Die Grundanliegen und Ziele der Bilanzpolitik sind im Grunde genommen unabhängig von der Rechnungslegungskonzeption, weil Unternehmen weltweit eine Optimierung der Vermögens- und Kapitalstruktur sowie einen bestmöglichen Erfolgsausweis anstreben. Allerdings erfolgt die Festlegung von konkreten Einzelzielen in Abhängigkeit des jeweiligen Rechnungslegungssystems,[141] da die Bilanzpolitik stets „im Spannungsfeld der Jahresabschlussaufgaben“[142] steht.
Die bilanzpolitischen Ziele lassen sich in zwei Primärbereiche einordnen. Zum einen werden in der einschlägigen deutschsprachigen Literatur finanzpolitische Ziele genannt,[143] die sich wiederum in weitere Unterziele abgrenzen lassen. Zum anderen erfolgt die zweite Einordnung nach publizitäts- bzw. informationspolitischen Zielen.[144] Nachrangig wird im Schrifttum auch nach den individuellen Zielen der betrieblichen Entscheidungsträger unterschieden.
Die zentrale Funktion des IASB liegt in der Vermittlung von entscheidungsrelevanten Informationen, sodass die IFRS Bilanzpolitik primär an publizitätspolitischen Bestrebungen ausgerichtet ist.[145] Um die publizitätspolitischen Bestrebungen bilanzpolitisch umsetzen zu können, müssen regelmäßig finanzpolitisch determinierte Zielgrößen in Anspruch genommen werden, sodass auch die Finanzpolitik beim IFRS-Abschluss Anwendung findet.[146]
Die folgende Abbildung zeigt die erläuterte Zielausrichtung noch einmal zusammenfassend in einer grafischen Darstellung:
Abbildung 7: Grundanliegen der Jahresabschlusspolitik
Quelle: eigene
Finanzpolitik soll die Zahlungsfähigkeit sowie andere finanzielle Anforderungen aus anderen Teilbereichen eines Unternehmens sicherstellen.[147] Bilanzpolitisch tritt die Finanzpolitik als Instrument zur Steuerung des Mittelabflusses und zur Optimierung der Vermögens- und Kapitalstruktur auf.[148] Weiterhin ist eine Abgrenzung der Finanzpolitik nach einer Innen- und Außenfinanzierung möglich.
Die Erfolgsentstehungs- und Ausschüttungsziele werden der Innenfinanzierung eines Unternehmens zugeordnet. Dabei wird generell zwischen der gewinnermittlungs- und gewinnverwendungspolitischen Zielsetzung unterschieden.[149] Die Gewinnermittlungspolitik ist auf die materielle Gestaltung der Höhe des Jahresabschlusses ausgerichtet (Erfolgsentstehungsziel), wobei die Gewinnverwendungspolitik die Absicht verfolgt, die Ausschüttung oder Einbehaltung des ausgewiesenen Gewinns zu steuern (Ausschüttungsziel).[150]
In den vorigen Kapiteln wurde bereits mehrmals erwähnt, dass ein IFRS-Abschluss aus rein informationspolitischen Gründen erstellt wird, d. h., es entsteht keine unmittelbare Einkommensbemessungsfunktion und somit werden die Erfolgsentstehungs- und Ausschüttungsziele häufig als nicht relevant angesehen.[151] Allerdings ist die Einkommensbemessungsfunktion in einem IFRS-Abschluss nicht ganz auszuschließen, da Tantiemen oder andere gewinnabhängige Vergütungen daran gekoppelt sein könnten.[152] Weiterhin werden Anteilseigner die erwartete Höhe der Ausschüttung vom ausgewiesenen Erfolg ableiten, sodass man faktisch eine Ausschüttungsbemessungsfunktion annehmen kann.[153]
Die Vorschriften des IASB erlauben eine Rücklagenbildung, indem bereits ausgewiesene Gewinne nicht ausgeschüttet werden. Allerdings muss ein Unternehmen gewisse Voraussetzungen erfüllen, die es erlauben, Teile des Ausschüttungspotentials zu blockieren. Beispielsweise können durch Zuführungen offene Rücklagen gebildet werden, die eine Ausschüttung verhindern. Die IFRS-Vorschriften sind, im Gegensatz zum handelsrechtlichen Einzelabschluss, nicht in das deutsche Aktienrecht eingebettet. Nach § 58 Abs. 2 AktG können bis zu 50 % des Jahresüberschusses in die Gewinnrücklagen eingestellt werden. Vor diesem Hintergrund spielen die bilanzpolitischen Möglichkeiten der Rücklagenbildung nach der IFRS-Rechnungslegung wohl keine große Rolle.[154]
Ingesamt lässt sich feststellen, dass beim IFRS-Abschluss keine unmittelbare Erfolgsentstehungs- und Ausschüttungsziele sowie Einkommensbemessungsfunktionen bestehen, aber im weiteren Sinne können diese durchaus ihre Anwendung finden.
