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E-Book

Dachdecker wollte ich eh nicht werden

Das Leben aus der Rollstuhlperspektive

AutorRaúl Aguayo-Krauthausen
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644506510
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Ein persönliches Plädoyer für Toleranz und Freude am Leben Menschen tätscheln ihm den Kopf oder starren ihn an - Raúl Aguayo-Krauthausen, der aufgrund seiner Glasknochen im Rollstuhl sitzt und kleinwüchsig ist, weiß, dass viele Menschen Schwierigkeiten haben, mit Behinderten unverkrampft umzugehen. Dabei ist jeder zehnte Deutsche behindert, da sollten wir uns doch eigentlich an den Umgang mit jenen gewöhnt haben, die nicht «normal» sind. Doch das Gegenteil ist der Fall. Raúl Aguayo-Krauthausen sieht seine Behinderung als eine Eigenschaft von vielen. Er beschreibt mit Witz und Sachkenntnis, wie sein Alltag wirklich ist und wie ein Miteinander von behinderten und noch-nicht-behinderten Menschen aussehen kann. «Was soll denn an dieser Behinderung Besonderes sein? Raúl Krauthausen ist einfach ein sehr beeindruckender Mensch mit starken Gaben. Er hat viel zu sagen und sich über seinen Rollstuhl schon lange erhoben.» (Roger Willemsen)

Raúl Aguayo-Krauthausen, 1980 in Peru geboren, ist in Berlin aufgewachsen. Er sitzt im Rollstuhl und arbeitet als Inklusions-Aktivist u.a. für die SOZIALHELDEN, einen gemeinnützigen Verein, den er 2004 selbst gegründet hat. Als studierter Kommunikationswirt und Design Thinker ist er seit über 15 Jahren in der Internet- und Medienwelt aktiv. Er erfand die Wheelmap, eine Karte für rollstuhlgerechte Orte, protestierte vor dem Bundestag für ein gutes Teilhabe- und Gleichstellungsgesetz, erwirkte eine Verfassungsklage gegen die Triage-Regelung und klärt u.a. in Blogartikeln, Fernsehbeiträgen und in seinen Podcasts über Behinderung auf. Seit 2015 moderiert er mit 'KRAUTHAUSEN - face to face' seine eigene Talksendung. Für seine Verdienste um die sozialen Belange von behinderten und sozial benachteiligten Menschen wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. 

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Leseprobe

Es ist noch Suppe da


«Der letzte Arbeitsauftrag ist für zu Hause», wandte sich einer der drei Dozenten im Assessment-Center an uns. «Die Aufgabe besteht darin, euch ein umfassendes Bild von einer asiatischen Nudelsuppe zu machen. Wie sieht sie aus, wonach riecht, wonach schmeckt sie?» Hinter dem Mann wurde mit einem Beamer das Bild einer bunten Tütensuppe an die Leinwand geworfen. «Probiert die Suppe auch in trockenem Zustand, bevor ihr sie wie auf der Packung angegeben zubereitet.» Manche sahen sich verwundert an. «Vergesst nicht, euch Notizen zu machen, und überlegt, wie sich das Produkt eventuell verbessern lässt. Habt dabei den möglichen Konsumenten und seine Bedürfnisse im Hinterkopf. Morgen besprechen wir eure Ergebnisse, vielen Dank.» Dann gingen Ahmet und seine beiden Kollegen herum und verteilten vierzig Tüten mit asiatischen Instantsuppen. Vierzig Tüten für vierzig Bewerber.

Zurück in meiner WG-Küche, betrachtete ich eindringlich die grellbunte, rechteckige Tüte, als könnte sie mir ein Geheimnis verraten. Ich war gespannt, denn ich hatte diese Art Fertiggericht bis dahin noch nie gegessen. Angesichts sonstiger Fertigprodukte erwartete ich aber, ehrlich gesagt, kein großartiges kulinarisches Highlight. Aber ich wollte ja vorurteilsfrei an die Sache rangehen. Insgesamt war die Nudelsuppe etwas dicker als die Fertigsuppen, die ich aus Supermärkten kannte, dennoch wog sie leicht in der Hand. Nach äußerer Begutachtung schüttelte ich die auffallend farbige Tüte. Der Inhalt raschelte. Die unterschiedlichen Bestandteile – wahrscheinlich Brühe, Nudeln und vielleicht noch irgendwelches Gemüse – konnte ich durch die Verpackung fühlen. Aufgrund meiner Behinderung brauche ich bei vielen Tätigkeiten Unterstützung. Also rief ich Tom, meinen Assistenten, der im Bad Wäsche in die Maschine stopfte. Ich bat ihn, die Tüte für mich zu öffnen.

