haben. Und mir fiel ein, was meine Hausärztin mir beim Abschied gesagt hatte: Ich solle mir eine Atempause gönnen.

A t e m p a u s e. Eine Empfehlung, über die ich bisher nicht weiter nachgedacht hatte. Jetzt war das anders. Jetzt gab ich ihr Recht. Ja, ich brauchte eine Pause zum Atmen. Eine Verschnaufzeit. Eine Auszeit. Und ich wünschte mir einen Ort der Beruhigung, der Langsamkeit. Einen Ort, der im Gegensatz zu mir über einen langen Atem verfügte. Einen Ruhestifter sozusagen, der mir die Möglichkeit schenken würde, in aller Seelenruhe auf die Stimme meines Körpers zu hören. Denn dass er mir etwas zu sagen hatte, davon war ich überzeugt.

Führe mich auf einen hohen Felsen

und schaffe mir Ruhe.

—  Psalm 61


»Führe«, heißt es so schön in diesem Psalm. Aber ich ließ mich nicht führen. Trotz meiner Entschlossenheit, mir eine Ruhepause zu gönnen, dauerte es noch eine geraume Zeit, bis ich meine Idee endlich in die Tat umsetzte.

Unglaublich geradezu, wie Theorie und Praxis im Leben auseinanderklaffen können. Obwohl wir genau wissen, was uns guttun würde, tun wir es nicht. Überhören die Ratschläge von Ärzten und guten Freunden, und, was das Schlimmste ist, überhören die Stimme, die in uns selbst spricht. Jene leise...

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