Dieses Kapitel beschäftigt sich mit zwei Themenbereichen, in denen die emotionale Befindlichkeit der zweiten Generation im Mittelpunkt steht. Zuerst sollen die Beziehungen der Jugendlichen zu ihren Eltern und die Familiensituation beleuchtet werden. Gibt es in Familien mit Migrationshintergrund häufiger Konflikte als in einheimischen Familien, und wenn ja, spiegeln diese einen „Kulturkonflikt“ wider, der innerhalb der Familie ausgetragen wird, oder es handelt sich um typische Generationenkonflikte?
In sehr enger Verbindung mit der familiären Situation steht zweifellos die Frage nach der Identitätsentwicklung. Aufgrund der unterschiedlichen kulturellen und sozialen Kontexte kann es zu Sozialisationswidersprüchen und daher zu Schwierigkeiten bei der Ausbildung der Identität kommen. In der Literatur wird häufig von einer „Identitätskrise“ oder von einer „Identitätsdiffusion“ gesprochen.[33]
Die durch die Migration geforderten Lebensumstellungen und Anpassungsleistungen können als Krise, aber auch als Neuanfang erlebt werden. Die Familie kann in einer solchen Situation durch ihre innere Solidarität, durch gegenseitige psychische und materielle Unterstützung, eine wichtige Funktion innehaben. Es finden sich unzählige Studien, die sich mit der Konfliktbehafteten Situation in Migrantenfamilien beschäftigen und diese auch betonen. Solche subjektiven Kulturkonflikte entstehen jedoch nicht nur durch interkulturelle Migration, d.h. durch einmaligen Kulturwechsel und das Leben in der Fremde, sondern auch durch bikulturelle Sozialisation, d.h. durch ein andauerndes, alltägliches Pendeln und Leben zwischen zwei Kulturen.[34]
Es wird argumentiert, dass aufgrund des vorherrschenden Traditionalismus in den zugewanderten Familien und der damit verbundenen Wertevermittlung, wie geschlechtsspezifische Erziehung oder die Aufrechterhaltung der Autoritätsverhältnisse, ein Spannungsverhältnis zwischen den in der Familie lebendigen Normen des Herkunftslandes und der modernen Kultur des Aufnahmelandes entsteht. „Abgesehen von den politisch rechtlichen und sozial ökonomischen Bedingungsfaktoren ihrer Sozialisation […] erfahren diese Kinder oft schmerzlich, was es heißt, sich zwischen kulturell konträren Wertvorstellungen, Leitbildern und Verhaltensmustern entscheiden zu müssen und weitgehend auf sich selbst gestellt zu sein“.[35] Die Jugendlichen müssen diesen widersprüchlichen Anforderungen und Erwartungen gerecht werden und geraten in das Dilemma, Familie und Verwandtschaft auf der einen Seite, Peers und soziale Kontakte auf der anderen Seite.
In der Bildungsforschung und in den UN-Menschenrechtsausschüssen ist lange bekannt, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund schlechtere Chancen haben, zum Beispiel nach der Grundschule eine Gymnasialempfehlung zu bekommen als Kinder ohne Migrationsgeschichte. Erst den international vergleichenden Schulleistungsstudien wie PISA und TIMMS ist es gelungen, eine breite Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, dass von einer "echten Gleichbehandlung im täglichen Schulleben" nicht die Rede sein kann, wenn man sich die Bildungskarrieren dieser Gruppe anschaut.
Doch Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind vor allem nicht eines: eine homogene Gruppe. In Bezug auf ihre Bildungschancen spielen Kriterien wie Geschlecht, das Alter, der Sprachengebrauch, die Dauer der Aufenthalte in Deutschland und in anderen Ländern, das Datum der Einreise, der Geburtsort der Eltern und der Großeltern, die Staatsbürgerschaft, die soziale Herkunft und die Religionszugehörigkeit wichtige Rollen.
Es ist ein großer Unterschied ob ein Kind als Flüchtling, Aussiedler oder als Kind von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in die deutsche Schule kommt. Kinder, deren Eltern in Deutschland Asyl beantragt haben, sprechen eher kein deutsch, haben womöglich zuvor keine Schule besucht und müssen, da ihr Aufenthaltsstatus ungeklärt ist, Angst vor der Abschiebung durch deutsche Behörden haben. Auch ist entscheidend, in welchem Bundesland sie sich aufhalten, da die Regelungen zum Schulbesuch sich bei bestimmten Aufenthaltstiteln regional unterscheiden. Kinder von Familien, die in der dritten Generation in Deutschland leben, haben dagegen ihren Lebensmittelpunkt immer in Deutschland gehabt, sprechen deutsch, haben ausschließlich in Deutschland die Schule besucht, überwiegend die deutsche Staatsbürgerschaft und müssen sich im Prinzip wundern, warum ihnen trotz ihres deutschen Passes ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird. Kinder von Aussiedlern und Aussiedlerinnen bilden die größte Gruppe der Zuwanderer, verfügen in der Regel über die deutsche Staatsbürgerschaft und treten als Seiteneinsteiger in das deutsche Bildungssystem ein.[36]
Bekanntlich hat erstmalig die PISA-Studie aussagekräftige Daten über die Bildungskarrieren von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund erhoben, da sie sich nicht, wie bislang die amtlichen Statistiken, auf die Staatsbürgerschaft beschränkt hat. Um den Migrationshintergrund zu ermitteln, wurden die Kriterien Sprachgebrauch in der Familie, Geburtsort der getesteten Person sowie die Geburtsorte der Eltern aufgenommen.
