Der Behinderungsbegriff bestimmt weite Teile der pädagogischen Praxis in der Behindertenhilfe, beispielsweise prägen die Paradigmen des Behinderungsbegriffes theoretische Modelle, Handlungskonzepte sowie das Rollenverständnis professioneller Helfer bzw. tragen zur Erweiterung ihres Blickfeldes bei.
Im Folgenden wird die Entwicklung der heutigen Sichtweisen auf Behinderung und deren geschichtliche Aspekte vorgestellt. Ein eigenständiger Beitrag zur Klärung des Problems und der Schwierigkeit einer umfassenden Definition, d.h. eines allgemein anerkannten Behinderungsbegriffes, kann nicht geleistet werden. Vielmehr ist es Ziel die unterschiedlichen Bestimmungsversuche des Behinderungsbegriffes zu verdeutlichten und diese abschließend handlungstheoretisch miteinander zu verknüpfen.
„Behinderung“ stellt heute einen komplexen, umfassenden und allgemeinen Begriff dar, welcher die Gesamtfolgen einer bestimmten Schädigung im Wahrnehmungs-, Denk-, Lern- sowie Verhaltensbereich beschreibt (vgl. Speck 2008/ Hörning 2004).
Einen allgemeingültigen Begriff von Behinderung gibt es bislang nicht, dennoch finden sich in der Literatur Definitionen, welchen ein gewisser Konsens zu Teil geworden ist (vgl. Bleidick 1999). Demnach gilt eine Person beispielsweise als behindert, welche als Folge ihrer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktion soweit beeinträchtigt ist, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erschwert wird (vgl. Bleidick 1999).
Die erst seit wenigen Jahrzehnten gebräuchliche Bezeichnung „behindert“ war anfänglich in pädagogischen Disziplinen nicht erforderlich. Orientiert hatte man sich zunächst an der Terminologie der Medizin und entwickelte vorerst keine eigene Definition. Allerdings trug dies zu einer Defizit und Abnormalität betonenden Sichtweise in pädagogischen Arbeitsfeldern bei (vgl. Sander 2002).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Terminus „behindert'“ vermehrt gebräuchlich, jedoch wurde er zunächst in Zusammensetzung oder mit dem Zusatz „geistig und körperlich“ konkretisiert (vgl. Sander 2002). Beispielsweise wurden so Kriegsversehrte des 1. Weltkrieges (1914-1918) als Körperbehinderte bezeichnet, was zudem den diskriminierenden Begriff „Krüppel“ ersetzte (vgl. Sander 2002).
Des Weiteren verwendete man den Begriff im Reichsschulpflichtgesetz des Nazi-Regimes von 1938 in Paragraph 6, indem man das Gesetz mit „Schulpflicht geistig und körperlich behinderter Kinder“ überschrieb (vgl. Sander 2002).
Der Behinderungsbegriff begann sich weiterhin einzubürgern, zu etablieren und weiterzuentwickeln, sodass „Behinderung“, als eigenständiger Oberbegriff in Alltags- und Rechtssprache, gebräuchlich wurde (vgl. Sander 2002). Wesentlichen Beitrag dazu leistete das Bundessozialhilfegesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1961, dort wurde unter anderem die „Eingliederungshilfe für Behinderte“ geregelt und der berechtigte Personenkreis mit dem Begriff „Behinderte“ erstmals ohne Zusatz bezeichnet und bestimmt, wenn auch noch nicht hinreichend definiert (vgl. Sander 2002).
„Dieser aus dem Sozialrecht kommende Behinderungsbegriff hat sich in der Bundesrepublik Deutschland alltagssprachlich weiterhin durchgesetzt. Er konnte jedoch wissenschaftlichen Ansprüchen der theoretischen Sonderpädagogik nicht genügen“ (Sander 2002, 101).
Im Sinne des SGB IX, der gesetzlichen Grundlage für Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, gilt ein Mensch heute als behindert, wenn seine „[...] körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX in Stascheit 2008, 1303).
Heutzutage kann aus rechtlicher Sicht nicht auf einen solchen Oberbegriff von Behinderung verzichtet werden, schließlich wird durch diese „Hilfsetikette“ (vgl. Theunissen 2005 zitiert aus: Speck 1999) das Arrangieren von geeigneten (Hilfe-) Maßnahmen, Zuwendungen sowie Lebensbedingungen oder konkreten Leistungen der Eingliederungshilfe erst ermöglicht (vgl. Theunissen 2005, 29f). Die Notwendigkeit dieser Formulierung und Definition zeigt sich demnach im Akt bürokratischer Hilfezumessung sowie Hilfezuteilung als erforderlich (vgl. Bleidick 2002/ Theunissen 2005).
