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E-Book

Ein Jahr in New York

Auswandern auf Zeit

AutorNadine Sieger
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451811487
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Es war wie im Film, als würde sie sich in den Kulissen von »Der unsichtbare Dritte« bewegen - mit einem Unterschied: Alles war echt. Penetrante Hupkonzerte und unablässig drängende Menschenmassen, die erste Wohnung in Harlem als gefühlte einzige Weiße, die ungewohnte Dating-Kultur, »new friends« und das kollektive Truthahn-Essen an Thanksgiving - ein Jahr in New York!

Nadine Sieger, geb. 1977, lebt als InStyle-Korrespondentin in New York und schreibt u.a. als freie Autorin für 'Architektur&Wohnen', 'Neon' und das 'Lufthansa Magazin'.

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Leseprobe

Oktober


WIE IM FILM. Ich stand in der New Yorker Bahnhofshalle Grand Central und musste es mir immer wieder selbst bestätigen. Ich fühlte mich wie im Film. Gerade eben war ich durch das reale Filmset von Kinohits wie „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ („Vergiss mein nicht!“) und den Klassiker „North by Northwest“ („Der unsichtbare Dritte“) gelaufen. Durch das glamouröse Beaux-Arts-Gebäude mit der haushohen Kuppel und dem 1912 irrtümlich spiegelverkehrt aufgemalten Himmelsgewölbe. Hier ergriff Jim Carrey Kate Winslets Hand, und Cary Grant floh vor seinen potentiellen Mördern. Während ich noch damit beschäftigt war, mental weitere Kinohits mit dem Tatort New York aufzulisten, spülte der Strom von Menschen mich und meine zwei Koffer durch das Hauptportal hinaus auf den breiten Gehweg. Hätte ich jemals zuvor New York besucht, wäre ich vermutlich besser vorbereitet gewesen. Stattdessen war ich einfach nur überwältigt. Schwärme gelber Taxen. Penetrante Sirenen- und Hupkonzerte. Menschen aller Nationalitäten. Wow, dort drüben ragte sogar die elegante Silberspitze des Chrysler Buildings über die Häuserzeilen hinweg. Absolute Reizüberflutung. Eine Dynamik, die ich so geballt noch nirgends zuvor erlebt hatte. Der Effekt wurde deutlich durch meine eigene Müdigkeit verstärkt. Seit etwa 15 Stunden war ich nun schon unterwegs, war in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um von Hamburg über Paris nach New York zu fliegen. Ich war physisch erschöpft und gleichzeitig völlig aufgekratzt. Ich dachte darüber nach, wie schade es ist, dass man solche Augenblicke nur ein einziges Mal zum allerersten Mal erlebt. Alles war klarer, lauter, größer und intensiver. Meine Synapsen liefen auf Hochtouren. Ein undefinierbares Glücksgefühl durchflutete mich. Ich musste grinsen, als hätte ich einen leichten Schwips, und war so ziemlich die einzige Person, die einfach nur bewegungslos auf dem Bürgersteig stand. Damit hatte ich mich auf den ersten Blick als New-York-Novize geoutet. Wer orientierungslos auf den Gehwegen stand, war im Weg. So wie ich, angewurzelt auf dem Bürgersteig. Die New Yorker navigierten zielstrebig um mich herum, wichen mir aus. Als Tourist gerade so geduldet, aber eindeutig ein Fremdkörper. Ich war ein staunendes Hindernis und schaute mit offenem Mund nach oben, nach rechts, nach links und wieder geradeaus. Jeder Blick fing etwas Neues ein. 125 000 Fahrgäste werden hier täglich durch die Stationen des historischen Bahnhofes geschleust, der mit seinen 44 Bahnsteigen angeblich der größte der Welt ist. Ein ziemlich wildes Treiben. Dabei fing alles so überschaubar an.