Die Befunde von PISA zeigen: Während Jugendliche, die PISA-Studie hat 15-Jährige Schülerinnen und Schüler getestet, ohne Migrationsgeschichte überwiegend Realschulen und Gymnasien besuchen, sind Jugendliche mit mindestens einem Elternteil aus der Türkei sowie aus der ehemaligen Sowjetunion auf Real- und Hauptschulen anzutreffen. Fast jeder zweite türkische Jugendliche besucht eine Hauptschule und nur jeder achte ein Gymnasium.
Die Unterschiede lassen sich bereits beim Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule beobachten: Kinder mit mindestens einem im Ausland geborenem Elternteil sind häufiger nach der Übergangsentscheidung an einer Hauptschule anzutreffen als Kinder ohne Migrationsgeschichte. Zudem korrigieren sie ihre Übergangsentscheidung seltener durch Aufstiege. Auch der Vergleich derjenigen Kinder und Jugendliche, die auf ein Gymnasium oder eine Realschule übergehen, zeigt unterschiedliche Verlaufsmuster: Von hundert Kindern ohne Migrationsgeschichte, die nach der Grundschule auf ein Gymnasium gehen, verbleiben dort 83 bis zur 9. Jahrgangsstufe, während das bei hundert Kindern mit Migrationsgeschichte nur für 77 Kinder der Fall ist. Noch größer sind die Unterschiede beim Besuch der Realschule: 84 Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund verbleiben in diesen Schulen, während nur 73 Prozent der Jugendlichen mit Migrationsgeschichte auch noch in Jahrgangsstufe 9 dort anzutreffen sind. Im Verlauf des Sekundarbereichs I wechseln 20 Prozent aller Kinder mit Migrationshintergrund auf die Hauptschule, während es bei Kindern ohne Migrationsgeschichte nur 10 Prozent sind. Folglich ist es für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht nur schwieriger im Schulsystem aufzusteigen, sie haben auch größere Probleme als Gleichaltrige, nicht auf ein niedrigeres Schulniveau abzusteigen.[37]
Verfolgt man die Publikationen über die Bildungserfolge ausländischer Kinder und Jugendlicher – ob wissenschaftlich oder in den allgemeinen Medien, so bekommt man unweigerlich den Eindruck, um die Bildungserfolge aller in Deutschland lebenden ausländischen Kindern und Jugendlichen sei mehr als schlecht bestellt. Fast unisono verkünden diese Veröffentlichungen, ausländische Kinder und Jugendliche verließen das deutsche Schulsystem mit deutlich schlechteren Bildungsabschlüssen als deutsche Kinder und Jugendliche. Auch die Ergebnisse der PISA-Studie benennen ähnliche Daten. So schlussfolgert das deutsche Pisa-Konsortium[38] einen generellen strukturellen Unterschied in der Bildungsbeteiligung zwischen Kindern mit einem oder zwei deutschen Eltern einerseits und Kindern mit zwei eingewanderten Eltern andererseits.[39] Bommes/Radtke belegten bereits 1993 eine institutionelle Diskriminierung ausländischer Kinder und Jugendlicher in deutschen Schulen. Auch wenn an einer institutionellen Benachteiligung in vielerlei Hinsicht sicherlich kein Zweifel besteht, so gilt dies nicht generell in gleicher Weise für alle Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Verschiedene Studien haben beispielsweise gezeigt, dass die Bildungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund entsprechend der jeweiligen Herkunftsgruppe sehr unterschiedlich ausfällt und eine pauschalisierende Schlussfolgerung der Situation nicht angemessen ist. Auch das PISA-Konsortium[40] selbst verweist auf unterschiedliche Bildungserfolge verschiedener Zuwanderergruppen, auch wenn es nur sehr grob abgegrenzte Gruppen bildet: Es weist ebenfalls darauf hin, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund keine einheitliche Gruppe bilden.[41] Dennoch gilt die verallgemeinernde Aussage, ausländische Kinder und Jugendliche hätten weniger Schulerfolg als deutsche Schüler, in der...