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Wie lässt sich die Inklusion von Kindern mit Behinderung fördern? Zu den Möglichkeiten des psychomotorischen (Frei-)Spiels in einer AHS-Integrationsklasse

AutorMatthias Bischoff
VerlagStudylab
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl127 Seiten
ISBN9783668197077
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Um österreichischen Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und/oder sonderpädagogischem Förderbedarf den Zugang in die Gesellschaft zu erleichtern, wurden vielerorts Integrationsklassen geschaffen, in denen sie gemeinsam mit nicht behinderten Schülerinnen und Schülern unterrichtet werden. Pädagogisches Hauptziel ist hierbei der Aufbau von gegenseitiger Wertschätzung, Verständnis und Respekt. Doch welche Methoden stehen Lehrenden im inklusiven Unterricht zur Verfügung, um diese Entwicklung zu fördern? Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem psychomotorischen (Frei-)Spiel im gemeinsamen 'Bewegung und Sport'-Unterricht einer AHS-Integrationsklasse. Der Autor verdeutlicht, wie das freie Spiel als verbindende und interaktionsfördernde Komponente lehrplanübergreifend und altersadäquat eingesetzt werden kann. Auch zeigt er, auf welche Weise Psychomotorik als kindzentrierte Entwicklungsförderung in der frühen Adoleszenz Anwendung findet. Neben theoretischer Auseinandersetzung mit entwicklungspsychologischen Grundlagen werden die unterschiedlichen Dynamiken des Spiels als solche, mit Schwerpunkt der Rolle des Spiels und des Spielraums in der Psychomotorik analysiert. Dem Lehrplan der Allgemeinbildenden Höheren Schule im Gegenstand Bewegung und Sport wird der Lehrplan der Schwerstbehindertenschule gegenüber gestellt und daraus verbindende Elemente bezüglich des Einsatzes des (freien) Spiels im Sinne eines lehrplanunabhängigen, interaktiven Miteinanders definiert. Schlussfolgerungen für die Praxis sowie exemplarische Beispiele für einen möglichen Einsatz des Psychomotorischen (Frei-)Spiels im gemeinsamen Turnunterricht einer Sekundarstufen-Integrationsklasse ergänzen die vorliegende Arbeit.

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Leseprobe

4. Psychomotorik in der Entwicklungsstufe der 10-14 Jährigen


 

4.1 Psychomotorische Förderung


 

4.1.1 Die Entwicklung der Psychomotorik von der Übungsbehandlung zur ganzheitlichen Entwicklungsförderung


 

Im deutschsprachigen Raum wurde die Psychomotorik von Kiphards psychomotorischer Übungsbehandlung geprägt. Dieser Ansatz von Kiphard findet sich auch heute noch in den meisten psychomotorischen Grundlagen, auch wenn diese mittlerweile psychomotorische Erziehung, Förderung oder Entwicklungsförderung sowie Motopädagogik genannt werden. Im Zentrum der psychomotorischen Förderung stehen die Gesamtpersönlichkeitsentwicklung und ihre Förderung. Die Psychomotorik dient hier als Mittel zur Entwicklung von Fähigkeiten zur Lösung sozialer Problemstellungen und Aufgaben sowie zur Entfaltung individueller Handlungsmöglichkeiten (Zimmer, 2012).

 

Ursprünglich hatte die Psychomotorik noch einen starken Übungscharakter, der sich aus den drei elementaren Bereichen der Wahrnehmung, der Bewegung und dem emotional-sozialen Bereich zusammensetzte. Zur Förderung dieser drei Elementarbereiche entwickelte Kiphard eine Vielzahl von Übungen, mit denen schwerpunktmäßig gearbeitet werden kann. Kiphard distanziert sich vom Funktionstraining, da er es nicht für kindgerecht hält und es sich nicht mit dem Ansatz der ganzheitlichen psychomotorischen Förderung vereinbaren lässt. Seine Palette an Übungen reicht von Wahrnehmungsübungen, Zirkusaktivitäten, Akrobatik und Clownspielen bis hin zu Übungen zur Haltungserziehung (Kiphard, 2001; Zimmer, 2012).

