2 Körperliche Entwicklung
2.1 Meilensteine pränataler Entwicklung
2.1.1 Entwicklungsgeschehen in der Pränatalzeit
Die Pränatale Entwicklung gliedert sich in drei Abschnitte: das Stadium der befruchteten Eizelle (Zygote), die Embryonalphase und die Fetalphase.
Der erste Abschnitt, das Stadium der Zygote, umfasst die Zeit von der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle (Befruchtung) bis zum Ende des 14. Tages nach der Empfängnis. In dieser Zeit befindet sich der Keimling noch auf dem Weg vom Eierstock in die Gebärmutter (Uterus). Dennoch schreitet die Entwicklung bereits voran: Durch ständige Zellteilungen entsteht ein mehrzelliger undifferenzierter Organismus, nach drei Tagen sind bereits 32 Zellen aus fünf Teilungsvorgängen hervorgegangen (vgl. Moore & Persaud, 2007).
Nachdem der Keimling um den vierten Tag herum die Gebärmutter erreicht hat, differenzieren sich die Zellen in einen mit Flüssigkeit gefüllten Ballon (Blastozyte). An der Innenwand der Blastozyte finden sich diese wenigen Zellen in Form eines Zellhaufens (Embryoblast). Daraus entsteht der neue Organismus, die Zellen der Außenwand (Trophoblast) bilden später die Fruchtblase. Etwa am siebten bis neunten Tag nach der Befruchtung beginnt sich die Blastozyte in der Gebärmutterwand einzunisten. Auf der Außenseite des Trophoblasten entsteht die Zottenhaut (Chorion), aus deren fingerähnlichen Zottenhaaren sich der Mutterkuchen (Plazenta) ausbildet. Die Zellen der Embryoblasten differenzieren sich in dieser Zeit zunächst in äußeres Keimblatt (Ektoderm), inneres Keimblatt (Endoderm) und mittleres Keimblatt (Mesoderm). Aus dem Ektoderm bilden sich die Haut und die Neuralplatte heraus. Diese Neuralplatte entsteht an der Kontaktstelle mit dem Mesoderm und erscheint als ein verdicktes Epitel im Rücken des Embryos. Aus ihm entsteht das gesamte zentrale Nervensystem. Aus dem restlichen Mesoderm entstehen Muskeln, Skelett, Kreislaufsystem und innere Organe. Aus dem Endoderm bilden sich Harn- und Verdauungstrakt, Lunge und Drüsen (vgl. Moore & Persaud, 2007).
Der zweite Abschnitt, die Embryonalphase, umfasst die 3.–8. Woche nach der Empfängnis (rechnerisch die 5.–10. Schwangerschaftswoche, da die Zählung am ersten Tag der letzten Menstruationsblutung beginnt, also 14 Tage vor der Empfängnis). Die Embryonalphase beginnt per definitionem, wenn die Einnistung der Zygote in die Gebärmutterwand abgeschlossen ist. Das Herz beginnt Ende der dritten Woche nach der Empfängnis zu schlagen und erste Blutgefäße sind vorhanden. In der vierten Woche knospen die Extremitäten und Augen, Ohren sowie das Verdauungssystem formen sich. In der fünften Woche bilden sich Nabelschnur und Muskelmasse aus. In der sechsten Woche werden Strukturen des Gesichts (Kiefer, Ohr) angelegt und die Gehirnentwicklung ist stark beschleunigt. Danach bildet sich der Verdauungsapparat aus. Am Ende der achten Woche sind alle Organe, die Extremitäten, alle Körperproportionen und die Gewebe entsprechend differenziert. Der Embryo macht bereits kleine Bewegungen und reagiert auf Stimuli im Mundbereich (vgl. Moore & Persaud, 2007).
In der Fetalphase, dem dritten Abschnitt der Entwicklung in der Pränatalzeit, die ab der 9. Woche nach der Empfängnis gezählt wird (also der 11. Schwangerschaftswoche), findet keine weitere Differenzierung des Gewebes mehr statt, sondern die bis zum Ende der achten Woche nach Empfängnis angelegten Strukturen wachsen und reifen aus. Nach und nach nimmt der Fetus auch psychische Funktionen auf:
Erste reflexartige Bewegungen des Fetus sind ab der 9. Woche nach der Empfängnis zu beobachten, so auch Mundbewegungen und das Schlucken von Fruchtwasser. Ab der 14. Woche erfolgen die Bewegungen von Armen und Beinen koordiniert, im Ultraschall können spontane Bewegungen wie das Schlagen von Purzelbäumen beobachtet werden, später dann auch gezielte Reaktionen auf äußere Reize (z. B. bei Auflegen der Hand auf den Bauch) in Form von Tritten gegen die Bauchdecke (vgl. Moore & Persaud, 2007). Die Mutter kann diese ab etwa der 19. Schwangerschaftswoche auch spüren. Eaton und Saudino (1992) wiesen individuelle Unterschiede im Aktivitätsausmaß bereits in diesem Entwicklungsalter nach. DiPietro et al. (DiPietro et al., 1996a; Di-Pietro et al., 1996b) konnten zeigen, dass das pränatale Aktivitätsausmaß das postnatale Aktivitätsniveau bedeutsam vorhersagt. Auch Tag/Nacht-Unterschiede im Aktivitätsniveau (zirkadiane Verhaltensmuster) wurden beobachtet (Arduini, Rizzo & Romanini, 1995).
Nach und nach eröffnet die Ausreifung der Sinnesorgane dem Fetus verschiedene Erlebnisqualitäten: Zunächst reifen Tastsinn, Geruch (7.–12. Woche) und Geschmack (11.–13. Woche) aus.
