Gewogen und für zu leicht befunden
Der Festsaal der Amerikanischen Universität Kairo ist gefüllt bis auf den letzten Platz. Die Bühne ist ein Meer von schwarzen ehrwürdigen Roben und den fröhlichen Gesichtern der Studenten, deren Absolvierung heute gefeiert wird. Stolz und erleichtert nehmen sie ihre Urkunden entgegen, Reden werden geschwungen, viele schöne Worte gemacht. Zum Abschluss hat ein junger Student das Wort, der als bester des Studienganges Politikwissenschaften abgeschlossen hat:
„Als ich auf der Amerikanischen Universität zu studieren begann, war ich zutiefst fasziniert von Amerika. Und nun, nachdem drei Jahre vergangen sind und nachdem die Faszination verflogen ist, habe ich entdeckt, dass ich in mir überaus tiefe Werte und echte Fundamente habe, die viel wichtiger sind als all das, wovon ich fasziniert war.“
Man sieht in den Augen des einen oder anderen Mitstudenten, dass er ihm zutiefst aus dem Herzen gesprochen hat. Und so fährt er fort und fasst in wenigen Worten einiges von dem zusammen, was die Faszination in Enttäuschung umschlagen ließ: „Um es geradeheraus zu sagen: Wir hassen niemanden und sind gegen niemanden. Aber wir hassen Tyrannei und Brutalität und hassen es, wenn jemand uns seine Meinung aufzwingen will. Wir mögen es nicht, wenn Leute uns als unterentwickelt ansehen oder uns für weniger wert halten als sich selber.“ Tosender Beifall.
„Ich hätte am liebsten 60 Millionen Einladungen verteilt, damit ganz Ägypten an dieser Feier teilnehmen kann. Obwohl das natürlich nicht geht, so haben wir doch jemanden unter uns, der Ägypten in all seinen Werten repräsentiert – meinen Vater, Al-HaggDahschuriKhalaf. Erlaubt mir, dass ich in Respekt seine Hand küsse.“ Mit diesen Worten tritt der junge Mann vom Podium und der Bühne herunter und bahnt sich einen Weg zu seinem alten Vater, der von der ersten Reihe im Zuschauerraum aus den Feierlichkeiten gefolgt war.
Al-Hagg Dahschuris äußere Erscheinung sticht stark vom Rest des Publikums ab: Fast alle anderen männlichen Gäste haben sich dem Stil des Anlasses angepasst und sind in Anzug, Hemd und Krawatte gekommen. Er jedoch, als ober ägyptischer Bauer, hat sich in seine beste weiße, knöchellange Galabiyya1) gekleidet, die schwarze ‘Abiyya für feierliche Anlässe übergeworfen, und sich seinen Turban mit extra viel Mühe gebunden. In seinem Gesicht sind die Entbehrungen eines langen Lebens und die Mühen der Arbeit unter der sengenden Sonne Oberägyptens eingegraben. Er sieht anders aus als die meisten anderen Gäste und seine Züge sind die eines einfachen Mannes – aber seine Erscheinung gebietet Respekt und zeugt von tiefem Ehrgefühl.
Die soeben geschilderte Szene ist so nicht wirklich geschehen. Es ist die Schlussszene des Films „Ein Oberägypter an der Amerikanischen Universität“, der 1998 ein überaus erfolgreicher Kinokassenschlager war. In der Titelrolle spielt Mohammed Heneidy, einer der ganz großen Komiker der arabischen Filmindustrie, den Sohn eines oberägyptischen Bauern. Ein sehr guter Schulabschluss öffnet ihm die Tür zum Studium an der renommierten Amerikanischen Universität in Kairo. Doch von dem Augenblick, an dem er in seiner Studentenbude ankommt, beginnen die Probleme. Zwei Welten prallen aufeinander: Kulturschock eines Ägypters mitten in seinem eigenen Land, Ägypten.
Der Rest des Filmes ist eine schwere Belastung für das Zwerchfell. Ein Lacherfolg jagt den anderen, während unser Junge aus der Provinz verzweifelt versucht, sich dem westlichen Lebensstil seiner Universität anzupassen und dabei von einem Fettnäpfchen ins andere tritt. War er am ersten Tag noch zutiefst schockiert von den eng geschnittenen Jeans, die seine Mitstudentinnen zu tragen wagten, („He Leute, kann sich nicht mal jemand um weitere Hosen für die Damen kümmern?“) so sieht man ihn schon wenig später seinen altmodischen Anzug gegen „casual“Kleidung eintauschen. Ein Mitstudent aus wohlhabender Familie, selbst so sehr um westlichen Lebensstil bemüht, dass er kaum noch einen Satz zu Ende bringt ohne englische Phrasen einzufügen, führt ihn in die westlichen Laster des Alkohol und Drogengenusses ein. Der respektvolle Abstand zu Mädchen, zu dem er erzogen wurde, löst sich auf. Geld, Autos – unser Held will in nichts außen vor stehen. Aber in dem Maße, in dem er sich in einen modernen, liberalen, individualistischen und westlichen Zeitgenossen verwandelt, geht es gleichzeitig mit seinem Leben, seinem Studium und den Beziehungen, die ihm am wichtigsten sind, stetig bergab.