 

4.1.2 Psychomotorik und ihr handlungsorientierter Ansatz


 

Neben der Förderpraxis, als deren Begründer Kiphard gilt, entwickelte sich eine Richtung in der Psychomotorik, die als Grundlage der Handlungsfähigkeit eines Menschen die vielseitigen Bewegungs- und Wahrnehmungsmuster sieht. Schilling beschreibt in diesem Zusammenhang die Bewegungsentwicklung als Adaptationsprozess des menschlichen Organismus an die Gegebenheiten der Umwelt. Dies beruht auf dem Modell der Regelkreise, die die Wahrnehmung und das Sich-Bewegen in Zusammenhang mit den Umweltbedingungen als eine selbst regulierende biologische Einheit versteht. Welche Entwicklungsfortschritte ein Kind macht, kann durch Reifungsvorgänge, Lernprozesse und exogene Einflüsse bestimmt werden. Fertigkeiten werden durch das ständige Wiederholen und Verbessern der Bewegungen, die notwendig sind, um sich durch die Umwelt zu bewegen, erlernt und ausgebildet. Um Kindern eine Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen, sind Förderschwerpunkte vor allem in den Bereichen Wahrnehmung und Bewegung anzusetzen. Verhaltensprobleme bei Kindern basieren meist auf Bewegungsstörungen und der fehlenden Fähigkeit, sich an die Anforderungen der Umwelt anzupassen. Die Eigenaktivität des Kindes soll durch anregungsreiche und strukturierte Bewegungsangebote aktiviert werden. Diese werden so adaptiert, dass das Kind Erfolgserlebnisse verspüren kann. Darauf basierend stehen die Stärken und die individuellen Interessen im Vordergrund und nicht die Defizite der Kinder. Durch das spezielle Bewegungsangebot erlebt sich das Kind als handlungsfähig. Hier wird von einer Verbesserung der psychischen Ebene durch die Förderung des funktionell motorisch-physiologischen Bereiches ausgegangen. So würden Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung eine Auswirkung von Bewegungsstörungen darstellen (Schilling, 1978; Zimmer, 2012).

 

4.1.3 Psychomotorik versus sensorische Integrationsbehandlung


 

Die sensorische Integrationsbehandlung verfolgt ähnlich wie im Kapitel 0 beschriebener Ansatz, dass durch Beeinträchtigungen der Wahrnehmung die Gesamtentwicklung des Kindes gefährdet ist. Der Zusammenhang zwischen dem motorischen und dem sensorischen System spielt eine große Rolle. Können Sinneseindrücke nicht oder nur unzureichend verarbeitet werden, so kann dies Verhaltensauffälligkeiten, Lernstörungen und Entwicklungsprobleme bedingen. Jean Ayres (2002), bedeutende Vertreterin der sensorischen Integrationstherapie, verweist speziell auf den Zusammenhang des vestibulären, des propriozeptiven und des taktilen Systems in der Entwicklung eines Kindes. Sie fasst diese Sinne auf drei Grundsinne zusammen, wobei für sie der Gleichgewichtssinn das alles vereinende Bezugssystem darstellt. Problematisch ist eine fehlende Betrachtung des familiären Umfelds, der sozio-kulturellen Voraussetzungen sowie der individuellen Erfahrungswelten der Kinder. Hier wird das Kind als reagierendes Wesen betrachtet, den Sinn bekommen seine Handlungen durch die resultierenden Verarbeitungsprozesse im Gehirn und nicht durch das Kind selbst. Das Spiel wird hauptsächlich unter dem Aspekt der Anpassungsreaktion sowie der Reifung der Gehirnfunktionen betrachtet. Gelingt die sensorische Integration, hat dies Gefühle wie Motiviertheit, Selbstwertgefühl sowie Selbstvertrauen zur Folge. Gelingt diese nicht, treten Sprachstörungen und Ängstlichkeit auf. Den Ursprung hat die sensorische Integrationsbehandlung im medizinisch-naturwissenschaftlichen Bereich. Der Bereich der Wahrnehmung und dessen Förderung nehmen jedoch auch in der psychomotorischen Förderung einen immer wichtigeren Teil ein (Zimmer, 2012).