Der Tastsinn sensibilisiert sich durch den Kontakt mit Oberflächen. Der Fetus erfährt taktile Reize zunächst passiv durch die eigene Aktivität, später scheint er sie aktiv zu suchen, indem er die Nabelschnur umfasst und an seinem Gesicht reibt oder am Daumen lutscht. Aus tierexperimentellen Untersuchungen wird abgeleitet, dass eine Reaktion auf Schmerzreize ab der 24. Woche zu erwarten ist (Meßlinger, 2002; vgl. auch Berk, 2005; Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2008).
Geschmacks- und Geruchsnerven sensibilisieren sich über den Kontakt mit dem Fruchtwasser. Ab etwa der 26. Woche sind eindeutige Reaktionen in der Mimik durch bittere Substanzen beobachtbar (vgl. Moore & Persaud, 2007).
Ab der 20. Woche sind Innen- und Mittelohr voll ausgebildet (vgl. Moore & Persaud, 2007). Das Hören von inneren (Herzschlag) und äußeren Geräuschen (ab 90 Dezibel Lautstärke) ist möglich. Der Fetus reagiert auf plötzliche laute Geräusche mit einer Schreckreaktion und tritt z. B. bei Änderungen der Umgebungslautstärke kräftig gegen die Bauchdecke (vgl. Moore & Persaud, 2007; Berk, 2005; Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2008).
Bereits ab der 14. Woche sind langsame Augenbewegungen, ab der 21. Woche schnelle Augenbewegungen möglich. Die Augenlider öffnen sich in der 26. Woche. Ab der 30. Woche reagiert der Fetus auf starken Lichtschein z. B. mit einer Reflexbewegung (Zukneifen der Augen), ab der 35. Woche kann eine spontane Orientierung zum Licht hin beobachtet werden (vgl. Moore & Persaud, 2007).
Der Fetus ist jedoch nicht nur verhaltens- und erlebensfähig, sondern ab etwa der 32. Schwangerschaftswoche auch zu einer einfachen Form des Lernens fähig: Als Reaktion auf einen neuen oder bekannten, aber länger nicht erfahrenen Reiz verändern sich physiologische oder stressabhängige Maße, wie z. B. die Herzschlagrate oder die Saugfrequenz. Dauert dieser Reiz länger an, gehen die Maße wieder auf das Ausgangsniveau zurück, um sich bei Eintreten eines neuen Reizes wieder zu verändern. Dieser Vorgang wird „Habituation“ oder „Habituationslernen“ genannt. So konnten z. B. Lecanuet, Granier-Deferre und Busnel (1995) zeigen, dass sich die Herzschlagrate eines Fetus bei wiederholtem Abspielen eines Silbenpaares über dem Bauch der Mutter in diesem Sinne veränderte, und dass zwischen nur wenig unterschiedlichen Reizen diskriminiert wurde. DeCaspar und Spence (1986) wiesen nach, dass sich der Saugrhythmus von Neugeborenen änderte, wenn sie eine Geschichte vorgelesen bekamen, welche die Mutter in den letzten Wochen der Schwangerschaft täglich vorgesprochen hatte. Neben dem Habituationslernen sind also auch Gedächtnisleistungen möglich. Marlier, Schaal und Soussignon (1998) wiesen nach, dass Neugeborenen eine Geruchspräferenz für ihr eigenes Fruchtwasser zeigen, und Mennella, Jagnow und Beauchamp (2001) fanden, dass Säuglinge auf einen Brei, der mit Karottensaft angemacht wird, positiver reagieren, als auf einen Brei, der mit Wasser angemacht ist, wenn die Mütter in den letzten Wochen der Schwangerschaft mehrmals wöchentlich Karottensaft tranken (dies gibt dem Fruchtwasser eine besondere Geschmacksnote).
Literaturhinweis
Rittelmeyer, C. (2006). Frühe Erfahrungen des Kindes. Stuttgart: Kohlhammer.
2.1.2 Prä- und perinatale Schädigungen
Die pränatale Entwicklung weist jedoch auch in allen Stadien der Entwicklung eine hohe Störbarkeit (Vulnerabilität = Verletzlichkeit) auf. Schölmerich und Pinnow (2007) sehen dies vor allem in dem hohen Entwicklungstempo und der Komplexität des Entwicklungsgeschehens begründet. Schädigende Faktoren (Noxen) können eine Fehlbildung bewirken (dann werden sie als Teratogene = fruchtschädigende Substanzen bezeichnet). Zu den Teratogenen zählen insbesondere Umweltgifte (z. B. Abgase, Pflanzenschutzmittel, Schwermetalle) und Strahlung (z. B. Röntgenuntersuchung, Radioaktivität), Infektionskrankheiten der Mutter (z. B. Röteln, Masern, Zytomegalie) und nutritive (die Nahrung bzw. Ernährung betreffende oder damit in Zusammenhang stehende) Giftstoffe (z. B. Medikamente, Alkohol, Drogen). Die schädigende Wirkung ist umso größer, je früher sie einsetzt und je länger sie andauert.
Störungen im Stadium der Zygote führen zu genetischen Defekten, die zumeist mit einem in diesem Stadium von der Schwangeren unbemerkten Abort enden (Moore & Persaud, 2007). Zwei Störungsmechanismen sind zu unterscheiden: die Mutation (Änderung der Basensequenz, während der identischen Replikation) und die fehlerhafte Zellteilung (Chromosomenaberration). Solche Störungen können jedoch auch spontan zu jedem späteren Zeitpunkt auftreten. Unterschieden werden eine Abweichung in der Chromosomenzahl durch fehlerhafte Aufteilung der Chromosomen (Non-disjunktion) und eine Abweichung in der Gestalt einzelner Chromosomen. Letztere kann durch den Einbau einer zusätzlichen Basensequenz (Insertion) oder das...