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E-Book

Ökologie der Angst

AutorJens Soentgen
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783957575968
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wir alle kennen Angst in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Angst ist ein zentrales, zum Überleben notwendiges Gefühl. Auch Tiere haben Angst, im Brennpunkt des Emotionslebens der meisten höheren Tiere steht die Angst vor dem Menschen. Die Angst der Tiere kann man zwar nur von außen beobachten, aber wir wissen aus eigener Erfahrung, was sie fühlen. Jens Soentgen nimmt die Angst als Ausgangspunkt einer Ökologie von innen und trägt damit einen entscheidenden Aspekt zur Ökologie des Anthropozäns bei. Seine These: Die Relationen zwischen Feind und Beute haben ein subjektives, emotionales und kognitives Moment, das ökologisch bedeutsam ist. Die Rolle des Feindes wird heute meist vom Menschen übernommen. Das weltweite Töten der Tiere durch den Menschen bewirkt nicht nur eine drastische Reduktion von Populationen, es verbreitet Angst unter den Überlebenden. Diese Angst verwandelt das Verhalten, die Fortpflanzung, die Nahrungsaufnahme und die Bewegung der Überlebenden. Soentgens Versuch ist auch ein Versuch über Möglichkeiten der Versöhnung: Angstminderung ist ein ebenso gut begründbares ethisches Gebot wie die Minderung von Schmerz.

Jens Soentgen, 1967 in Bensberg geboren, ist Chemiker und Philosoph. Seit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg und zugleich Adjunct Professor für Philosophie an der Memorial University of Newfoundland in St. John's, Kanada. Seine wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Werke liegen in vielen Sprachen vor und wurden mehrfach ausgezeichnet. Zusammen mit dem Chemiker Armin Reller gibt er die inzwischen 10-bändige Reihe Stoffgeschichten heraus (oekom Verlag). Zuletzt veröffentlichte er Wie man mit dem Feuer philosophiert - Chemie und Alchemie für Furchtlose (Peter Hammer Verlag), das 2016 zum 'Wissensbuch des Jahres' gewählt wurde.

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Leseprobe

Die Angst als Innenseite des Anthropozäns


Angst ist ein subjektiver Zustand, und dazu einer, den nicht nur wir, sondern den viele, vielleicht alle Tiere kennen. Sie mobilisiert letzte Reserven, sei es für die Flucht, sei es für den Kampf. Ohne die vorauslaufende Sorge, eine verdünnte Form der Angst, wäre die Wachsamkeit der Tiere nicht so rege. Explosiv kann sich Angst entfalten, bisweilen aus dem Nichts heraus; ehe man auch nur begriffen hat, dass man flieht, rennt man bereits. Weil die Bedrohung plötzlich und ganz unvermittelt auftauchen kann, ist die Angst im Untergrund immer wach. Hunger, Durst und sexuelle Begierde, die ebenfalls zentrale Triebe sind, sind Bedürfnisse, die ein Lebewesen, wenn nötig, eine Zeitlang aufschieben kann.20 Nicht aber die Angst.

Angst ist mit Gefahr verbunden. Lebewesen ängstigen sich, weil sie bedroht werden. Auf Bedrohung müssen sie reagieren – sei es, indem sie sich bereit machen zum Kampf, sei es, indem sie sich still ducken, oder sei es, indem sie mit aller Kraft losrennen, losfliegen, wegschwimmen oder -krabbeln. Egal was, es muss sofort geschehen. Abwarten ist verhängnisvoll. Auch deshalb ist die Angst eine den ganzen Leib alarmierende Regung. Sie ist nicht nur, wie die Existenzphilosophie gezeigt hat, ein anthropologisches Phänomen, sie ist auch, wie zuerst der Zoologe Heini Hediger in seinen Studien herausgearbeitet, aber auch der Philosoph Hans Jonas betont hat, ein biologisches Urphänomen.

