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E-Book

Worte der Kindheit

Von 1950 bis 2000

AutorNorbert Golluch
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783745302486
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Oft braucht es nur ein Wort und wir fühlen uns wieder in unsere Kindheit versetzt. Für den einen ist es der 'Vokuhila', der unangenehme Erinnerungen daran weckt, dass diese peinliche Trendfrisur nicht an ihm vorbeigegangen ist, für den anderen der Satz 'Ich kauf mir 'ne Wundertüte', der an unsere kindliche Freude über die bunten Überraschungen in Form von Bonbons, Spielzeug oder Schmuck denken lässt. Worte der Kindheit enthält eine Sammlung von typischen Ausdrücken der Jahre 1950 bis 2000, von denen sich manche zu Klassikern entwickelt haben, während andere in Vergessenheit geraten sind. In unterhaltsamen Texten nimmt Norbert Golluch uns mit auf eine Reise in die Vergangenheit.

Norbert Golluch, geboren 1949, arbeitete zunächst als Grundschullehrer, bevor er sich nach einigen Jahren als Redakteur einer Satire-Zeitschrift und Verlagslektor als Autor selbstständig machte. Zu seinen zahlreichen Bestsellern gehören zum Beispiel 555 populäre Irrtümer und Das Survival-Handbuch für Lehrer. Norbert Golluch wohnt und arbeitet im Bergischen Land in der Nähe von Köln.

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Leseprobe

1950–1959


Die schweren 40er-Jahre lagen hinter deinen Eltern und der Zweite Weltkrieg war noch ein Teil der jüngeren Vergangenheit, als du auf die Welt kamst. Königin Elisabeth II. bestieg den Thron, die erste Wasserstoffbombe brachte eine neue Bedrohung in die Welt und das »Wunder von Bern« verhalf den Deutschen zur Fußballweltmeisterschaft. Im Fernsehen lief Was bin ich?, das heitere Beruferaten mit Robert Lembke, Rock-’n’-Roll-Star Elvis Presley und die Barbiepuppe kamen in die Bundesrepublik, der eine als Soldat der US-Army, die andere als Spielzeug ins Kinderzimmer. In der DDR regierte Walter Ulbricht. Wenn du Glück hattest, warst du Kind in einem Jahrzehnt des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders zwischen den Ruinen der Vergangenheit und den Hoffnungen auf eine großartige Zukunft.

»Man leckt das Messer nicht ab!«


Manieren bei Tisch waren besonders in der Nachkriegszeit wichtig. Vieles war noch alles andere als normal, da sollte wenigstens bei der familiären Mahlzeit Ordnung herrschen. Tischmanieren, so sagte man sich, sind für das ganze Leben wichtig. Wer als Bewerber für einen Arbeitsplatz beim Essen mit dem Personalchef Senf auf die Krawatte kleckert oder die Suppe aus dem Teller schlürft, hat schlechte Karten. Vielleicht war das gemeinsame Essen der Familie auch deshalb so mit Merksätzen zugepflastert, die sich den Kindern fürs Leben einprägen sollten. Das klappte tatsächlich, denn sie wurden endlos wiederholt. Manche davon hatten ursprünglich auch einen Sinn: »Kartoffeln schneidet man nicht mit dem Messer!« war so lange eine wichtige Regel, wie die Tafelmesser aus weichem Eisenmetall bestanden, das beim Kontakt mit Kartoffeln oxidierte und dunkel anlief. Edelstahlmesser machten diese Regel überflüssig – dennoch blieb sie lange Zeit erhalten. Anderes bleibt zeitlos gültig: Das Messer leckt man nicht etwa deshalb nicht ab, weil man sich in die Zunge schneiden könnte – es sieht einfach eklig aus. Ähnliche Kampfansagen an das schlechte Benehmen: »Man isst nicht mit den Fingern!« Von gewissen Ausnahmen einmal abgesehen, gehört der direkte Zugriff auf die Nahrung eher in Urwald und Steppe als an den gedeckten Tisch. »Mit vollem Mund spricht man nicht!« Empf hömpft söch eimmpfach ummöphlich am.

