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E-Book

Generation Mauer

Ein Porträt

AutorInes Geipel
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl287 Seiten
ISBN9783608106695
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Die in den 1960er Jahren im Osten Deutschlands geborenen »Mauerkinder« waren jung genug, um sich ab 1989 die Welt zu erobern - eine glückliche Generation? Ines Geipel sucht im Dialog zwischen persönlichem Schicksal und aktueller Forschung der Biographie ihrer Generation auf die Spur zu kommen. Stimmen zum Buch »Selten ist dieser Zustand des Weggehens und Nie-richtig-Ankommens so poetisch beschrieben worden wie von Geipel, inzwischen Professorin für Verssprache.« Chrismon plus »Die Bücher von Ines Geipel sind aufwühlend und verstörend - und sie sind nötig, um die Abläufe in der eigenen Gesellschaft zu verstehen.« Insa Wilke, Zeit online »Feinsinnige Beobachtungen und gemeinsame Erfahrungen, die sich durch die spannenden Biographien ziehen. Sehr lesenswert.« Zeitzeichen

Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch »Verlorene Spiele« (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war. Ines Geipel hat neben Doping auch vielfach zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Amok, der Geschichte des Ostens und auch zu Nachwendethemen publiziert. 2020 erhielt sie den Lessingpreis für Kritik, 2021 den Marieluise-Fleißer-Preis.

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Leseprobe

BLENDWERKE.    Shirley Bassey ist schon von weitem zu hören. Dazu hängen jede Menge großer Zettel in den Straßenbäumen von Mariendorf, im Westen von Berlin. Sie informieren die Anwohner, dass es am Abend laut werden könne. Es gebe ein großes Fest zu feiern, man bitte um Verständnis. Am Eingang des Partygartens steht rechts und links ein überlebensgroßer James Bond in schwarzem Pappmaché mit durchgezogener Walther PPK. Die Gäste kommen in Scharen und im Kostüm. Das Motto des Abends? Die sechziger Jahre. Denn der Jubilar, ein renommierter ARD-Fernsehjournalist, feiert heute seinen Fünfzigsten.

Der Gastgeber begrüßt überschwenglich. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein zu groß geratener Erich Honecker, mit Schlapphut, feistem Schmerbauch, prekären kurzen Hosen, langen Wollsocken, dunkelbraunen DDR-Opa-Sandalen und der legendär gewordenen Seltsambrille des ehemaligen Ost-Chefs. »Ich bin heute mal Erich Honecker«, grinst das Geburtstagskind und drückt die soeben ankommende Mary Poppins fest an sich. Hinter ihr zwei Bond-Girls, zwei Ostberliner Volkspolizisten und Major Tom in seinem silberfarbenen Raumanzug. Neben Brigitte Bardot trudelt der politische Doppelkörper John F. Kennedy und Jackie Kennedy ein. Auch Nana Mouskouri darf nicht fehlen. Und natürlich feiern in dieser Nacht noch jede Menge Rocklegenden ihre Inkarnation. Bunte Schlaghosen, Latexröcke, Karohemden, große Blumenmuster – alles, was bunt, schräg, schrill ist, geht. Jeder darf, irgendwie, irgendwas, Hauptsache cool. In großen Wannen liegt gut gekühlt und mehrfach übereinander gestapelt Sekt und Wein. Links vom veritablen Swimmingpool spielt eine Swing-Band, selbstredend live. 20 Musiker sind es, wenigstens. Der Soundtrack des Abends: »Goldfinger«.

Ein Abend im Bond-Fieber also und damit die Vorlage für mehr als ein halbes Jahrhundert Weltgeschichte. In ihm darf der Held ohne Unterlass das Skrupellose jagen und nebenbei die Welt retten, Shirley Eaton darf einen goldenen Slip tragen und Gert Fröbe als Superschurke allerhand markige Sprüche von sich geben. James Bond der Allrounder, der Mann für alles, was außerhalb des Normalen existiert: harte Action, Skorpione, giftige Spinnen und eine gehörige Portion Radioaktives, üppige Bikiniamazonen, schicke Hotels, steile Schlitten, teure Uhren. Das Ganze leichtfüßig ausgespielt und mit gut getimter Ironie. James Bond als wandelbare und krisenfeste Imaginationsmaschine, als eine Traumvorlage, die der Welt klarmacht, wie man mit dem Bösen in ihr umzugehen hat.