Angst hat weitgehende Auswirkungen, weil Gefahren in der Fantasie vorweggenommen werden können oder bisweilen durch die Fantasie überhaupt erst erschaffen werden. Tiere können vielleicht nicht ihren Tod vorhersehen, wissen vielleicht nicht um die Tatsache, dass sie sterben müssen. Aber sie wissen, dass sie vor tödlichen Gefahren, insbesondere vor ihren Feinden, fliehen müssen und dass sie auch dann, wenn gerade kein Feind in Sicht ist, wachsam zu sein haben. Deshalb formt die Angst nicht nur den Ausnahmezustand der Flucht, sondern auch den Alltag, gliedert die Zeit und den Raum wie ein transzendentales Apriori. Sie legt nahe, bestimmte Orte zu bestimmten Zeiten zu meiden, wie auch Menschen, die in einer Großstadt leben, zu bestimmten Zeiten nicht in bestimmte Gegenden gehen, etwa weil sie fürchten, überfallen zu werden. Tiere, die vor ihren Feinden auf der Hut sind, verhalten sich ähnlich. Sie wagen sich nur zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten aus dem für sicher gehaltenen Versteck: »In der Tat ist das freilebende Wildtier dauernd damit beschäftigt, sich vor Feinden in acht zu nehmen, die immer und überall drohen können.«21 Die Sorge ist die Hauptbeschäftigung des Tieres und wird selbst während des Schlafes nie ganz unterbrochen.22 Sie bestimmt den Alltag der Tiere, ihr Verhalten bei der Nahrungssuche, ihre Fortpflanzungsaktivitäten usw.23 Zugleich ist sie bestimmender Faktor im Verhalten der Wildtiere gegenüber dem Menschen.

Unsere Zeit wird als Anthropozän bezeichnet, weil Menschen sogar in geologischem Maßstab wichtige Agenten auf der Erde sind. Sie bewegen heute ebenso viel Gestein und Erdreich wie das Wasser24, verbreiten Radionuklide und chemische Verbindungen über die Oberfläche der Erde, Substanzen, die es in der Natur niemals gab. Menschen bewirken gegenwärtig dramatische biologische und ökologische Transformationen, die sich manifestieren nicht nur in der Vermüllung der Meere und Gewässer mit Plastik und mit zahlreichen synthetischen, vielfach biologisch aktiven Substanzen (Stickstoffverbindungen, Phosphorverbindungen usw.), nicht nur im Anstieg klimarelevanter Spurengase in der Atmosphäre, sondern auch in der gezielten Vernichtung von Ökosystemen und im globalen Artensterben, dem Aussterben großer Gruppen von Organismen aufgrund menschlicher Aktivitäten. Mehr als 55 Prozent der gesamten eisfreien Landfläche wurden von Menschen mehr oder weniger radikal transformiert25, durch Nutzung für Forste, Ackerbau, Wasserkraftgewinnung usw. Der durch den Menschen verursachte Artenschwund ist nach Ansicht von Biologen nur noch vergleichbar mit jenem sogenannten Faunenschnitt vor 65 Millionen Jahren, als ein Meteorit in der Nähe von Yukatan auf die Erde prallte und das damalige Leben, einschließlich der Dinosaurier, zu großen Teilen vernichtete. Heute sind, so die neuesten Schätzungen, 23 Prozent aller Säugetiere, 12 Prozent aller Vögel, 25 Prozent aller Nadelbäume und 32 Prozent aller Amphibien akut von der Auslöschung bedroht. Seit Beginn der industriellen Fischerei sind die Fischpopulationen drastisch zurückgegangen. Bei den Insekten ist die Schätzung aufgrund der Vielzahl der Arten – allein in Deutschland gibt es etwa 50 000 Arten – deutlich schwieriger. Hier kennen wir vielfach nur lokale Studien. Aber auch diese weisen in dieselbe Richtung. So sind zwischen 1972 und 2012 von den im Moseltal vorkommenden Magerrasen-Schmetterlingsarten 40 der ursprünglich 70 Falterarten verschwunden, nur drei kamen hinzu.26

Auch die Zahl der Nutztiere zeigt, wie rücksichtslos die künstlichen Biotope des Menschen auf Kosten der natürlichen Welt gewachsen sind: 1,5 Milliarden Rinder und Büffel grasen weltweit und mehr als 1,7 Milliarden Ziegen und Schafe. Das Gewicht der menschlichen Nutztiere übertrifft inzwischen das Gesamtgewicht aller wildlebenden Säugetiere um das Zwanzigfache.27 Der Mensch ist das herrschende Tier auf diesem Planeten28 und der zentrale Feind der meisten Organismen. Genau dieser ökologische Sachverhalt und weniger die geologische Epochengrenze ist es, worauf der Begriffdes Anthropozäns hinweist.

