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Wozu nach den Sternen greifen, wenn man auch chillen kann?

Die große Orientierungslosigkeit nach der Schule

AutorUlrike Bartholomäus
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783827079855
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Die große Orientierungslosigkeit nach der Schule ist ein Massenphänomen: Junge Erwachsene, ob mit Einser-Abitur oder weniger glanzvollen Abschlüssen, sind nach der Schule blockiert. Statt mit wehenden Fahnen ins Leben zu starten, fühlen sie sich unfähig zur Entscheidung - für die richtige Ausbildung, den richtigen Beruf. Es wird gelitten, gestritten und viel gechillt. Ulrike Bartholomäus erzählt anschaulich und mitunter nicht ohne Komik von den Dramen, die sich in den Familien abspielen. Die Wissenschaftsjournalistin recherchiert bei Pädagogen, Ärzten und Wissenschaftlern, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Sie hat zahlreiche junge Menschen, die länger für ihre Orientierungsphase gebraucht haben, begleitet. Sie haben für dieses Buch auch Gespräche mit Gleichaltrigen geführt. Die Autorin liefert damit das Porträt einer Generation zwischen Gap year, Sinnsuche, langwieriger Studienfachfindung, Verweigerung und Aufbruch ins Unbekannte. Eine lebensnotwendige Lektüre für alle Eltern, die nichts sehnlicher wünschen, als ihr Kind in die Selbständigkeit zu entlassen.

Ulrike Bartholomäus, geboren 1965, arbeitet als Wissenschaftsjournalistin und schreibt über die Themen Medizin, Politik und Kommunikation. Sie war als Redakteurin für 'Focus' im Ressort Forschung tätig und arbeitet heute als Autorin für verschiedene Medien. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie hat eine 19-jährige Tochter und weiß, wovon sie spricht.

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Leseprobe

Einleitung


Eine blockierte Generation?

Ein Grillabend bei Freunden in Hamburg. Das Wetter ist grandios, die Steaks brutzeln neben einem von der Dame des Hauses fein kuratierten Sortiment aus Biowürstchen ihrem optimalen Garpunkt entgegen. Susanne meldet sich zu Wort, will wissen, was denn nun mit der Tochter von Helmstedts ist. »Nina hat doch letztes Jahr Abitur gemacht, oder? Was macht sie denn jetzt?«

Das ist das Stichwort für Rainer. Ninas Vater streckt kurz den Rücken durch und knallt eine Antwort raus, noch bevor seine Frau einatmen kann: »Sie ist arbeitslos.« Die Worte wirken wie ein Torpedo. Stille in der Runde. Gundula Helmstedt, alarmiert, übernimmt: »Na ja, sie weiß noch nicht so genau, was sie machen will. Sie nimmt sich gerade ihr Gap Year.«

Allgemeines Nicken bei der Grillgemeinde. Thomas weiß zu berichten, dass sein ältester Sohn seit seinem Abitur vor 15 Monaten nicht eine einzige Bewerbung rausgeschickt hat. »Er jobbt jetzt im Schuhgeschäft, spezialisiert auf teure Sneaker.« Thomas’ Frau ergänzt schulterzuckend: »Er meint, mit Sportschuhen kenne er sich bestens aus. Der Job sei mega.«

Noch ehe sich Ratlosigkeit breitmachen kann, setzt Ninas Vater noch einen drauf: »Na, immerhin arbeitet er. Nina tut den ganzen Tag nichts – außer duschen und ins iPhone starren.«

Die Würstchen und Steaks scheinen fertig, alle greifen zu. Das Fleisch ist von außen perfekt angegrillt, aber innen noch lange nicht durch. Ein bisschen wie der Entwicklungszustand der Kinder, denkt sich Susanne, sagt aber lieber nichts.

Stotternder Start ins Leben

Die große Orientierungslosigkeit nach der Schule ist ein Massenphänomen: Junge Erwachsene sind nach der Schule blockiert. Sie tauchen nicht ein ins Leben, sondern fühlen sich unfähig zur Entscheidung für den richtigen Beruf, die richtige Ausbildung, das richtige Studium. Es wird gelitten, gestritten und viel gechillt. Die Eltern verzweifeln; die Jugendlichen auch – sie fühlen sich schuldig. Natürlich wünschen sich die Eltern, dass ihre Kinder nach dem Schulabschluss und spätestens mit der Volljährigkeit selbstständig sind und sie einen Großteil der Verantwortung abgeben können.

