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Der Streit ums Nadelöhr

Körper, Psyche, Soziales, Kultur - Wohin schauen systemische Berater?

AutorFritz B. Simon, Jürgen Kriz
VerlagCarl-Auer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl152 Seiten
ISBN9783849782023
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis28,99 EUR
Jeden Tag aufs Neue sind Coachs, Organisationsberater und Psychotherapeuten mit den immer gleichen zentralen Fragen konfrontiert: Mit welchen Systemen habe ich es zu tun? Woher kommt mein Auftrag? Worauf richten wir unsere Aufmerksamkeit? Wo gibt es Chancen, dass Interventionen wirklich greifen? Was tun, wenn sich nichts tut? Die spannende Debatte um leitende Unterscheidungen im systemischen Ansatz und deren Folgen für die beraterische Praxis wird hier genauso fundiert und ausführlich wie unterhaltsam und witzig geführt. Zwei ausgewiesene Experten stellen sich paradigmatisch den Anforderungen, die aus der Unsicherheit des beraterischen Alltags entstehen - mit sicherem Zugriff auf die wunden Punkte, die die Frage der Entscheidung für den Fokus auf Person oder größere Systeme so wichtig machen. Ist das 'Nadelöhr' des Subjekts unverzichtbar, wie es der Personzentrierte Ansatz postuliert, oder könnte man es in bestimmten Kontexten ungestraft wegdenken? Ein äußerst lehrreicher Streit, für Anfänger genauso wie für erfahrene Berater, Coachs und Therapeuten!

Jürgen Kriz, Univ.-Prof. em. Dr. phil.; Studien der Psychologie, Sozialpädagogik, Philosophie, Astronomie/Astrophysik; Psychologischer Psychotherapeut; Professuren in Statistik/Forschungsmethoden/Wissenschaftstheorie, seit 1980 in 'Psychotherapie und klinischer Psychologie' an der Universität Osnabrück. Gastprofessuren in Wien, Zürich, Berlin, Moskau, Riga und USA. Fritz B. Simon, Dr. med., Univ.-Prof.; Studium der Medizin und Soziologie; Psychiater und Psychoanalytiker, systemischer Therapeut und Organisationsberater. Forschungsschwerpunkt: Organisations- und Desorganisationsprozesse in psychischen und sozialen Systemen. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 31 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Der Prozeß der Individuation (1984), Die Sprache der Familientherapie (1984), Lebende Systeme (1988), Unterschiede, die Unterschiede machen (1988), Meine Psychose, mein Fahrrad und ich (1990), Radikale Marktwirtschaft (1992), Die andere Seite der Gesundheit (1995), Die Kunst, nicht zu lernen (1997), Zirkuläres Fragen (1999), Tödliche Konflikte (2001), Die Familie des Familienunternehmens (2002), Gemeinsam sind wir blöd!? (2004), Mehr-Generationen-Familienunternehmen (2005), Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus (2006), Einführung in die systemische Organisationstheorie (2007), Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs (2009), Einführung in die Systemtheorie des Konflikts (2010), 'Zhong De Ban' oder: Wie die Psychotherapie nach China kam (2011), Einführung in die Theorie des Familienunternehmens (2012), Wenn rechts links ist und links rechts (2013), Einführung in die (System-)Theorie der Beratung (2014), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018). Herausgegeben von: Matthias Ohler, Studium der Philosophie und Linguistik; Systemischer Berater, Musiker; Geschäftsleiter des Carl-Auer Verlages; Geschäftsführer der Auer & Ohler GmbH Heidelberger Kongressbuchhandlung; Leiter der Carl-Auer Akademie im Carl-Auer Verlag; Dozent und Ausbilder in eigenen Weiterbildungsreihen und an Hochschulen, Kliniken sowie Weiterbildungsinstituten. Mitbegründer des Ludwig-Wittgenstein-Instituts.

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Leseprobe

Das Nachwort als Ouvertüre


OHLERWem außer uns könnte dieses Gespräch nutzen, über den Spaß hinaus, den es uns gemacht hat und den es hoffentlich auch anderen stiftet?

KRIZAlso mich hat es an Reflecting Team erinnert. Das hat ja ein bisschen Ähnlichkeit mit unserem Gespräch: Es schafft Komplexität, verändert damit. Es hat aber auch, wenn du so willst, Modellcharakter, nämlich den Modellcharakter, dass sich zwei Leute oder das Reflecting Team unterhalten können, mit unterschiedlichen Sichtweisen, ohne sich an die Gurgel zu gehen. Sondern mit gegenseitiger Wertschätzung einfach zu sehen: Es gibt unterschiedliche Theorieansätze, wo man nicht entscheiden muss, wer wirklich recht und wer nicht recht hat. Wo man also das ganze maligne Gerangel der derzeitigen Debatten um die »Wissenschaftlichkeit« von bestimmten Psychotherapieansätzen außen vorlassen kann. Wo man anerkennt, dass die Ansätze different sind, aber nur zusammen, in ihrer Gesamtheit, etwas weiterbringen.