John F. Kennedy International Airport. Ich hatte einen riesigen modernen Metropolenflughafen erwartet und sah mich schon mit meinem Gepäck durch das hektische An- und Abreise-Chaos irren. Stattdessen verbrachte ich die erste Stunde in New York mit Warten. Wir Ausländer standen in einer müden, langen Schlange vor der Einwanderungsbehörde eines kleinen miefigen Terminals mit schäbigen Teppichen und Mobiliar aus einem anderen Jahrzehnt. Die Fragen der Einreiseerklärung mussten wir schon im Flugzeug beantworten. Eine konsequente Reihe Neins. Kriminelle Vergangenheit? Nein. Verbindungen zu Terrororganisationen? Nein. Ansteckende Viruskrankheiten? Nein. Ein einziges Ja hätte mich ganz offensichtlich umgehend in die Heimat zurückkatapultiert. In meinem Reisepass klebte ein frisch ausgestelltes Journalistenvisum. Gültig für die nächsten fünf Jahre. Es gab also keinen einzigen Grund, mir die Einreise in die USA zu verwehren. Trotzdem war ich nervös, als ich endlich an der Reihe war. Ich hatte schon zu viele Horrorgeschichten über die Willkür der Beamten der Einwanderungsbehörde gehört, die Touristen, Schiedsrichtern gleich, regelmäßig die Rote Karte zeigten. Insbesondere seit George W. Bush nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September das „Department of Homeland Security“ zum Heimatlandschutz vor Terroristen gründete, das seit 2003 auch für Immigration und Grenzschutz zuständig ist. Wer Pech hat, wird gleich mit dem nächsten Flieger wieder nachhause befördert. Und das ist nicht selten von der Laune des jeweiligen Officers abhängig. Mein zuständiger Beamter winkte mich mit seiner linken Hand hektisch zu sich und gab mir zu verstehen, dass er keine Zeit mit mir verschwenden wollte. Das war mir nur recht. Die gut sichtbar positionierte Handwaffe an der rechten Gürtelseite ließ keinen Zweifel an seiner Autorität. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, prasselten seine Fragen wie aus einer Maschinenpistole auf mich nieder. Ungeduldig wedelte er mit meinem Reisepass und kaute dabei gelangweilt sein Kaugummi. „Könnten Sie die letzte Frage bitte wiederholen“, fragte ich eingeschüchtert. Dass ich ganz offensichtlich weder amerikanische Staatsbürgerin noch jemals Gast in diesem Land war, schien er mit Genugtuung zu ignorieren und sprach fast noch undeutlicher, als er die Frage noch mal stellte. Ah, meine Fingerabdrücke, ja richtig, natürlich, wegen der Sicherheit. „Bitte noch mal, und vorher den Finger auf dem Pad befeuchten, der ist viel zu trocken“, zischte er mich an. Also noch mal ein fester Druck links, danach der Zeigefinger rechts. Ein übermüdetes Lächeln in die winzige Kamera, und ich war drin. Sicher gespeichert im Computersystem der amerikanischen Einwanderungsbehörde und erleichtert eingereist in das Land der unbegrenzten Möglichkeit. Bei der Reisepass-Übergabe presste er sich noch ein „Have a nice stay“ durch die kaum geöffneten Lippen. Ja, einen schönen Aufenthalt, genau das wünschte ich mir auch. In der Empfangshalle erwartete uns Neuankömmlinge ein Schwarm Limousinenfahrer. Bewaffnet mit handbeschrifteten Pappschildern starrten sie erwartungsvoll in jedes Gesicht, in der Hoffnung den erwarteten Fahrgast schnellstmöglich in Manhattan abzuliefern. Auf mich wartete niemand. Über acht Millionen Menschen in dieser Stadt und alles Fremde.