«Gibst du sie mir wieder?», sagte ich, nachdem er meiner Bitte gefolgt war.

Tom schaute mich erstaunt an. «Wie? Ich dachte, das ist dein Abendessen. Was hast du damit vor?»

«Alles, was man mit einer Suppe anstellen kann. Eine umfassende Erforschung. Und das beinhaltet auch die Überlegung, ob die Verpackung, Nutzung oder die Rezeptur verbesserungswürdig ist.»

Hatte mich Tom schon vorher irritiert angeschaut, nun sah er aus, als würde er ein wenig an meinem Verstand zweifeln. «Sag mal, was für eine Art Assessment ist das eigentlich, das du da durchläufst?»

Gute Frage. Ich selbst war immer noch ganz gefangen von dem, was ich am ersten Tag an der HPI-School of Design Thinking erlebt hatte. Wir nannten sie nur D-School. Design Thinking wird dort als Zusatzstudium angeboten, die Schule selbst ist als Forschungsinstitut an die Uni Potsdam angegliedert. Ich hatte davon gelesen, und der Artikel hatte meine Neugier geweckt, sodass ich wenig später zum Tag der offenen Tür 2008 ging. An diesem Tag stellte der erste Jahrgang seine Projekte vor. Eine Gruppe hatte einen Leitfaden für Menschen mit geistiger Behinderung entwickelt, der es ihnen ermöglichen sollte, bei Bedarf mit Passanten in Kontakt zu treten, um letztlich allein in der Stadt zurechtzukommen. In einer Art Ort-Ordner waren beispielsweise Karten mit Fragen nach dem Weg zur nächsten U-Bahn-Station abgeheftet. Daneben befand sich das entsprechende Symbol, in dem Fall das Zeichen für U-Bahn. Eine andere Idee war eine Website, auf der man Wohnungen nicht nur nach Größe und Mietpreis suchen konnte, sondern auch nach Aspekten wie der Anzahl von Spielplätzen. Den Gesprächen mit Studenten entnahm ich, dass Querdenken und Experimentieren gefragt waren. Elektrisiert fuhr ich nach Hause.

Eigentlich war Querdenken nichts Neues für mich, denn seit 2002 studierte ich Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste und arbeitete bei Radio Fritz. Das war eine ganze Menge. Dennoch hatte mich die Vorstellung ans Querdenken gepackt. Und was mir auch gefiel: Lehrende und Studenten kamen aus den verschiedensten Fachrichtungen und Nationen. Meine Mutter ist eine Deutsche, mein Vater Peruaner, geboren bin ich in Lima, aufgewachsen in Berlin. Und bei diesem unkonventionellen Studiengang sah ich die Chance, einmal nicht als der Mobilitätseingeschränkte im Rollstuhl, als der mit den Glasknochen wahrgenommen zu werden. So bewarb ich mich – und wurde mit vierzig anderen zu einem Assessment-Center eingeladen. Wir alle waren Konkurrenten um die begehrten Studienplätze.

Tom schüttelte den Kopf, während ich meine Nase über die geöffnete Tüte hielt. Ein extremer Maggi-Geruch strömte mir entgegen. Sonst nichts. Dann steckte ich einen Finger hinein und probierte etwas, was ich nicht ganz einordnen konnte. So undefinierbar es aussah, so undefinierbar schmeckte es.

«Und, Mr. Gourmet, erfreut das Zeug deinen Gaumen?» Tom sah mich skeptisch an.

«Na ja, von einem großartigen Geschmack kann kaum die Rede sein. Es ist verdammt salzig. Eigentlich schmecke ich nur Salz. Hochprozentiges Salz.»

Etwas komisch kam ich mir schon vor, als ich nun ein paar von den kleinen kringeligen Nudeln aß. Ihre Konsistenz fühlte sich ein wenig merkwürdig an, immerhin kaute ich ungekocht auf ihnen herum, und so etwas wie Eigengeschmack hatten sie auch nicht. Hatten Nudeln im Trockenzustand das überhaupt? Als großer Kochprofi konnte ich mich nicht gerade outen.

«Also, die Suppe kann ich so nicht empfehlen. Aber was nicht ist, kann noch werden. Auf der Verpackung steht, wie man sie zubereiten soll. Es wäre toll, wenn du mir dabei helfen könntest.»