Aber das durch Statistik belegbare Töten und Ausrotten ist nur der sichtbarste Effekt, den ein Feind auf diejenigen Lebewesen hat, die er bedroht. Ein Feind erzeugt auch Angst, und zwar umso mehr Angst, je übermächtiger er ist. Angst ist ein ökologisch folgenreicher innerer Zustand. Der gesamte Alltag kann von Angst geprägt werden: die Wege verändern sich, der Schlaf, die Ernährung, die Fortpflanzung. Wenn für eine sehr große Zahl, vielleicht sogar für die meisten der wildlebenden Wirbeltiere die Menschen der wichtigste Feind sind, und wenn Tiere Emotionen haben, dann ist die chronische, nicht nur gelegentliche Angst vor den Menschen eine wesentliche, wahrscheinlich die bestimmende Emotion. Diese Einsicht formulierte Heini Hediger erstmals in den 1930er Jahren: »Da mit wenigen Ausnahmen (z. B. Vampire, Piranhas, gewisse Haie) alle höheren wildlebenden Tiere die Tendenz haben, sich vor dem Menschen zurückzuziehen, d. h. bei seiner Annäherung vor ihm zu flüchten, so ist die Flucht diejenige Lebensäußerung, welche der Mensch am allerehesten zu beobachten Gelegenheit findet.«29 Und weiter: »Sehr oft wird die Raubtierrolle vom Menschen gespielt. Es gibt […] wohl kaum eine Tierart, die nicht – oft seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden – von ihm verfolgt würde. Man darf daher sagen, daß der Mensch mit seiner weltweiten Verbreitung und seinen fernwirkenden Waffen sozusagen als Universalfeind im Brennpunkt der tierlichen Fluchtreaktionen steht.«30

Die Angst der Tiere vor den Menschen ist die Innenseite des Anthropozäns. Diese Angst hat eine ganze Kaskade von Effekten. Tiere, die sich fürchten, essen weniger, sie bringen weniger Junge zur Welt.31 Und: Tiere, die sich fürchten, zeigen sich nicht. Sie verlegen ihre Aktivitäten vom Tag in die Nacht und meiden in ihrem Habitat alle Orte, an denen sie Gefahr laufen, dem Furchtbaren zu begegnen, das sie ängstigt. So hat die Angst eine Vielzahl von sekundären ökologischen Auswirkungen.

Die Angst vertieft die Entfremdung zwischen Mensch und Natur, weil sie dazu führt, dass Begegnungen zwischen Wildtieren und Menschen selten und monoton werden. Die Angst als Ausgangspunkt dieser Überlegungen führt deshalb auch zu einer neuen Perspektive auf naturpolitische Handlungsfelder.

Mein Ziel ist es, das Phänomen der Angst der Wildtiere vor dem Menschen als Kennzeichen des Anthropozäns herauszuarbeiten und einige Handlungsoptionen aufzuzeigen. Von einem Phänomen spreche ich, weil darin etwas Überraschendes liegt. Anders als wir meinen ist es nämlich nicht selbstverständlich, dass Tiere panische Angst vor uns haben und davonrasen, -fliegen oder -kriechen, sobald sie uns auch nur von fern sehen.

Die Angst der Tiere vor den Menschen ist kein Naturgesetz; die Tiere sind gegenüber dem Menschen nicht von Natur aus scheu. Ihre Furcht ist erlernt und wird als erlernte an die nächste Generation weitergegeben. Dafür gibt es eine Reihe von Indizien. Im Zeitalter der Entdeckungen wurden zahlreiche Inseln von Europäern angesteuert, deren Tierwelt keinerlei Scheu vor Menschen zeigte. Der Amerikanist Georg Friederici hat in alten Reiseschilderungen zahlreiche Beschreibungen angstfreier Tiere gesammelt – von Columbus auf den neu entdeckten Inseln Alto Velo und Beata bis Vespucci und dem brasilianischen Archipel Fernando de Noronha.32 Die Tatsache, dass die Vögel vieler neuentdeckter Inseln so sorglos waren, dass die hungrigen Seeleute nur die Hand nach ihnen ausstrecken...

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