„Hi, ich bin Bob. Schön dich kennenzulernen“, stellte sich mein Nachbar im Bus vor, noch bevor ich auf meinem Platz saß. Natürlich ohne Nachnamen. In diesem Land, in dem die Sprache nur „du“ und kein „Sie“ kennt, wurde auf überflüssige Förmlichkeit offensichtlich verzichtet. Bob war etwa fünfzig. Ein attraktiver Mann in einem dunklen Anzug und leicht grauem Haar, irgendwie kreativ. Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich zwangsläufig jeden New Yorker für ein kreatives Genie hielt? Nett und wahnsinnig höflich war er ohne Zweifel. Ich fühlte mich gleich ein bisschen weniger allein in dieser großen Stadt, die mein neues Zuhause werden sollte. Als ich ihm erzählte, dass ich das allererste Mal hier bin, war er fast so aufgeregt wie ich. „That is so exciting“, sagte er immer wieder und erzählte, dass er schon seit über zwanzig Jahren in New York lebt und für immer hier bleiben wolle. „New Yorker ist man nicht aus Zufall, sondern aus Leidenschaft“, unterstrich er seine Entscheidung. An New York gebunden, ganz ohne Fesseln. Er hörte mir mit größtem Interesse zu und ignorierte ganz offensichtlich meine holprige Aussprache. Unter keinen Umständen würde sich ein Amerikaner anmerken lassen, dass er gerade mit einem nach Worten und grammatikalisch korrekten Sätzen ringendem Ausländer kommunizierte. Jeder Fehler wird galant ignoriert und auf jeden noch so kurzen Schlagabtausch folgt meistens ein überschwängliches Kompliment. Fast so, als wäre man adoptierter Muttersprachler. Auch wenn sich der deutsche Akzent meist schon beim ersten Satz ins Ohr bohrt. Denn das Zungenbrecher-„th“, das uns meistens nur als scharfes „ß“ durch die Zähne rutscht, entlarvt die Deutschen sofort. Stichwort „Happy Börssssday“. Amerikaner musste man regelrecht anflehen, auf immer wiederkehrende Fehler hinzuweisen. Und davon gab es bei mir einige. „Den zweiwöchigen Sprachkurs in der School of English in Hamburg hätte ich mir wirklich sparen können“, erzählte ich Bob frustriert, als ich ihm im Bus einen vorstammelte. „Ihr Deutschen wollt immer perfekt sein. Hauptsache, das Vokabular reicht für ganze Sätze“, entgegnete Bob ermutigend.

Mein erstes englisches Gespräch außerhalb eines Klassenzimmers erforderte so viel Konzentration, dass Bob mich daran erinnern musste, zwischendurch auch mal aus dem Fenster zu schauen. „Genau hier habe ich auch nach so vielen Jahren noch immer eine Gänsehaut!“, rief er feierlich, als am Horizont plötzlich die Silhouette der Wolkenkratzer auftauchte. Wie oft hatte ich diese legendäre Linie schon gesehen. Auf Postkarten, im Fernsehen, in Zeitschriften, aber noch nie live. Augenblicklich überfiel auch mich eine Gänsehaut, die anhielt, bis der Bus am Grand Central stoppte. Statt sich einfach zu verabschieden, wuchtete Bob meine zwei schweren Taschen aus dem Kofferraum und trug sie mir in die Bahnhofshalle. „Ich wünsche dir eine ganz tolle Zeit und hoffe, du wirst New York lieben“, sagte er zum Abschied und klang fast ein bisschen besorgt, dass ich von seiner geliebten Stadt nicht genauso begeistert sein könnte wie er. Er lachte mir aufmunternd zu, drehte sich um, und im nächsten Moment hatte ihn die Millionenmetropole schon verschluckt.

Da stand ich also verloren und überwältigt an der Bushaltestelle und schlug mein kleines Notizbuch auf: Madison Avenue, meine neue Adresse. Art-déco-Prunkbauten. Edle Designerboutiquen. Elegant geföhnte Damen in Chanel-Kostümchen. All das ging mir durch den Kopf, als ich vor einem Monat in meiner Hamburger Altbauwohnung saß und mir von der deutschen Immobilienmaklerin Petra aus New York ein Apartment andrehen ließ. Madison Avenue – einer der wenigen New Yorker Straßennamen, unter denen ich glaubte, mir etwas vorstellen zu können. Ich sah mich im Geiste schon...

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