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Chinas leere Mitte

Die Identität Chinas und die globale Moderne

AutorHelwig Schmidt-Glintzer
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783957576538
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
'Was das Reich der Mitte ausmacht', hat man sich in China selbst ebenso wie außerhalb Chinas seit Jahrhunderten immer wieder gefragt. Helwig Schmidt-Glintzer findet in diesem luziden und so weitreichenden wie knappen Essay die Antwort in der leeren Mitte und in den Bemühungen, diesen Mangel zu kompensieren. Ausgehend von dieser Prämisse leuchtet er zunächst die Identität dessen aus, was unter 'China' zu verstehen ist, um dann die der chinesischen Kultur innewohnende Ambivalenz gegenüber Herrschaftsansprüchen zu deuten und die Geschichte der chinesischen Staatlichkeit zu rekonstruieren. Vor diesem Hintergrund wird es möglich, so manches Rätsel zu entschlüsseln, das China dem Westen so oft ist. Vor allem aber wird klar, dass China damit für die globale Moderne möglicherweise besser gerüstet ist als die meisten anderen Länder.

Helwig Schmidt-Glintzer, 1948 geboren, hatte nach einem Studium der Sinologie und diversen Forschungsreisen nach Ostasien von 1981 bis 1993 den Lehrstuhl für Ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaft an der Universität München inne, bevor er von 1993 bis 2015 als Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel tätig war. Er ist heute Direktor des China Centrums Tübingen und veröffentlichte zuletzt bei Matthes & Seitz Berlin die Biografie Mao Zedong. ?Es wird Kampf geben?.

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Leseprobe

I
Chinas Identität


Die leere Mitte


Seit dem Ende des chinesischen Kaiserreiches und seit China sich neu zu erfinden sucht, will es Teil der Weltgesellschaft sein und dabei doch nicht seine Identität verlieren. Diese Identität war zunächst geistig gefasst und erst in zweiter Linie räumlich definiert. So galt Chinas Intellektuellen im frühen 20. Jahrhundert nicht das Territorium der untergegangenen Dynastie als sakrosankt. Vielmehr suchten viele China von unten, von den Provinzen her aufzubauen. Noch Sun Yatsen war bereit, die Insel Hainan für 14 Millionen Dollar an einen anderen Staat abzutreten.4 Zugleich gab es die Bestrebung, eine stolze chinesische Nation zu errichten, der die genannten regionalen Orientierungen im Wege standen. Seit der Taiping-Bewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die das Ziel eines Gottesreichs auf Erden verfolgte, ist Chinas Geschichte von diesem Wechselspiel lokaler Experimentierwerkstatt und regionaler Reform einerseits und Modernisierung des Gesamtreiches andererseits geprägt. Der Einheitsstaat setzte sich schließlich durch, begünstigt durch Förderung von außen. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 wurde dieser Prozess besiegelt – und doch schien zunächst alles offen. Das neue Zentrum, die neue Mitte sollte Peking werden. Der dortige Palast sollte weichen und so eine neue Mitte geschaffen werden, die leer bleiben sollte. Ansatzweise ist dies mit der Schaffung des Platzes des Himmlischen Friedens ja dann tatsächlich auch realisiert worden.5

Die leere Mitte, um die sich China dreht, ist also mein Ausgangspunkt. Ganz China habe keinen Begriff von sich selbst, konstatiert Mark Siemons, es sei auf den Platz des Himmlischen Friedens hin als »seine leere Mitte« ausgerichtet.6 Diese Leere gehe einher mit einer frappierenden »Fähigkeit zum Aushalten von Selbstwidersprüchen«.7 Solche innere Widersprüchlichkeit ist aber die Folge einer inneren Vielfalt. Denn die Volksrepublik ist ein Vielvölkerstaat,8 und auch die große Mehrheit der als Han bezeichneten Chinesen ist alles andere als einheitlich. Dies war ein Grund, warum die Neubestimmung des Nationenbegriffs mit einem Schriftzeichen einherging, bei dem statt des Zeichens guo mit dem aus Lanze und Befehl gebildeten huo im leeren Feld wei ein neues Zeichen unter Verwendung des Zeichens für »Volk« min gebildet werden sollte. Dieses Zeichen wurde in der Republikzeit von General Feng Yuxiang (1882–1948) gerne verwendet, setzte sich aber nicht durch. Die Annahme, China sei ein von einem homogenen »Staatsvolk« getragener Nationalstaat, ist also nichts als ein wenn auch immer wieder anzutreffendes Missverständnis. Wie aber wird daraus dann doch das staatliche Gebilde China? Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, sich folgender Sachverhalte zu vergewissern:

1. China hatte durchaus seit Jahrhunderten ein Bild von sich selbst – und wurde später dennoch in der Konfrontation mit der Außenwelt sich selbst und auch anderen immer wieder zum Rätsel. Es gibt also eine historische Identität Chinas, und es ist eine frühe Identität, die mit gewissem Recht mit der Schule des Konfuzius verknüpft ist.

2. China ist seit frühester Zeit ein Land der Einwanderung ebenso wie der Auswanderung und damit ein Land der Migration und der Grenzziehungen.

3. Neben der ethnischen, religiösen und sprachlichen Vielfalt finden wir eine Vielzahl von Ordnungskonzepten und Deutungssystemen – politischer, kosmologischer, mythologischer Art, die mit den ethnischen, vor allem aber mit den religiösen Sphären enge Verbindungen eingingen.

