Der empirische Teil meiner Arbeit besteht darin, anhand eines Einzelfalls die hier vorgestellten Theorien und Zusammenhänge mit dem Praxisalltag in der Heimerziehung zu verbinden. Die Besonderheit liegt dabei auf der thematischen Ausrichtung, dies aus Sicht eines Bewohners zu tun. Als Grundlage dieses Vorgehens diente die Überlegung, dass es in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu Reformen und Veränderungen in der Heimerziehung kam, welche lediglich aus Sicht der Pädagogen als sinnvoll erachtet und durchgesetzt wurden. Neben der Planung fehlt es bisher auch bei der Evaluation der Veränderungen und deren Wahrnehmung an Beachtung der Sichtweise der Betroffenen. Die von mir durchgeführte Einzelfallstudie wird nicht in der Lage sein, diesen Missstand auszugleichen. Jedoch erhoffe ich mir, mit ihrer Hilfe einen Perspektivenwechsel vornehmen zu können, aus dessen Sicht sich sinnvolle Thesen für die Anwendung der Erkenntnisse aus der Bindungsforschung in die Praxis ableiten lassen. Darüber hinaus wird versucht, der dabei zugrundeliegenden Zuordnung der Relevanz seitens der Betroffenen gerecht zu werden.
Um dem Forschungsanliegen gerecht werden zu können, soll wie bereits erwähnt eine Einzelfallstudie durchgeführt werden. Dabei steht die Evaluierung des Wahrnehmens einer längerfristigen Unterbringung in einer typischen stationären Einrichtung der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe von einem betroffenen Jugendlichen, sowie dessen persönliche Erwartungshaltung und Bewertung der Beziehung zu seinen Erziehern im Vordergrund. Es erscheint mir dabei als geeignet, den Bewohner im Rahmen eines qualitativen, leitfadengestützten Interviews zu befragen. Die Vorteile dieser Methode für die geplante Einzelfallstudie beruhen dabei auf der Erfassung der subjektiven Bedeutungsmuster, der Alltagswahrnehmung, sowie der Wirklichkeitstheorien des Befragten.[36] Das Interview soll dabei durch ein biografisch orientiertes, sowie narratives Vorgehen gekennzeichnet sein. Durch dieses methodische Vorgehen soll der befragten Person ein Rahmen gegeben werden, in welchem sie sich wohl fühlt und der sie dazu anregt, ihre Lebenserfahrungen offen und ausführlich mit mir zu teilen. Durch die Leitfragen soll zeitgleich ein Abschweifen von der Thematik des Forschungsvorhaben verhindert werden. Dennoch sollen die Fragen insofern offen gehalten sein, dass die befragte Person sich inhaltlich nicht in eine vorgegebene Richtung gedrängt fühlt, durch welche die Ergebnisse des Interviews verfälscht würden. Ziel dieser Vorgehensweise ist wie bereits erwähnt, nicht die spezifische Testung bereits bestehender Theorien, sondern das Suchen und Bewerten dieser Erkenntnisse und Theorien in ihrem Zusammenhang von Bindungstheorie und dem Praxisalltag der Heimerziehung aus Sicht der Betroffenen.
Aufgrund langjähriger Berufserfahrungen war es mir möglich, mit einer geschlechterhomogenen Jugendwohngruppe in Kontakt zu treten und dort mein geplantes Projekt vorzustellen. Nach Einholung der Genehmigung der Gruppenleitung erfolgte das Anbringen eines Aushangs[37], in welchem ich mein Vorhaben altersgerecht äußerte und um Kontaktaufnahme bat. Daraufhin meldeten sich diverse Bewohnerinnen bei mir, welche sich bereit erklärten, ein Interview mit mir zu führen. Nach dem Durchführen erster Vorab- und Kennlerngesprächen entschloss ich mich dazu, dass leitfadengestützte Interview mit der 16jährigen Nina* durchzuführen. Dieser Entschluss beruhte auf dem in den ersten Gesprächen gesammelten Eindruck, dass Nina über eine hohe narrative Kompetenz verfügt, sodass sie sich nicht nur offen über ihr Leben äußern mag, sondern dies auch umfangreich kann. Zudem erschien sie in ihrem Auftreten selbstbewusst und erweckte den Anschein, sich in keiner akuten, psychischen Instabilität zu befinden, sodass Sorge hätte bestehen müssen, sie durch die Interviewsituation zu belasten oder gar ein unverarbeitetes Trauma hervorrufen zu können.