Es gäbe vermutlich noch weitere Perspektiven, die man zukünftig auch mit einbeziehen könnte. Diese Komplexität, nicht nur der Welt, sondern auch der Diskurse und der theoretischen Erklärungen, muss ausgehalten werden. Und wenn man sehr viele Dinge liest, wo es immer darum geht, wer hat denn nun recht, hat unser Gespräch schon mal Modellcharakter, in dem Sinne, dass Leute sehen: Aha, da ist ein Autopoietiker, und da ist ein Synergetiker, und jeder hat sein eigenes Zeug daraus gestrickt. Die können sich sehr wohl differenziert auseinandersetzen, sind sich in manchen Dingen einig, sehen in anderen Dingen auch Unterschiede. Die Wertschätzung hat man, glaube ich, durchgespürt – und das ist ein guter Modellcharakter, wie man miteinander umgehen kann. Also gerade in Deutschland, wo zufällig etablierte Ansätze im Augenblick die anderen nur als Konkurrenz sehen und versuchen, diese plattzumachen.

SIMONIch glaube auch, man muss sich über Sachfragen auseinandersetzen können. Und man muss die sachlichen Konflikte von der Person trennen. Deswegen war meine Idee immer, dass man sich nur auf der Basis einer tragfähigen persönlichen Beziehung gut über Sachfragen streiten kann. Nur dann kann man dem anderen sagen: »Du hast ein vermanschtes Theoriekonzept.«

KRIZOhne, dass ich dir etwas ins Gesicht schütten muss.

SIMONSachliche Kontroversen müssen ja die Wertschätzung an der Person des anderen nicht beeinträchtigen. Sie sind auch nicht als Abwertung seiner Arbeit zu verstehen. Ich schätze, zum Beispiel, die Arbeit von Jürgen sehr. Aber es geht um – manchmal nur kleine – Differenzen in Theorie und Praxis. Die Auseinandersetzung über derartige Differenzen gehört für mich zur Professionalität. Diese Feinheiten gehen üblicherweise verloren, wenn wir, wie gerade im Psychobereich, eine ganz starke Schulenbildung haben. Man muss sich in der Regel für die eine oder für die andere entscheiden. Das bekommt dann quasireligiöse Merkmale.

KRIZMit Feindbildern, die dann aufgebaut werden.

SIMONFeindbilder, Gegensätze und Loyalitätsfragen werden hochgepeppt, und die Frage, was denn nun tatsächlich die Gegensätze sind, fällt unter den Tisch und wird gar nicht mehr thematisiert.

Auf der Metaebene kann man aber vieles zusammenfügen. Ich glaube, man kann unterschiedliche theoretische und praktische Modelle erst integrieren, wenn man bereit ist, die Unterschiede zu betonen und sich zu streiten.

KRIZUnd zusammenzufügen.

SIMONMan muss die Konflikte verschärfen und verdeutlichen, damit man sehen kann, welches die Unterschiede sind. Manche erweisen sich als unwichtig, andere als wichtig und zentral, sodass man sie nicht leugnen und um des lieben Friedens willen aufgeben kann.

Das heißt aber nicht, dass man nicht zusammenarbeiten kann. Ich habe ganz viel mit Kollegen zusammengearbeitet, die anderer Meinung waren als ich. Das war für mich immer viel interessanter als allein zu arbeiten, denn ich kenne mich und meine Arbeitsweise ja schon.

KRIZMehr oder weniger.

SIMONIch kenne mich nicht wirklich, aber ein bisschen doch …

KRIZAlso als Subjekt gerade kennst du dich nicht sehr.

SIMONIch weiß schon ganz gut, welche Art von Einfällen bei welcher Art von Problemen oder Klienten ich habe, derentwegen ich in Wiederholungsschleifen gerate. Wenn ich hingegen mit jemandem zusammenarbeite, der einer anderen Theorie folgt, dann kann es entweder sehr mühsam sein, wenn wir darum ringen …

KRIZWer hat recht?

SIMON… wer recht hat oder sich durchsetzt. Ich ringe in der Regel nicht ums Rechthaben. Ich gebe üblicherweise nach, wenn ich mit so jemandem zusammenarbeite, und denke mir meinen Teil, weil es sonst auf Kosten unserer Klienten geht.