Im handelsrechtlichen Einzelabschluss fließen i. d. R. steuerpolitische Zielsetzungen in den Jahresabschluss ein.[155] Aus dem Steuerrecht wird das Maßgeblichkeitsprinzip abgeleitet, welches bei der Erstellung einer Einheitsbilanz Anwendung findet. Durch die Verbindung der handels- und steuerrechtlichen Rechnungslegung nach HGB kommt den bilanzpolitischen Zielen, die Steuerhöhe zu beeinflussen, eine elementare Bedeutung zu.[156] Im IFRS-Abschluss ist keine Steuerbemessungsfunktion kodifiziert, sodass der Bilanzierende keine gezielte steuerpolitische Bilanzpolitik betreibt.[157] Diese Unterscheidung zwischen beiden Rechnungslegungssystemen macht deutlich, dass die Steuerbilanzpolitik der beiden Rechnungslegungssysteme voneinander abweicht.
Angenommen, auch im IFRS-Jahresabschluss würde, wie im HGB-Einzelabschluss, eine Steuerbemessungsfunktion gelten, so entstünden dadurch folgende Probleme: Zum einen würde die primäre Zielsetzung der Informationsvermittlung beeinträchtigt, zum anderen würden noch nicht realisierte Ergebnisbestandteile der Besteuerung unterworfen werden.[158] Nach Ansicht des Verfassers sollte der IASB bzw. der deutsche Gesetzgeber die steuerlichen Einflüsse in einem IFRS-Jahresabschluss auch weiterhin nicht einbeziehen, damit die angesprochenen Probleme gar nicht erst entstehen können.
Um das real eingebrachte Kapital im Unternehmen zu erhalten, müssen durch bilanzpolitische Maßnahmen inflationsbedingte Einflüsse vor der Ausschüttung bewahrt werden, damit die Kaufkraft des im Unternehmen befindlichen Eigenkapitals langfristig bestehen bleibt.[159] Gelingt es einem Unternehmen, die inflationären Entwicklungen zu kompensieren, kann es langfristig besser auf veränderte Marktbedingungen reagieren.
Es bestehen mehrere Möglichkeiten, die Kapitalerhaltungsziele umzusetzen. Eine Option ist die Legung von Schätzrücklagen, indem Ermessenspielräume zielgerichtet ausgelegt werden, damit tendenziell hohe Rücklagen gebildet werden können.[160] Weiterhin ermöglichen die Standards des IASB im Rahmen der Folgebewertung bilanzpolitisches Potential, die Substanz eines Unternehmens zu erhalten.[161] Die Folgebewertung, mittels der „fair-value“-Methode, ermöglicht bei verschiedenen Vermögenswerten eine Anpassung an die aktuellen Börsen- oder Marktpreise. Falls eine Wertanpassung über dem Buchwert liegt und diese erfolgsneutral bzw. an eine Ausschüttungssperre gekoppelt ist, wird die Realkapitalerhaltung dadurch unterstützt.[162] Die bilanzpolitischen Möglichkeiten der „fair-value“-Bewertung wurden bereits in Kapital 3.1.2 hinreichend erläutert. Dadurch kann der Bilanzpolitiker die Bewertung von Vermögenswerten in Bandbreiten de facto willkürlich steuern, sodass die Kapitalerhaltungs- und Substanzerhaltungsziele erreicht werden können.
Insbesondere in Zeiten andauernder Abwertungen wird die reale Kapitalerhaltung als ein wichtiger Faktor des bilanzpolitischen Zielsystems interpretiert.[163] Im Umkehrschluss können die entsprechenden Ziele in Zeiten konstanter Preisentwicklungen vernachlässigt werden.
Die bilanzpolitischen Ziele der Gewinn- und Dividendenglättung werden nicht der Innenfinanzierung, sondern der Außenfinanzierung eines Unternehmens zugeordnet. Erfahrungsgemäß legen Investoren besonderen Wert auf stetig wachsende und profitable Unternehmen, die darüber hinaus ein hohes Dividendenniveau im Jahresabschluss ausweisen können.[164] Weiterhin wird den potentiellen Eigenkapitalgebern durch ein konstantes Gewinnniveau signalisiert, dass das Verlustrisiko der eingesetzten Anteile gering ist.[165] Ein geringes Risikoempfinden der potentiellen Eigenkapitalgeber wiederum führt zu niedrigen Finanzierungskosten und ist somit aus...