Doch bei vielen Jugendlichen stellt sich diese Autonomie, die Ziel jeder Erziehung ist, nicht ein, da sind sich Universitätsdozenten, Berufsschullehrer und Eltern einig. Ganz im Gegenteil: Ohne die äußere Struktur durch die Schule fallen sehr viele junge Erwachsene erst einmal in ein Loch.

Viele Abgänger wissen nicht, welchen Beruf sie ergreifen sollen, welche Begabungen sie auszeichnen, und letztlich wissen sie nicht, wer sie sind. Ein Symptom dieser Orientierungslosigkeit ist die hohe Studienabbrecherquote, die das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) in Hannover verzeichnet. Demnach bricht jeder dritte Student sein Studium ab. Besonders dramatisch sieht es bei den Ingenieurwissenschaften aus: Hier schmeißt jeder Zweite hin.

Bei den Ausbildungen zeigt sich ebenfalls ein Trend zum Abbrechen. Ein Viertel aller Lehren wird vorzeitig beendet. Die Quote bei besonders schlecht bezahlten Ausbildungen wie Friseuren oder Sicherheitspersonal liegt sogar bei 50 Prozent. Einige Auszubildende wechseln allerdings nicht aufgrund ihres unklaren Berufswunsches, sondern weil ihnen bessere Alternativen und viele offene Stellen gegenüberstehen. Warum sich ausbeuten lassen, wenn eine gute und besser bezahlte andere Ausbildungsstelle lockt?

Bei der letzten Inspektion meines Autos sah ich ein Schild am Tresen der Werkstatt prangen: »Mechatroniker gesucht, 300 Euro Belohnung!«

»Wie lange hängt das Schild denn schon?«, will ich vom Werkstattmeister meines Vertrauens wissen.

»Zwei Monate.«

»Und wie viele haben sich gemeldet?«

»Keiner. Kürzlich hat hier der Sohn meiner Freundin mit der Ausbildung angefangen. Aber nach kurzer Zeit wechselte er zu Mercedes. Die Industrie zahlt ihm in seiner Ausbildung deutlich mehr, als wir ihm hier bieten können.«

 

Zu den Hauptgründen für ein abgebrochenes Studium zählt vor allem die eigene unzulängliche Leistung: Jeder Dritte scheitert an den Anforderungen der ersten Semester. Fast jedem Fünften fehlt es an Selbstmotivation. Knapp jeder Sechste sieht sich an einer Hochschule ohnehin fehl am Platz und möchte lieber eine Ausbildung machen.

Der Shell-Studie »Jugend 2015« zufolge ist die Orientierungslosigkeit der Schulabgänger der Grund, warum der Übergang in den Beruf heute nicht mehr reibungslos klappt. Ein Viertel der Abgänger ist von vornherein davon überzeugt, den gewünschten Beruf nicht ergreifen zu können. Lustloses Herumsuchen nach Alternativen ist die Folge. Jeder zweite Schulabsolvent hat Angst davor, dass seine Freizeit aufgrund der Berufstätigkeit eingeschränkt wird. »Unsere Generation hat nicht auf dem Schirm, dass es ein Privileg ist, überhaupt studieren zu können«, sagt der 19-jährige Leo aus Trier.

Zur Orientierungslosigkeit trägt auch bei, dass mit dem Eintritt ins Studium oder in den Job Anspruch und Wirklichkeit aufeinanderprallen. So ist es drei Viertel der Jugendlichen beispielsweise wichtig, dass sich ihre Arbeitszeit an ihre Bedürfnisse anpassen lassen sollte. Der Arbeitsmarkt hingegen sucht bislang motivierte Vollzeitkräfte. Das ändert sich allerdings gerade. Denn wer einen hoch motivierten, begabten Vertreter der Generation Z dauerhaft halten will, gibt ihm am besten einen Laptop, ein Smartphone und ein dehnbares Gleitzeitkonto. Dann laufen sie zur Höchstleistung auf. Viele Start-ups haben das schon begriffen.

