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E-Book

Das Urteilen

AutorHannah Arendt
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783492969208
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
»Das Urteilen« war von Hannah Arendt als dritter Teil ihres Werkes »Vom Leben des Geistes« geplant und wurde aus dem Nachlass der Philosophin rekonstruiert. Unter Berufung auf Immanuel Kant weist Arendt dem Urteilen im Leben des Geistes einen spezifischen Platz zu. Mit seiner Hilfe orientiert sich der Mensch in der Welt, schafft er Sinn. Ein breites Spektrum an Fragen wird deshalb sichtbar: Leben, Tod und Liebe, Probleme der Freiheit und der Würde des Menschen.

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.

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Leseprobe

Die Einbildungskraft


Aufzeichnungen zu einem Seminar über Kants »Kritik der Urteilskraft«, gehalten an der New School for Social Research, New York, im Herbstsemester 1970

Vorbemerkung des Herausgebers: In diesen Seminaraufzeichnungen behandelt Hannah Arendt den Begriff der exemplarischen Gültigkeit, der auf den Seiten 101–102 der Kant-Vorlesung eingeführt wurde, ausführlicher, indem sie sich Kants Analyse der transzendentalen Einbildungskraft bei der Darstellung des Schematismus besonders in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zuwendet. Die exemplarische Gültigkeit ist von entscheidender Bedeutung; denn sie liefert die Grundlage für eine Auffassung von Politischer Wissenschaft, die das Besondere (Geschichten, historische Beispiele) und nicht Universalien (den Begriff des historischen Prozesses, allgemeine Gesetze der Geschichte) in den Mittelpunkt stellt. Arendt zitiert Kant, um klarzumachen, daß die Schemata für die Erkenntnis das leisten, was die Beispiele für das Urteil erbringen (Kritik der Urteilskraft, § 59). Ohne diesen wichtigen Hintergrund des Schematismus aus der ersten Kritik können wir die Rolle der Einbildungskraft in der Repräsentation und damit im Urteil nicht voll würdigen. Ein Fehler wäre es anzunehmen, die folgenden Seiten über die Einbildungskraft behandelten ein anderes Thema, sie wären von nur beiläufiger Bedeutung für das Urteilen. Das Gegenteil ist richtig. Dieses Seminarmaterial mit seiner weitausholenden Berücksichtigung der exemplarischen Gültigkeit, die zur Funktion der Einbildungskraft im Schematismus in Beziehung gesetzt wird, liefert ein unentbehrliches Einzelteil in dem Geduldspiel, mit dem wir hoffen, die genauen Konturen von Arendts Theorie des Urteilens zu rekonstruieren.

I. Die Einbildungskraft, sagt Kant, ist das Vermögen, das gegenwärtig zu machen, was abwesend ist, das Vermögen der Repräsentation. »Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung10 vorzustellen.«[1] Oder: »Die Einbildungskraft (facultas imaginandi) … [ist] ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes.«[2] Diesem Vermögen, das Abwesende gegenwärtig zu haben, den Namen »Einbildungskraft (facultas imaginandi)« zu geben, ist natürlich genug. Wenn ich das, was abwesend ist, wieder vergegenwärtige, habe ich ein Bild (imago) in meinem Geist – ein Bild von etwas, das ich gesehen habe und nun in irgendeiner Weise reproduziere. (In der Kritik der Urteilskraft nennt Kant dieses Vermögen manchmal »reproduktiv« – ich repräsentiere, was ich gesehen habe –, um es vom »produktiven« Vermögen zu unterscheiden, dem künstlerischen Vermögen nämlich, das etwas, was es nie gesehen hat, produziert. Aber die produktive Einbildungskraft [das Genie] ist niemals völlig produktiv. Sie produziert zum Beispiel den Zentaur aus dem Gegebenen, dem Bekannten: dem Pferd und dem Menschen.) Das klingt, als ob wir uns mit der Erinnerung befassen. Doch für Kant ist die Einbildungskraft die Bedingung für die Erinnerung und ein viel umfassenderes Vermögen. In seiner Anthropologie behandelt er die Erinnerung, das Vermögen, sich »das Vergangene zu vergegenwärtigen«, zusammen mit einem »Vorhersehungsvermögen«, das die Zukunft vergegenwärtigt. Beide sind Fähigkeiten der »Assoziation«, d. h. der Verknüpfung des »Nicht-mehr« und des »Noch-nicht« mit dem Gegenwärtigen; und »obgleich nicht selbst Wahrnehmungen, dienen sie zur Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit«.[3] Die Einbildungskraft hat es nicht nötig, von dieser zeitlichen Assoziation gelenkt zu werden; sie kann sich nach Wunsch vergegenwärtigen, was immer sie mag.

Was Kant das Vermögen der Einbildungskraft nennt, nämlich das, was in der sinnlichen Anschauung nicht vorhanden ist, gegenwärtig zu machen, hat weniger mit dem Vermögen der Erinnerung zu tun als mit einem anderen – das seit den Anfängen der Philosophie bekannt ist. Parmenides (Frag. 4) nannte es »nous« (das Vermögen, die Dinge zu schauen, die, obgleich abwesend, anwesend sind[4]), und damit meinte er, daß das Sein niemals präsent ist, sich den Sinnen nicht präsentiert.