Auf einem der hinteren Partytische liegt etwas verloren das Fotoalbum des Jubilars. Es erzählt ein halbes Jahrhundert privates Westberlin per Bild, das von Beginn an mit dem Politischen parallel geht. Denn der Gefeierte war gerade mal zwei Wochen alt, als John F. Kennedy am 26. 6. 1963 – etwa acht Kilometer Luftlinie von der Wiege im Mariendorfer Einfamilienhaus entfernt – vor dem Rathaus Schöneberg seine große Rede auf die Freiheit hielt. Sein Slogan vom stylischen »Mann mit Geist«, die prosperierenden Nachkriegsjahre und seine Inselidee von der Freiheit verschmolzen zu einem schillernden Amalgam des Westens, das die Generation der in den sechziger Jahren im Westen Geborenen nachhaltig prägen konnte.

KEIMPHASEN.    Ich spreche noch gern über »Goldfinger«, Radioaktives, den tragischen Kennedy-Clan und die Keimphasen der Sechziger-Generationen in Ost und West, über ihre Ähnlichkeiten und Differenzen. Genau genommen spreche ich seit geraumer Zeit nur noch darüber. Das hat vermutlich mit den vielen 50-Jahre-Feiern zu tun, auf die ich seit ein, zwei Jahren gehe, und mit den vielen, die in den nächsten Jahren noch kommen werden. Sicher, es gibt mittlerweile allerhand Kinderarten in Deutschland: Vorkriegskinder, Kriegskinder, Nachkriegskinder, Aufbaukinder, Zonenkinder, Einheitskinder, sogar Eisenkinder gibt es. Es gibt die Generation Golf, die Generation Ally, die Generation Praktikum, die Achtundsechziger, die Babyboomer, na und so weiter. Aber wo sind wir eigentlich geblieben, ich meine, die Generation, die in den sechziger Jahren hinter der Mauer aufgewachsen ist?

Soziologen wie Thomas Ahbe und Rainer Gries haben herausgefunden, dass wir in dem großen deutschen Generationenwald als die Glücklichen angesehen werden. Das, weil wir zum einen die DDR pragmatisch und hedonistisch über uns ergehen lassen konnten, da wir mit dem System nichts mehr am Hut hatten. Weil wir zum zweiten die Revolution 1989 zum biografisch besten Zeitpunkt erlebten. Und weil wir zum dritten nach 1989 einen zweiten Studien- oder Lehrabschluss nach westlichen Standards absolviert haben und uns deshalb mühelos ins neue Deutschland integrieren konnten. Drei Gründe, um glücklich zu sein. Aber wenn das so ist, warum sind wir dann so seltsam unerzählt geblieben? Lohnt es sich nicht, über so viel Glück zu schreiben? Oder stimmt mit unserem Jahrhundertglück etwas nicht?

Über Dinge wie diese rede ich am liebsten mit dem Mann, mit dem ich seit fast zehn Jahren lebe. Er ist Historiker und hat über radikale Jugend promoviert. Sein elterliches Haus steht in Rodenkirchen, in einem der Nobelvororte von Köln. Die Kinderbilder aus Mariendorf und seine, sie ähneln sich. Das meint nicht so sehr das Interieur, sondern die Energie der beiden Jungs, ihr Unruhesystem, das die Fotos fast zu sprengen scheint. Es sind Kinder, die unbedingt raus wollen aus dem Bild, die jedes Spielzeug hinter sich lassen, auf keiner Decke sitzen bleiben, die ungebunden und offenkundig kaum zu bändigen sind, als wäre von vornherein alles zu piefig und irgendwie zu eng. Sie wachsen schnell, wie schmale, schräge Türme in die Luft, und sehen dabei trotzdem seltsam verspannt aus, zerdrückt und übersteuert zugleich.