Manche Regeln sind auch komplexer und deshalb kennt sie nicht jedes Kind, weil sie nur in der großbürgerlichen Familie beachtet wurden: »Führe nicht den Kopf zum Essen, sondern das Essen zum Kopf.« Wie gesagt, man schlürft die Suppe nicht aus dem Teller. Mehr aus dem alltäglichen Bereich scheint der folgende Satz zu stammen: »Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!« Nein, Mutti mochte es nie, wenn man sich über ihre Kochkünste beklagte, zumal in diesen kargen Zeiten oft nur die Auswahl zwischen Spinat und Grünkohl zur Verfügung stand. Über das angebotene Gericht zu maulen ist aber auch in unseren Tagen ungünstig, wenn du dich um die Stelle des Oberbezirkshanswurst beim Fachverband Hotel und Luxus bewerben willst. Ein Mal »Igitt, Austern!« und du bist draußen. Auch Sushi findest du eklig, bäh, roher Fisch? Kein Platz für dich in unserer Werbeagentur! Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!

»Dich haben sie ja wohl mit dem Klammerbeutel gepudert!«


Ältere Menschen erinnern sich mit verklärtem Lächeln an das Geschehen in ihrer Kindheit. Jüngere fragen: Hä? Was bitte ist denn ein Klammerbeutel? Und wieso kann man jemanden damit pudern? Fragen der jüngeren Generation, die zu beantworten nicht ganz einfach ist. Ein Klammerbeutel oder -sack enthält nicht etwa Sonderzeichen, sondern Wäscheklammern. Früher pflegte man Wäsche auf der Leine zu trocknen (nicht im Trockner). Da dies manchmal draußen – zum besseren Verständnis outdoor – geschah, bestand die Gefahr, dass der Wind die Wäschestücke von der Leine wehte und so nicht nur die ganze Arbeit des Waschens zunichtemachte, sondern auch die gesamte Nachbarschaft mit interessanten Informationen zum Beispiel über deine Unterwäsche oder den Zersetzungsgrad deiner Socken versorgte. Um dies zu verhindern, hatte man in der Vergangenheit einfache mechanische Hilfsmittel erfunden, um Wäschestücke an der Leine zu fixieren: Wäscheklammern eben. Diese wurden in einem textilen Sack aufbewahrt, der einem anderen solchen, der ebenfalls in einer jungen Familie Verwendung fand, nicht unähnlich sah: dem kleinen Beutel, in dem sich Babypuder befand. Hatte man das Baby von seinen Hinterlassenschaften gereinigt, wurde es zur Hautpflege gepudert – klopf-klopf, mit dem Säckchen, durch dessen Poren das feine Puder drang. Und wenn man dabei versehentlich nicht das mit dem Puder, sondern das mit … na, gerafft?  … Klammern erwischte, konnte es geschehen, dass das geliebte Kleinkind deutlichen Schaden nahm. So zumindest in der Vorstellung, denn dass ein Kind, auf das man mit Wäscheklammern klopft, wirklich ernsthaften geistigen Schaden nimmt, ist zu bezweifeln. Schlimmstenfalls gibt es blaue Flecken. Dennoch steht der obige Satz quasi als Redewendung für die Unterstellung, jemand sei nicht ganz da – bei voller geistiger Gesundheit. Wenn dir allerdings diese Geschichte zu weit hergeholt erscheint (wie dem Autor gerade auch, wenn er recht darüber nachdenkt), wäre da noch die alternative Formulierung: »Dich haben sie wohl zu heiß gebadet!« Und dieser Satz muss wohl gar nicht erklärt werden.