 

4.1.4 Psychomotorik – kindzentrierte Entwicklungsförderung


 

In der psychomotorischen Förderung wird versucht mithilfe der beiden wichtigen Medien – Bewegung und Spiel – Kindern zu einer positiven Einschätzung ihrer Person zu verhelfen und einen Zugang zu ihnen zu finden. Die Psychomotorik sieht sich hier als Hilfe zur Selbsthilfe. Im Zentrum steht die positive Veränderung der Selbstwahrnehmung des Kindes und nicht die Förderung motorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das Kind wird in der psychomotorischen Förderung ermächtigt, selbst an seinen Schwächen zu arbeiten um mit nicht veränderbaren Einschränkungen leben zu lernen. Diese Ermächtigung erhält das Kind durch die Stärkung seines Selbstwertgefühles. Der / die Erwachsene nimmt hier die Rolle des Begleiters ein, der von außen das Kind wertschätzt und seine Handlungen so kommentiert, dass die positive Verstärkung beim Kind nicht vom Lob und der Bewertung des Erwachsenen ausgeht, sondern von der Sache selbst. Essentiell für die Identitätsentwicklung werden in der Psychomotorik die Körper- und Bewegungserfahrungen gesehen, die für eine Aneignung der Wirklichkeit notwendig sind. Der Aufbau eines positiven Selbstkonzeptes ist damit die zentrale Aufgabe (Zimmer, 2012).

 

4.1.5 Psychomotorik – ein verstehender Zugang


 

In dieser Richtung der Psychomotorik wird die Bewegung des Kindes als Ausdrucksmittel gesehen. Das Bewegungsverhalten des Kindes wird ins Zentrum gerückt. Durch symbolisierte Handlungen teilt sich das Kind mit. Die Bewegungsgeschichte wird der Lebensgeschichte gleichgesetzt, wodurch Einblicke in die Lebensgeschichte eines Kindes gewonnen werden können. Erlebnisse und Erfahrungen werden im Spiel nachgestellt und aufgearbeitet, was als großer Heilfaktor gesehen wird. In diesem Ansatz stehen also nicht die Dinge, wie Geräte, auf denen motorische und sensorische Erfahrungen gemacht werden können, im Vordergrund, sondern die Fantasietätigkeit, die das Kind in Spielsituationen erwecken kann. Bewegt sich ein Kind, dann erfolgt dies meist in Fantasiegeschichten oder Bildern sowie in ganzen Inszenierungen. Kinder stellen in diesen Geschichten ihre Lebensthemen nach und bewegen sich darin. Kinder arbeiten diese Lebensthemen nach verschiedenen Kriterien auf. Eines der Lebensthemen sind die Erfahrungen, die ein Kind in seiner frühen Kindheit nicht oder nicht lange genug gemacht hat und diese nun im Rahmen von Bewegungsangeboten nachholt und aufarbeitet. Ebenso entwirft das Kind Rollen von sich und probiert diese aus. Tauscht ein Kind seine Rollen, ermöglicht dies Wünsche, Hoffnungen und Ängste auszudrücken. Im Spiel ist es dem Kind weiters möglich, Bilder, die aus seiner Umwelt auf es einströmen, nachzuspielen und so auf seinen eigenen Erlebnishorizont zu übertragen. Mit dieser Betrachtungsweise kann die Bedeutung des Handelns direkt berücksichtigt werden. Sowohl der Sinn als auch das Spiel wird hinterfragt und beleuchtet, auch auftretendes störendes Verhalten bekommt hier den nötigen Platz. Dies verhilft dem Kind seine Probleme zum Ausdruck zu bringen, um von seiner Umwelt gehört zu werden. Um dies gemeinsam aufzuarbeiten, ist es notwendig das Kind, seine Lebens- und Verhaltenszusammenhänge und die Botschaften, die es zum Ausdruck bringt, zu verstehen. Eine Gefahr kann bei dieser Betrachtungsweise eine Überinterpretation der kindlichen Handlungen sein. Aggressive Handlungen können auch durch aktuelle Ereignisse in der Gegenwart ausgelöst werden und müssen ihren Ursprung nicht immer nur in der frühen Kindheit haben (Zimmer, 2012).

 

4.1.6 Psychomotorik – ein systemisch-konstruktivistischer Zugang


 

Ende der 1990er erhielt in der Pädagogik und Psychotherapie eine Strömung zunehmend an Bedeutung, die sowohl Sichtweisen der Systemtheorie als auch des Konstruktivismus enthält. Diese Strömung geht davon aus, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt. Die Wirklichkeit wird von jedem Menschen selbst geschaffen. Zuschreibungen...

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