Bei der institutionellen Fremdenunterbringung in der Nina lebt, handelt es sich um eine geschlechterhomogene Jugendwohngruppe, in der bis zu zehn weibliche Jugendliche ab dem 13ten Lebensjahr aufgenommen werden, die aufgrund besonderer Umstände auf eine Wohn- und Betreuungsalternative zum familiären Haushalt angewiesen sind. Dabei entspricht die Wohngruppe der seit der Dezentralisierung der Heimerziehung primären stationären Unterbringungsform der öffentlichen Jugendhilfe. Die Grundlagen der pädagogischen Zusammenarbeit bilden dabei der § 27 SGB VIII in Verbindung mit dem § 34 SGB VIII – Hilfen zur Erziehung und Heimerziehung, sowie der § 41 SGB VIII – Hilfe für junge Volljährige und § 42 SGB VIII - Nachbetreuung und Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen. Das Selbstverständnis der Jugendwohngruppe ist eng mit dem eigenen pädagogischen Ziel verknüpft und versucht sich an den individuellen Gegebenheiten der weiblichen Jugendlichen zu orientieren. Dabei steht die Integration in die Wohngruppe, der Aufbau von Vertrauen und die Einhaltung einer Balance von Toleranz und Akzeptanz im Zusammenspiel mit Fordern und Grenzsetzung als Merkmale des pädagogischen Handelns im Vordergrund. Das Fördern und Stärken positiver Verhaltensweisen und Handlungen soll dabei verhelfen, die gewünschte Selbständigkeit, sowie eine realistische Selbsteinschätzung zu entwickeln. Nach Aussage der offiziellen Internetpräsenz der Einrichtung finden in dem pädagogischem Umgang mit den weiblichen Jugendlichen sowohl entwicklungspsychologische und gruppendynamische Gesichtspunkte, als auch interkonfessionelle und humanitäre Aspekte Berücksichtigung.. Das Fördern der individuellen Fähigkeiten für das Erreichen einer realistischen Schul- und/oder Berufsausbildung und die Verselbständigung auf emotionaler und lebenspraktischer Ebene stellen dabei die zwei zentralen Bausteine der pädagogischen Arbeit mit den weiblichen Jugendlichen in der Wohngruppe dar.
Ebenso orientiert sich auch die Elternarbeit an den Bedürfnissen der Jugendlichen und deren Eltern, sowie an den Erfahrungswerten und der pädagogischen Ausrichtung der Jugendwohngruppe. Dies beinhaltet die Zusammenarbeit zwischen den an der Hilfeplanung beteiligten Erziehungsberechtigten und der Jugendwohngruppe in Absprache mit dem zuständigen Jugendamt. Dabei stehen neben kurzfristigen Teilzielen auch das langfristige Miteinander und der sozial erwünschte Umgang aller Beteiligter im Vordergrund. Festgelegte Telefonzeiten, vereinbarte Besuchstermine in der Wohngruppe und begleitete Treffen in der Herkunftsfamilie sind hierbei die Instrumente, die zu einer Verbesserung der Beziehungen beitragen sollen. Aber auch ein Aussetzen des Kontaktes zwischen Kind und Kindeseltern kann nach Ansicht der Einrichtung für einen begrenzten Zeitraum zum Gelingen der Jugendhilfemaßnahme beitragen. Die hier beschriebene Jugendwohngruppe bedient sich der Anwendung eines BezugsbetreuerInnensystems, welches in Verbindung mit der internen Dokumentation der Elternarbeit zur Erleichterung des Erreichens der individuellen Ziele und der gemeinsam erstellten Vorgaben dienen soll. Betont wird hier die notwendige Offenheit und Klarheit im Austausch zwischen der Jugendwohngruppe und der Eltern über die Möglichkeiten und Begrenzungen der sozialen Arbeit. Dies soll die Zusammenarbeit aller Beteiligten erleichtern und das Erleben subjektiver Enttäuschungen und Frustrationen verhindern. Des Weiteren heißt es, dass Geduld, Ausdauer und Verständnis für die Bedürfnisse des Kindes und deren Eltern im Einklang mit dem Selbstverständnis der Wohngruppe der Schlüssel für eine gesunde Elternarbeit darstellen.
Die 16jährige Nina wuchs bis zu ihrem 15ten Lebensjahr bei ihren Eltern und ihren drei Geschwistern auf. Selbst ist sie die einzige Tochter ihrer Eltern. Zwei ihrer Brüder sind älter als Nina, einer jünger. Auf Seiten des Vaters sind noch drei weitere Halbgeschwister Ninas aus dessen erster Ehe vorhanden, welche sie jedoch nicht persönlich kennt. Ninas Familie verfügt über einen türkischen Immigrationshintergrund. Nina selbst kam allerdings bereits als Kleinkind nach Deutschland und kann sich nicht mehr an ihr Leben im Herkunftsland erinnern. Lediglich Erinnerungen aus Urlauben mit der Familie verbindet sie mit dem Land. Die Familie legte jedoch stets viel Wert darauf, ihre türkischen Wurzeln und die damit einhergehenden Traditionen, sowie die ausgelebte muslimische Religion beizubehalten und zu wahren. Nina hat diese Einstellung für sich übernommen, sodass sie sich an der Kultur der Großfamilie, wie sie in der Türkei üblich ist, orientiert. Relevant ist dies in dem hier gegebenen Kontext, da Nina sich selbst mit der damit einhergehenden Rollenverteilung als Frau wahrnimmt und auch den Wert „Familienehre“ sehr hoch hält. Wichtig ist es auch, diese kulturellen Unterschiede im Sinn zu haben, wenn man bedenkt, dass Nina durch den krankheitsbedingten Ausfall ihrer Mutter und als einzige Tochter ihrer Eltern, ab dem Ende ihres zwölften Lebensjahres deren Rolle übernommen hat. Dazu gehörte mit unter die Versorgung der männlichen Angehörigen, sowie das Führen des Familienhaushalts. Aufgrund...