»Ich zieh dir den Hosenboden stramm!«


Körperliche Strafen waren für Kinder jener Tage nichts Besonderes. Eltern meinten ihren erzieherischen Bemühungen mit Ohrfeigen, der Hand auf dem Hinterteil, aber auch mit Kochlöffel und Teppichklopfer Nachdruck verleihen zu müssen. Mancher besonders gewalttätige Vater nutzte auch seinen Ledergürtel zu diesem Zweck. Dabei wurde oft systematisch bestraft, nicht nur mit einer spontanen kleinen Ohrfeige oder Kopfnuss, sondern regelrecht vorbereitet in Form eines familiären Strafrituals. Dazu gehörte es, den Stoff der Bekleidung über dem Hinterteil glattzuziehen – kein Faltenwurf sollte die Wucht der Schläge abmildern. Heute würde man vielfach Kindesmisshandlung nennen, was damals ablief, denn die geprügelten Kinder schleppten diesen schmerzhaften Ausdruck elterlicher Verachtung oft durch ihr ganzes Leben. Ein schlagender Vater, eine ohrfeigende Mutter waren für viele die Ursache für ihre persönliche Unsicherheit, einen allgemeinen Vertrauensschwund gegenüber der Welt, für mangelndes Selbstbewusstsein oder sogar Depressionen. Wer mit Trotz reagierte, konnte von Glück sagen. Prügel? Pah, ihr könnt mich mal! Ausgesprochen wurde dieser Satz jedoch nie.

»Wir treffen uns an der Bude!«


Onlineverabredungen lagen noch in weiter Ferne, meist machte man ein Treffen mit Freunden für den Nachmittag auf dem Heimweg von der Schule ab. Die »Bude« war ein beliebter Treffpunkt, weil Kinder in den frühen 50er-Jahren auf Trümmergrundstücken alles fanden, was sie benötigten, um sich irgendwo einen abenteuerlichen Unterschlupf zu bauen und darin zu spielen. Andere trafen sich zum Turnen an der Teppichstange auf dem Hof oder irgendwo auf dem Gelände einer aufgelassenen Fabrik, wenn sie ein Loch in Mauer oder Zaun entdeckt hatten. So wurden großartige Nachmittage programmiert: Erlebnisqualität überragend, Freiheitsgefühl kaum zu beschreiben.

»Fall nicht rein!«


Wo hinein? In das Plumpsklo natürlich – darüber ließen sich ganze Romane schreiben. Noch sehr viele Menschen mussten sich damals mit dieser urtümlichen Form der Fäkalienentsorgung behelfen, das Plumpsklo befand sich auf dem Bauernhof praktischerweise gleich neben dem Misthaufen. Bei uns lag der Fall anders – entschuldige, lieber Leser, wenn ich hier in sehr persönlicher Form über eigene Erfahrungen berichte, denn schließlich geht es ja um ein geradezu intimes Problem. Wenn also ein gewisser Junge im Alter von fast sechs Jahren ein menschliches Drängen verspürte, so folgte er den Spuren seiner Väter, die schon vor ihm diesen Weg gegangen waren, hinaus aus der Wohnung in der backsteinroten Arbeitersiedlung in der Margarethenstraße, hinüber über den Platz zwischen zwei Wohnblöcken, hinein in einen winzigen Verschlag, verschlossen durch eine fahlgrüne Tür aus verwitterten Brettern. Dieser Weg endete stets mit einer Drehung um 180 Grad, mit dem Fallenlassen der Hosen, dem Öffnen eines kreisrunden Lochs durch Entfernung eines ebenso kreisrunden Deckels aus Holz, welches genau so groß und exakt so platziert war, dass ein nun nackter Kinderpopo es nahezu hermetisch verschloss, sobald man sich setzte. Die Gefahr hineinzufallen bestand also nicht. Umschlungen von Duftwolken aus der Tiefe, in deren Aroma sich – trotz der regelmäßigen Leerung der Fäkaliengrube alle paar Monate – vermutlich auch noch Duftkomponenten seiner Ahnen und Urahnen mischten, ließ nun der Knabe erleichtert unter sich fallen, was sein Körper nicht mehr benötigte. Es konnte sein, dass im selben Augenblick in dem ebenso dimensionierten zweiten Verschlag neben dem beschriebenen jemand anderes exakt derselben Tätigkeit nachging oder auch gegenüber auf der anderen Seite des Hofes, wo genau von Angesicht zu Angesicht zwei weitere derartige Örtlichkeiten des Nachbarhauses zur Linken die des anderen Wohnblocks anblickten.

Nun hätte man meinen sollen, dass der Besucher eines solchen Ortes nichts eiliger zu tun gehabt hätte, als diesen...

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