Im Folgenden werden ausgewählte bzw. verbreitete Definitionen zum pädagogischen Behinderungsbegriff zusammengefasst:
Einer der frühesten und bekanntesten Systematisierungsversuche stammt von Heinz Bach, welcher 1969 beginnt seine Definitionen und Herangehensweisen vorzustellen (vgl. Sander 2002).
Sein zentraler Oberbegriff ist „Beeinträchtigung“, während „Behinderung“ lediglich als eine der möglichen Ausprägungsformen neben Schädigung der individualen Disposition, Benachteiligung und Belastung gilt (vgl. Biewer 2009). Des Weiteren unterscheidet Bach zwischen drei „Schweregraden der Beeinträchtigung“:
Behinderung (höchster Schweregrad), die umfänglich, d.h. mehrere Bereiche betrifft, schwer bzw. stark abweichend von dem Durchschnitt und langfristig, d.h. in absehbarer Zeit nicht behoben oder zurückgehen wird
Störung, welche sich als partiell, weniger schwer und kurzfristig darstellt
Gefährdung, die vorliegt, wenn Unregelmäßigkeiten bei der individualen Disposition, Umweltbedingungen und -anforderungen vorliegen, welche in ihrem Ausmaß eine Störung oder Behinderung entstehen lassen können (vgl. Biewer 2009)
Demnach stellt Behinderung eine individuale Beeinträchtigung dar, deren Merkmale an der betroffenen Person selbst zu suchen sind. Daneben sieht Bach auch die „Beeinträchtigung durch die Gesellschaft“ als wesentlichen Faktor für die Entstehung bzw. Begünstigung sowie Behandlung dieser, d.h. er erkennt den Zusammenhang von Behinderung und Umfeld (vgl. Sander 2002). Jedoch hat sich diese Unterteilung im Fachgebiet der Pädagogik nicht gänzlich durchsetzen können. Dem Begriff „Beeinträchtigung“ als alternative Bezeichnung für „Behinderung“ kommt heutzutage dennoch Bedeutung zu (vgl. Biewer 2009).
In einer späteren Herangehensweise stellt Heinz Bach den beschriebenen Zusammenhang deutlicher heraus, indem er Behinderung nicht weiter als eine Eigenschaft beschreibt, sondern als eine Relation zwischen individualen und außerindividualen Bedingungen, beispielsweise Verhaltenserwartung der Umwelt, Verhaltensdisposition des Individuums und Verhaltens- bzw. Lebensbedingungen. Behinderung beruht demnach auf der intersubjektiven Relation der Beobachtung und Selbstbeobachtung (vgl. Sander 2002).
Dieser rationale Behinderungsbegriff ist von dem relativen, wie von Lindmeier beschrieben, zu unterscheiden. „Der relative Behinderungsbegriff geht von einer objektiv bestehenden individualen Schwäche aus, die in Abhängigkeit von bestehenden gesellschaftlichen, kulturellen, milieubedingten und anderen Außenbegebenheiten sich als Behinderung auswirkt oder nicht“ (Sander 2002, 102).
Durch Ulrich Bleidick wird der Behinderungsbegriff, unter anderem in seinem Hauptwerk „Pädagogik der Behinderten“ ausführlich diskutiert. Behinderung ist für ihn kein pädagogischer Begriff, sondern wird erst relevant, wenn der „übliche Weg der Erziehung“ bzw. Bildung aufgrund einer Behinderung verstellt oder eingeschränkt wird und so pädagogische Interventionen notwendig werden (vgl. Sander 2002).
Des Weiteren kritisiert Otto Speck den Behinderungsbegriff als zu unbestimmt und allgemein, die Abweichung betonend und hinsichtlich seiner Hinderung für die Integration (vgl. Sander 2002). Auf der anderen Seite plädieren andere Vertreter der integrativen Pädagogik für den Behinderungsbegriff, um ihrer Aufgabe gerecht werden zu können (vgl. Sander 2002).
Der Ausschuss „Sonderpädagogik“ von 1973, unter anderen mit den genannten Vertretern Bach, Bleidick und Speck, erarbeitete eine „Empfehlung zum erziehungswissenschaftlichen Behinderungsbegriff“. Darin wurde „Beeinträchtigung“ als Oberbegriff verwendet und man einigte sich darauf, dass Behinderung als Folge von Schädigung oder Beeinträchtigung entstehen kann. „Die Behinderung eines Menschen ist nicht identisch mit seiner- medizinisch oft genau fassbaren- Schädigung, und sie ist auch nicht linear abhängig von der Schädigung; vielmehr wird sie von anderen, außerindividualen Bedingungen wesentlich mitbestimmt“ (Sander 2002,...