Tom war ein perfekter Gehilfe bei diesem Experiment. Er setzte Wasser auf und gab den Tüteninhalt in eine Art Müsli-Schüssel. Als das Wasser heiß war, goss er es in der angegebenen Menge über das Instant-Etwas. Dampf stieg noch immer empor, als er sie vor mir auf den Küchentisch stellte. Ein noch intensiverer Maggi-Geruch umnebelte mich. Dann wurden Frühlingszwiebelröllchen erkennbar, sie schwammen an der Oberfläche. Auch ein paar dünne Karottenstreifen konnte ich ausmachen, fast ohne Lupe, und auf dem Grund der Schale die Nudeln.

Jetzt wurde es ernst. Ich nahm einen Löffel von der gelblichen, dünnen Brühe und pustete, um mir nicht die Zunge zu verbrennen. Anders als der Geruch vermuten ließ, schmeckte die fertige Suppe nicht salzig, sondern künstlich. Und extrem wässrig. Beim Essen war ich nicht sehr anspruchsvoll, aber sofort war klar: Nie wieder würde ich zu dieser Tüte greifen. Nur im Notfall, bevor ich verhungern würde. Gäbe man Fleisch oder frisches Gemüse hinzu, so wäre es eigentlich schade darum. Fazit: Verbessern konnte man die Suppe nur, wenn man ein neues Rezept erfand. Punkt.

Neben der Tütensuppe hatten die Dozenten jedem von uns eine weiße Kladde mitgegeben, der Papprahmen war metallbeschichtet. Sie sah sehr stabil aus, erwies sich aber für mich als unhandlich, weil sie zu schwer und zu groß war. Ständig hätte ich jemanden bitten müssen, sie aus meinem Rucksack hinten am Rollstuhl zu holen und sie wieder dort zu verstauen. Aus dem Grund war ich dazu übergangen, vieles mit meinem Handy abzufotografieren. So konnte ich zum Beispiel auf Dateien zurückzugreifen, die in meiner Dropbox abgelegt waren. Nach dem Küchenexperiment nahm ich aber stattdessen einen Zettel zur Hand, um darauf meine Eindrücke von der Suppe festzuhalten.

 

Der zweite Tag begann mit einem Warm-up. Ahmet, der uns den Tütensuppen-Auftrag erteilt hatte, stellte sich in die Mitte des Raumes, breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und sagte: «Ich bin ein Baum.» Bevor wir es uns versahen, war der zweite Dozent, Harry, in die Rolle eines Vogels geschlüpft, der um den Baum flog, und der dritte gab vor, ein Apfel zu sein. Nach anfänglichem Zögern folgten die ersten Studenten. Einer von uns Bewerbern schnappte sich einen der bunten Würfel, die als Sitzgelegenheit dienten, und mimte einen Gärtner mit Rasenmäher. Ein anderer stellte auf allen vieren eine Bank dar, auf der eine Kommilitonin Platz nahm und tat, als würde sie Zeitung lesen. «Kinder» spielten Fangen, eines davon versuchte, am «Baum» hochzuklettern. Schon bald war um mich herum ein wildes Treiben im Gange. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich als einer der Letzten für die Rolle des Hundes und fuhr zwischen den anderen hindurch. Das schien mir am wenigsten gefährlich, denn ich hatte Angst, dass ich mir in dem Durcheinander Knochen brechen könnte.

Als Nächstes trugen wir unsere Ergebnisse zusammen. Dafür vorgesehen waren bunte Haftnotizen, um sie für alle gut sichtbar am Whiteboard anzubringen. Um meinen Verbesserungsvorschlag – eigentlich war es ja kein wirklicher, aber wäre es gut angekommen, wenn ich die ganze Tüte in den Müll geworfen hätte? – zu illustrieren, hatte ich eine Kuh gezeichnet, die man vor allem anhand ihres Euters erkennen konnte. Zeichnen konnte ich noch nie gut. Damit es schnell ging, hatte sie Ahmet für mich am Whiteboard angebracht. Am Vortag war er auch auf die Idee gekommen, eine Parkposition auf den Boden zu kleben, damit ich im Raum einen festen Platz hatte. Und die Rollen eines der Stehtische hatte er, als sich herausstellte, dass sie für mich zu hoch waren, einfach abgeschraubt. Schnell, unkompliziert.

Danach wurden wir aufgefordert, uns in Gruppen einzufinden. In meiner waren noch drei Männer sowie eine Frau.

«Wie eine asiatische Fertignudelsuppe zu goutieren ist, wisst ihr nun.» Ahmet wandte sich wieder an uns. «Doch wie schmeckt eigentlich eine richtige chinesische Nudelsuppe?» Er machte eine kurze Pause, in der er uns bedeutungsvoll ansah. «Das sollt ihr nun herausfinden. Mit der...

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