Aber es passiert mir auch nur relativ selten, dass ich bereit bin, mit Kollegen oder Kolleginnen zusammenzuarbeiten, von denen ich denke, dass wir uns streiten werden. Aber meistens ist es eher anregend zu sehen: »Oh, da hat jemand eine andere Idee, die sich auch aus einem anderen Deutungsrahmen für das ergibt, was hier gerade passiert!« Dann erlebe ich das als sehr befruchtend, und es kann hoch produktiv sein. Zwei Kollegen, die dieselbe Meinung haben, sollten nie als Team zusammenarbeiten, denn dann könnte jeder von ihnen gleich vor dem Spiegel arbeiten.

Ich glaube an die produktive Kraft von Konflikten.

Wenn man vor der Wahl steht, sich zwischen zwei oder mehr miteinander im Konflikt liegenden sachlichen Optionen oder Alternativen zu entscheiden, muss nicht im Sinne von Entweder-oder entschieden werden, sondern es kann in der – sachbezogenen – Auseinandersetzung eine dritte Position gefunden werden, zum Beispiel eine Sowohl-als-auch- oder auch eine Weder-noch-Lösung. Bezogen auf unseren Konflikt bzw. den Konflikt zwischen unterschiedlichen theoretischen Modellen muss man halt sagen: »Ja, es ist situationsabhängig, welches Modell man verwenden sollte.« In dem Moment, wo wir mit sehr personennahen Systemen arbeiten, Interaktionssystemen, in denen Face-to-Face-Kommunikation stattfindet, macht ein personenorientiertes Systemmodell durchaus Sinn, denn die Spielregeln entwickeln sich als Folge psychischer Eigenarten der Beteiligten. Zentral ist bei der Wahl des Modells stets die Frage: Wer passt sich wem mehr an? Passt sich das soziale System mit seinen Spielregeln den psychischen Strukturen der Teilnehmer an? Das ist, zum Beispiel, in personennahen Systemen wie Familien oder Teams der Fall. In Organisationen und größeren sozialen Systemen, wie z. B. Kulturen, ist das aber umgekehrt; da passt sich die psychische Dynamik den Spielregeln des sozialen Systems an. Daher brauchen wir, um das Verhalten der Beteiligten zu erklären, ein anderes Modell.

Ich kann eine Familie nicht wie eine Organisation anschauen, und eine Organisation nicht wie eine Familie. Gunter Schmidt und ich hatten mal eine Familie in Therapie, da hat der Vater den Sohn abgemahnt. Das war vollkommen absurd. Das funktioniert nicht in Familien. Ein Vater kann seinen Sohn nicht entlassen, auch nicht nach mehrmaliger Abmahnung.

Welches theoretische Modell passt für welche Fragestellung? Die Systemtheorie liefert passende Modelle für unterschiedliche soziale Systeme, aber nicht ein Modell, das für alle passt.

OHLEREntwicklung lebt von Widersprüchen.

KRIZJa, und von dem Zusammenwirken. Das heißt ja nicht: vermanschen oder so! Das ist auch noch mal wichtig zu beachten.

OHLERIch denke, die Begegnung hier war ein Beispiel dafür, was ursprünglich wohl Fritz Simons Idee produzierte, solche Gespräche zu initiieren. Unterschiedspflege soll wieder an Bedeutung gewinnen, und zwar Unterschiedspflege, die direkt erlebbar ist. Also nicht, dass die eine Schule hier ihre Sachen macht und die anderen machen dort ihre Sachen, und gegenseitig befehden sie sich vielleicht oder gründen irgendwelche Organisationen, die diese Fehden für sie austragen. Sondern man ist tatsächlich in der Lage, diese Unterschiede miteinander auszubuchstabieren – und vielleicht auch neue zu entdecken – und dies anderen zur Verfügung zu stellen, damit auch sie den Mut bekommen, Ähnliches selbst zu organisieren und diese Unterschiede anzuschauen, daraus zu lernen.

SIMONDie Schwierigkeit, die ich sehe, ist, dass üblicherweise potenzielle Kontrahenten gar nicht erst miteinander ins Gespräch kommen. Die Freund-Feind-Unterscheidung führt dazu, dass man mit den anderen gar nicht redet. Und falls doch, dann findet man keine gemeinsame Sprache. Wir haben es in unserem Gespräch ja schon gesehen, dass wir den Beschreibungsbegriff unterschiedlich verwenden; oder wie wir Personen definieren. Ich definiere Person anders als du. Daher ist es nur wahrscheinlich, dass man lieber in seiner Sprach- und Denkgemeinschaft bleibt, das...

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