Ein prominentes Beispiel dieses Übergangsdilemmas ist »Hannah Horvard«, Hauptfigur in der preisgekrönten US-Serie »Girls« von Lena Dunham. Die Filmproduzentin, Drehbuchautorin und Schauspielerin spielt sich darin zu großen Teilen selbst. Nach der Schule schlägt sie sich mit unbezahlten Praktika in New York durch, pflegt ihre Neurosen, erkundet ausgiebig ihr Sexleben und versucht sich nebenbei an kreativem Schreiben – natürlich auf Kosten von Mama und Papa. Diese haben, so erzählt Teil eins der 62-teiligen Serie, die langwierige Findungsphase ihrer Tochter zunächst großzügig finanziert. 1500 Dollar im Monat sind in New York schließlich schnell durchgebracht. Der große Schock erreicht Hannah, als ihre Eltern ihr eines Abends in einem Restaurant eröffnen, dass sie ihr ab sofort den Geldhahn zudrehen.

Willkommen im Leben, heißt es für Hannah. »Girls« machte Lena Dunham, die zum Start der Serie 2012 Mitte zwanzig war, weltweit bekannt und bescherte ihr großen Erfolg. Die ins Leben strauchelnden Twenty-somethings ihrer Drehbücher trafen den Nerv der Zeit: Junge Frauen, die zwar große Ambitionen haben und etwa Schriftstellerin oder Journalistin werden wollen, aber niemanden finden, der sie auch dafür bezahlt. Dazu Eltern, die nicht an das Talent ihres Nachwuchses glauben. Junge Männer, die gern mit diesen Frauen zusammen sind, aber sich auf keinen Fall festlegen wollen auf eine Beziehung, die den Namen verdient.

Es gibt einen interessanten Unterschied zwischen Jungen und Mädchen dieser Generation. Unter den jungen Frauen lassen sich viele mit einem ungeheuer anspruchsvollen Lebensentwurf ausmachen. Sie wollen alles und damit das Unmögliche: einen hohen Bildungsstand, viele soziale Kontakte, eine sinnvolle Berufstätigkeit sowie Vereinbarkeit von Beruf und Familie und viel Geld. Und zwar sofort. Sie träumen von einer App, mit der sie ihr Leben herunterladen können, natürlich individuell konfigurierbar. Man könnte ein Leben ausprobieren, berufliche Laufbahnen einschlagen, Leute treffen und mit allen Optionen herumspielen. Wenn es einem nicht mehr gefällt, drückt man delete. Alles kostenlos, folgenlos.

Bei den jungen Männern geben sich einige eher betont cool und distanziert, wenn sie nach ihren Berufsvorstellungen gefragt werden. »Selbst im Gespräch mit Gleichaltrigen ist es schwer, ein klares Feedback zu bekommen«, sagt Leo, der nach einem Jahr Jobben mit einem Psychologiestudium in Trier begonnen hat. Die Reaktion auf die Frage der Eltern, was sie denn einmal werden wollen, lautet nicht selten »Entspann dich«. In Wahrheit fühlen sie sich verunsichert und überfordert. Folgen sie dem Vorbild von Papa (hart arbeitender Mittelstand), werden sie YouTuber oder gleich Gründer? Welche Start-up-Idee ist der nächste »heiße Scheiß«?

 

Nun gibt es eine Schwierigkeit, über Jugendliche in der Phase der Orientierung oder der Orientierungslosigkeit zu recherchieren. Man muss zum Naturforscher werden und sich auf eine Expedition mit ungewissem Ausgang einlassen; denn diese Wesen sind wie Schneeleoparden: meist in Deckung und stets auf der Flucht.

Es schien mir unumgänglich, Jugendliche selbst sprechen und an diesem Buch mitarbeiten zu lassen, denn wer erklärt Eltern besser, in welcher Situation sich ihre heranwachsenden Kinder befinden, als Letztere selbst. Das Vorhaben umzusetzen, entpuppte sich jedoch als weitaus schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Denn eines haben diese jungen Menschen gemein: Sie sind nicht greifbar. Man sieht zwar von weitem die Nebelschwaden vorüberziehen; doch kaum nähert man sich, um ihre Zukunftspläne zu erhaschen, verflüchtigen sie sich.

Zunächst einmal hält sich ein nicht unerheblicher Teil dieser Spezies in Australien oder Asien auf. Die anderen sind noch im Lande, aber schwer erreichbar. Schickt man eine E-Mail, antworten sie nicht; oder erst nach Tagen, Wochen, Monaten. Ruft man sie an, gehen sie nicht ans Telefon. Mit etwas Glück produzieren sie mit einem Fingertipp auf ihr Smartphone ein »Ich kann gerade nicht sprechen«.

Überhaupt, telefonieren – für viele dieser Spezies die Höchststrafe. Besser also per WhatsApp. Verabrede ich einen...

Blick ins Buch

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