Was in der Anschauung der Dinge nicht gegenwärtig ist, ist das Es-ist; und das von den Sinnen abwesende Es-ist ist dennoch dem Geiste gegenwärtig. Oder Anaxagoras: »Opsis tōn adēlōn ta phainomena« (eine flüchtige Sicht auf das Nichtsichtbare sind die Erscheinungen[5]). Um dies anders auszudrücken: Indem man Erscheinungen (die bei Kant der Anschauung gegeben werden) betrachtet, erhält man eine flüchtige Sicht von etwas, das nicht erscheint. Dieses Etwas ist das Sein als solches. Somit wird die Metaphysik, die Disziplin, die das behandelt, was jenseits der physischen Wirklichkeit liegt und dennoch, auf geheimnisvolle Weise, dem Geist als das Nichterscheinende in den Erscheinungen gegeben wird, zur Ontologie, zur Wissenschaft vom Sein.

II. Die Rolle, die die Einbildungskraft bei unseren erkennenden Fähigkeiten spielt, ist die vielleicht größte Entdeckung, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft gemacht hat. Für unsere Zwecke ist es am besten, sich dem »Schematismus der reinen Verstandesbegriffe« zuzuwenden.[6] Um es vorwegzunehmen: Das gleiche Vermögen, die Einbildungskraft, das die Schemata für die Erkenntnis liefert, verschafft auch die Beispiele für die Urteilskraft.

Sie werden sich erinnern, daß es bei Kant die zwei »Stämme« der Erfahrung und der Erkenntnis gibt: Anschauung (Sinnlichkeit) und Begriffe (Verstand). Die Anschauung gibt uns immer etwas Besonderes; der Begriff macht uns dieses Besondere bekannt. Wenn ich sage: »dieser Tisch«, so ist das so, als ob die Anschauung »dieses« sagt und der Verstand »Tisch« hinzufügt. »Dieses« bezieht sich nur auf diesen speziellen Gegenstand; »Tisch« identifiziert ihn und macht den Gegenstand mitteilbar.

Zwei Fragen ergeben sich. Erstens: Wie kommen die beiden Vermögen zusammen? Gewiß, die Verstandesbegriffe befähigen den Geist, die Vielfalt der Empfindungen zu ordnen. Doch woher kommt die Synthese, ihr Zusammenwirken? Zweitens: Ist dieser Begriff »Tisch« überhaupt ein Begriff? Ist er vielleicht nicht auch eine Art Bild? So daß eine gewisse Einbildungskraft auch im Verstand gegenwärtig ist? Die Antwort lautet: »Die Synthesis eines Mannigfaltigen … bringt zuerst eine Erkenntnis hervor …; … [sie] ist … dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammlet, und zu einem gewissen Inhalte vereinigt.« Diese Synthese ist »die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind«.[7] Und die Art und Weise, wie die Einbildungskraft die Synthese hervorbringt, ist die, »einem Begriff sein Bild zu verschaffen«[8]. Ein solches Bild wird »Schema« genannt.

»Beide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, müssen vermittelst … der Einbildungskraft notwendig zusammenhängen; weil jene sonst zwar Erscheinungen, aber keine Gegenstände eines empirischen Erkenntnisses, mithin keine Erfahrung geben würden.«[9]

Hier ruft Kant die Einbildungskraft an, um den Zusammenhang zwischen den beiden Vermögen herzustellen, und in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft nennt er das Vermögen der Einbildungskraft »das Vermögen der Synthesis überhaupt«. An anderen Stellen, wo er direkt vom »Schematismus« spricht, der an unserem Erkennen beteiligt ist, bezeichnet er diesen als »eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele«[10] (d. h. wir haben eine Art von »Anschauung« von etwas, das niemals gegenwärtig ist), und damit deutet er an, daß die Einbildungskraft eigentlich die gemeinsame Wurzel der anderen Erkenntnisvermögen ist, d. h. sie ist die »gemeinschaftliche«, »aber uns unbekannte« Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand. Davon spricht er in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft[11], und er erwähnt es in deren letztem Kapitel erneut,[12] ohne allerdings das Vermögen zu benennen.

III. Schema: Der Hauptpunkt in dieser Sache ist, daß man ohne ein »Schema« niemals irgend etwas erkennen kann. Wenn jemand »dieser Tisch« sagt, dann ist das allgemeine »Bild« des Tisches in seinem Geist gegenwärtig, und er erkennt, daß das »dieses« ein Tisch ist, etwas, das seine Merkmale mit vielen anderen solchen Dingen gemeinsam hat, obgleich es selbst ein einzelnes, besonderes Ding ist. Wenn ich ein Haus erkenne, so schließt dieses wahrgenommene Haus ein, wie ein Haus...

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