Wenn der Mann, mit dem ich lebe, über seine Kindheit erzählt, erzählt er von Aktion. Dann rollt er silberne Serviettenringe über den Tisch, um auf sich aufmerksam zu machen, dreht im Keller des nigelnagelneuen Einfamilienhauses in Rodenkirchen den Schlauch auf, um auf sich aufmerksam zu machen, schreibt die Wörter, wie er will, um auf sich aufmerksam zu machen, bleibt in der Schule sitzen, um auf sich aufmerksam zu machen. Mit neun sitzt er in Djerba auf einem Kamel, mit zehn bekommt er von seinem Skilehrer einen Preis, mit elf verbringt er den Sommer auf einem Ponyhof im Norden, mit zwölf lässt er sich die Haare lang wachsen und beginnt mit Rudern. Es gibt ein grünstichiges Foto, da sitzt ein sehr zarter, sehr trotziger Junge mit deftiger Matte allein in seinem Boot. Das Wasser ist grau, er stiert gedankenverloren auf das Kräuseln der Wellen, die Kniestrümpfe sind weit nach unten gerutscht. Es sieht aus, als ob er frieren würde. Rudern heißt Eleganz, Rhythmus, Balance und unendliches Rackern, jeden Tag neu. Rudern hat etwas mit der Lust zu tun, sich in seinen Schmerz hineinzusteigern und es bei alldem noch edel aussehen zu lassen. Es ist ein schöner, exklusiver Sport, heißt es. Ein Sport der nackten Leistung, bei dem die Fans entfernt auf der Tribüne hocken und mit dem Fernglas das Gleiten der Boote und den ruhigen Schlag bewundern. Die Einsamkeit und den Schmerz des Ruderers entdeckt das Fernglas nicht.

PROFILE UND ZUNDER.    Der Junge aus Rodenkirchen wird mit 14 Deutscher Meister im Doppelvierer. Der Junge aus Mariendorf wird mit 14 Deutscher Meister im Rückenschwimmen. Schwimmen, heißt es, ist ein schöner Sport, die pure Harmonie mit sich und dem Wasser. Es ist die Zeit, in der die Schulklassen in Cliquen zerfallen. Man sieht es auf dem Pausenhof. In der einen Ecke stehen die Freaks. Jungs mit langen Haaren, die sich »Drum« oder »Samson« drehen, Neil Young hören, auf der Jacke den gelben Aufkleber »Stoppt Atomkraft!« tragen, immer einen Band Marcuse dabei haben, in Kellern ein ziemlich gutes Schlagzeug spielen und ansonsten auf Partys cool den Koks rumreichen. Da sind die Spießer, die vor der ersten Stunde ihren Opel Admiral auf dem Lehrerparkplatz abstellen, die Bürotasche vom Rücksitz nehmen, um dann im dunklen Anzug und mit geradem Rücken konzentriert den Schultag anzugehen. Da ist die harte Szene, die Mofa-Frisierer, die Bastler und Fachsimpler, die die Vergaser tauschen und nach Holland fahren, um sich den großen Zylinder zu besorgen. Da sind die Sportler, die Abwesenden, die viel auf Wettkämpfe müssen und deshalb in der Schulhierarchie in dem Sinne nicht vorkommen. Da sind die von der Katholischen Jugend, die man nicht so richtig auf einen Nenner bringt, die aber das Schulklima eindeutig bestimmen. Immerhin geht es um Gott. Und da sind die Gruppenlosen, Profillosen, Braven, die von Anfang an abtauchen und all die Jahre über unbemerkt bleiben, damit sie ihr späteres Leben nur umso besser auf die Reihe kriegen.

Jede Clique ist Schutz und Lebensentwurf zugleich. Die Hierarchien sind klar abgegrenzt, auch die selbstgeschaffenen Leistungskriterien. »Das mit der Leistung ist extrem gewesen«, weiß der Schwimmer aus Mariendorf und jettet heute in Bond-Manier als investigativer Journalist um die Welt, um das Korrupte, Skrupellose, Böse in ihr aufzuspüren. Der Mann, mit dem ich lebe, erzählt von Bonanza, Flipper und Daktari, alles Fernsehserien seiner Jugend aus dem Vorabendprogramm. Bonanza lief zwischen 1962 und 1972, das Original von Flipper zwischen 1964 und 1967, Daktari ab 1969. Longseller, die Halt, Beständigkeit und emotionale Geborgenheit innerhalb einer geschlossenen Megaerzählung vermuten lassen. Es ist der reine Familienersatz, bei Lichte besehen die Geschichte einer langen, inneren Ortlosigkeit, die sich ein bisschen anders anhört als die bisherigen Berichte der leistungsgewissen Babyboomer, der Generation von Guido Westerwelle, Joachim...

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