4. Diese kulturelle Vielfalt ist zugleich mit bisher niemals wirklich aufgelösten Spannungen verbunden, die zu einem dauernden Gegensatz von Zentrifugalität und Zentripetalität führten. Fliehkräfte und Zentralisierungsbemühungen halten sich nur gelegentlich die Waage.

5. Lange vor der Begegnung mit dem Westen gibt es eine vielfältige Begegnungsgeschichte. China sah sich gegenüber seinen Nachbarn keineswegs immer als überlegen, sondern oft im Gegenteil, was wir an den Außenbeziehungen ablesen, insbesondere zur Zeit des ausgehenden ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung, als China mit benachbarten Staaten Verträge »unter Gleichen« schloss.9

6. Damit hängt zusammen, dass – so widersprüchlich das auch klingen mag, und ich deutete dies bereits an – das »Reich der Mitte«, womit die Selbstbezeichnung »Zhongguo« auch übersetzt wird, keine Mitte hat – oder eben eine leere Mitte.

Wenn man diesen sechs Sachverhalten weiter nachgeht, bekommt man eine Ahnung davon, was China ausmacht. Zugleich ergibt sich die Frage, ob nicht China als ein Beispiel dafür gelten kann, wie trotz leerer Mitte Weltgestaltung und Modernisierung in harmonischer Weise gelingen können.

1. Frühe Identität

Seit der Shang-Zeit, also seit der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends, und über die Eroberung durch die Zhou um 1045 v. Chr. hinaus, haben sich in den frühen Zentren chinesischer Kultur Elemente herausgebildet, die lange – zum Teil bis in die Gegenwart – nachwirkten. Paul Goldin hat sechs Elemente benannt, die seit der Shang-Zeit bestimmend bleiben und somit die Rede von einer mehr als dreitausendjährigen Geschichte rechtfertigen: die Schrift (1), die Herausbildung einer Sprache als Standardsprache (2), ein Kalender bzw. die rituelle Ermittlung glückverheißender und günstiger Tage (3), die patrilokale und patrilineare Familien- und Sippenstruktur (4), der Himmelsbegriff, der sich später zum Begriff des Himmelsmandats weiterentwickelte (5) sowie eine Raumordnungskonzeption, die sich in Gräberfeldern und im Haus- und Städtebau niederschlug (6).10

1. Die Schrift wurde auf Dauer zur wichtigsten Klammer für die Bildung und den Zusammenhalt der chinesischen Kultur. Zunächst ausschließlich für Zwecke der Kommunikation mit den Göttern und Ahnen verwendet, stellte sie bald das für sämtliche Aushandlungsprozesse und Verabredungen gültige Zeichensystem zur Verfügung. Da der Rang der Gottheiten jeweils vom Ausgang der Aushandlungsprozesse abhing, blieb deren Stellung variabel. So wurde die Schrift zur verlässlichen und vorrangigen Basis aller Verbindlichkeiten und überhaupt jeder Bildung.

2. Die Einbindung sämtlicher Sprachvarianten in das einheitliche Schriftsystem und die Beschränkung auf integrierbare Sprachen führte zu einem Übermaß an Komplexität, für deren Bewältigung es ausgeklügelter Strategien bedurfte.11 Allein schon die weit über 50 000 unterschiedlichen Schriftzeichen stehen für die über die Jahrhunderte bezeugte Bemühung um schriftliche Repräsentation sprachlicher Vielfalt. Dieses Schriftsystem setzte sich bei aller Variabilität aber auch seine eigenen Grenzen.12 Noch in der Vorgeschichte der Einführung des Beijing-Mandarin als Standardsprache in den 1950er Jahren spiegelt sich der Prozess der staatlichen und politischen Einigung seit dem Ende des Kaiserreiches. Die Einrichtung einer Aussprache-Kommission im Jahre 1912 hatte zunächst zu einem Kompromiss geführt, bei dem unterschiedliche Mandarin-Dialekte bzw. Regiolekte berücksichtigt wurden. Entsprechend nannte man dieses »bunte« Mandarin – eine Kunstsprache eigentlich – das »Blaugrüne Mandarin« ( lánqīng guānhuà) – treffender vielleicht sogar »gepanschtes Mandarin«.13

3. Seit der Shang-Zeit gibt es die Praxis der rituellen Ermittlung glückverheißender oder ungünstiger Tage, also einen Kalender mit der Festlegung von Zeiten unterschiedlicher Qualität. Dieser Kalender wurde zur Folie für eine Vielzahl von Ritualen bis hin zur Beschreibung von Lebensalter und zur Bestimmung von Personennamen.

4. Das Haus ( jia) und die Haustür ( hu) als Konzept des Haushalts und der Familie als soziale Grundeinheit repräsentieren das Prinzip patrilokaler und patrilinearer Familien- und Sippenstrukturen.14 Bis heute spiegeln sich diese Strukturen in Ritualen wie dem inzwischen zum offiziellen Feiertag erklärten Gräberreinigungsritual ( qingmingjie) Anfang April jeden Jahres. In der Familie und der gemeinschaftlichen Felderbestellung bildet sich das Vertrauen, das – wenn es gut geht – sich auf den chinesischen Herrscher erstreckt, der sich durch eigenhändiges Pflügen persönlich mit diesem Welthandeln verband und sogar im Europa der Aufklärung Aufmerksamkeit fand und als Vorbild hingestellt wurde.15

5. Die Vorstellung eines »Göttlichen Willens«, vermutlich bereits lange vor der Zhou-Zeit vorhanden, erhielt seine spezifische Form dann doch erst mit dem Begriff des Himmels ( tian), der Schutzgottheit des Zhou-Herrscherhauses, aus dem sich nach einer traumatischen...

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