Ein Besuch seines alten Vaters bringt die Wende. Bei einer Tasse türkischem Kaffee und einer Wasserpfeife sitzen die beiden in einem Café. In typisch orientalisch-indirekter Weise erzählt der Alte seinem Sohn eine Beispielgeschichte und erinnert ihn auf seine Art an seine Wurzeln in der arabischen Kultur. Es erscheint nur natürlich, dass Vater und Sohn anschließend zum Gebet in die nahe gelegene Moschee gehen.
Der Film ist wirklich sehr lustig. Wir haben viel gelacht. Doch gleichzeitig, daran kann ich mich noch gut erinnern, hat er auch bei uns westlichen Ausländern im Kino einen faden Nachgeschmack hinterlassen. Die Botschaft ist klar und deutlich: Das westliche Leben mag faszinierend sein und viel Spaß machen, aber was wir als Araber durch ein solches Leben verlieren, ist unendlich viel wertvoller: Wir verlieren die Kraft unserer Freundschaften und Beziehungen untereinander, verlieren die Sicht für echte romantische Liebe, verlieren unsere Wurzeln und die Werte, mit denen wir großgezogen wurden, und schließlich auch die Kraft unserer Religion.
Faszination, Desillusion – ein vernichtendes Urteil über westliche Kultur. „Gewogen und für zu leicht befunden“.
Über die Enttäuschung hinaus spürt man in den Worten von Khalafaber auch einen tiefen Widerwillen gegen das, was von vielen in der arabischen Welt bis heute als westliche Tyrannei und Imperialismus empfunden wird. Es ist dieser Widerwille, der hier und da in rasende Wut umschlägt, der Menschen im Westen in diesen Tagen am meisten bewegt und besorgt, wenn sie an Araber denken: Wo kommt diese Wut dem Westen gegenüber her, die uns immer wieder ins Gesicht schlägt? Nach den schrecklichen Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York überschrieb das Wochenmagazin „Newsweek“ seinen Leitartikel mit den Worten „Warum hassen sie Amerika?“.
Von Dezember 2001 bis Februar 2002 führte das renommierte amerikanische Gallup-Institut eine Umfrage in der islamischen Welt durch, wie es sie in dieser Form vorher nicht gegeben hatte. Das Ziel war es, einige Monate nach den Anschlägen vom 11. September, die Gefühle und Gedanken der Bevölkerung, auch und besonders dem Westen gegenüber, so umfassend und wissenschaftlich exakt wie möglich zu erfassen. Zu diesem Zweck wurden mehr als 10 000 Personen in neun verschiedenen islamischen Staaten 2) in Gesprächen von je einer Stunde Dauer interviewt. Was die größte Überraschung verursachte und zu vielen Diskussionen führte, als die Ergebnisse der Studie veröffentlicht wurden, war wohl das Ausmaß der antiwestlichen Gefühle in der islamischen Welt:
„Die anfängliche Wirkung war unglaublich,“ erinnert sich Alec Gallup. „Ich denke, viele Menschen in den Vereinigten Staaten waren überrascht, als sie herausfanden, wie negativ die islamischen Nationen wirklich über uns denken. Die allgemein akzeptierte Weisheit war zuvor gewesen, dass nur die extremen Elemente am Rande der dortigen Gesellschaften antiamerikanisch sind, und dass diese Gefühle nicht sehr tief in der Bevölkerung verwurzelt sind. Unsere Zahlen zeigen, dass das nicht der Fall ist.“ 3)
Nun richtet sich zwar einiges in dieser Studie besonders auf das Denken und Fühlen der Menschen in der islamischen Welt den Vereinigten Staaten gegenüber, aber das meiste lässt sich doch auch auf den europäischen Westen übertragen. Bleibt uns die Frage: Wie gehen wir mit den negativen Emotionen, die uns aus der arabischen Welt entgegenschlagen, um? Wie erklären wir sie uns? Wohin geht der Weg? An Theorien, Meinungen und Lösungsvorschlägen hat es in den vergangenen Monaten wahrlich nicht gefehlt.
Ein Name, der immer wieder genannt wird, ist der amerikanische Kulturwissenschaftler Samuel P. Huntington und seine These vom „Zusammenstoß der Zivilisationen“, die er 1993 in einem berühmten Artikel mit demselben Titel zum ersten Mal vorstellte. 4) Huntington stellt den Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam in einen weiten historischen und globalen Rahmen: Die weltpolitische Lage hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges radikal verändert. Zuvor waren unterschiedliche ideologische und wirtschaftliche Systeme die Quelle der schwersten und gewalttätigsten Rivalitäten und Auseinandersetzungen. In unseren Tagen ist das anders:
„Die großen Trennungslinien in der Menschheit und die Hauptquellen für Konflikte werden kultureller Natur sein.
Staaten werden weiterhin die mächtigsten Spieler in der Weltpolitik sein, aber die tiefliegenden Konflikte in der Weltpolitik werden sich zwischen Nationen und Gruppen...