Kapitel 2 Hinter dem Regenbogen
»Lebe um zu lieben. Liebe um zu leben.«
Amy Carmichael
Tammy Koh war eine Geschäftsfrau. Sie hatte hart gearbeitet, um so weit zu kommen und hatte mit einem Magengeschwür dafür bezahlt. Woher kam also diese Gewissheit, dass Gott von ihr wollte, Singapur zu verlassen, um in das weit entfernte Königreich Nepal zu gehen? Tammys Leben hatte keinen viel versprechenden Start gehabt. Ihre ersten Jahre waren von der zwanghaften Verhaltensstörung ihrer Mutter überschattet gewesen, einem Verhalten, das ihren Vater gewalttätig werden ließ. Ein normales Familienleben war fast unmöglich. Frau Koh übte manipulierende Rituale aus, denen alle folgen mussten, wie zum Beispiel, nur auf einer Seite des Raumes zu gehen oder den Wasserhahn auf eine ganz bestimmte Weise aufzudrehen. Tammy und ihre jüngere Schwester erlebten oft die Zornausbrüche ihrer Eltern. Die Situation verschlimmerte sich, bis Tammy neun Jahre alt war. Ihre Mutter kam zu ihr in die Schule, um ihr mitzuteilen, dass sie ihren Vater verlässt. Das kleine Mädchen schaute ihr schockiert und mit gebrochenem Herzen hinterher, während Tränen über ihre Wangen rollten. Würde sie ihre Mutter je wieder sehen? Was sollte aus ihr und ihrer Schwester werden? Herr Koh brachte seine zwei Mädchen zu seinen Schwestern und seiner Mutter. Tammy lehnte sich immer dagegen auf, wenn diese abwertende Bemerkungen über ihre Mutter machten, und sie versuchte ihr Bestes, um sie zu verteidigen. Die ungewöhnlich zusammengestellte Familie zog mehrere Male um, was das Gefühl der Schwestern entwurzelt zu sein verstärkte. Eine ihrer Tanten führte ein Bordell. Tammy war erschüttert als der Tag kam, an dem ihre Cousinen in den Betrieb geschickt wurden, um dort zu arbeiten. Wartete das gleiche Schicksal auf sie und ihre Schwester? Schließlich nahm Frau Koh Kontakt zu ihren Töchtern auf, und sie konnten sich gelegentlich heimlich treffen. Die Mutter vertraute ihnen an, dass sie in einem kleinen Zimmer wohnte und Geld sparte, damit sie eines Tages wieder beisammen wohnen können. Doch ihr Vater erfuhr von diesen Treffen. Betrunken und voller Zorn fiel er über die Mädchen her und schlug sie brutal zusammen. Tammy wurde in die Höhe gehoben und auf den Boden geworfen. »Bei wem wollt ihr wohnen?«, schrie er, »bei mir oder eurer Mutter? Entscheidet euch!« Tammys verschreckte Schwester stotterte, sie wolle bei ihm bleiben. Aber Tammy schüttelte den Kopf. Sie wollte weggehen und bei ihrer Mutter wohnen. Mit einem zornerfüllten Brüllen zerrte ihr Vater seine verletzte und blutende Tochter unvermittelt aus dem Haus hinaus. Als die beiden zu einem Friedhof kamen, griff er in seine Tasche und warf einige Dollar auf Tammy. »Wenn du deine Mutter willst«, sagte er zu ihr, »solltest du einfach abhauen und sie finden. Ich möchte nichts mehr mit dir zu tun haben. Es ist zu Ende!« Tammy schluchzte, als er nochmals fluchte und davon stapfte. Zum zweiten Mal war sie von einem Elternteil verstoßen worden. Nach einer vermeintlichen Ewigkeit erbarmte sich ein vorbeikommender Fremder des armen Kindes und half ihr, die Adresse ihrer Mutter zu finden. Für die nächsten Jahre lebte Tammy bei ihrer Mutter und Großmutter in einem beengten Appartement. Schließlich stieß auch ihre Schwester zu ihnen. Aber Tammys Hass gegen ihren Vater loderte in ihr und entlud sich in Rebellion. Als Teenager verschaffte sie sich den Ruf, dass sie sowohl mit Freunden als auch Verwandten auf Kriegsfuß stand. Die Beziehung zu ihrer alten Großmutter war besonders von Feindseligkeit geprägt. Als sie vierzehn war, hatten sie eines Tages einen besonders erbitterten Streit. Tammy bekannte einem Freund, dass ihr Temperament ihr zu schaffen machte. Er vertraute ihr an, wie sich sein eigenes Leben verändert hatte, nachdem er sich Jesus ausgeliefert hatte. Die Familie Koh waren strenge Buddhisten oder Taoisten[1], und Tammy wollte den alten Traditionen gegenüber nicht untreu sein. Aber sie war verzweifelt. Sie betete, bekannte ihre Sünden und bat Christus, die Kontrolle über ihre verwirrten Emotionen zu übernehmen. Oberflächlich betrachtet veränderte sich nichts Wesentliches. Aber der Hass, der Tammy innerlich so lange aufgefressen hatte, verschwand auf unerklärliche Weise. Sie war erstaunt, dass sie sogar Mitleid für ihren Vater entdecken konnte. Als er sie ungefähr ein Jahr später das nächste Mal besuchte, traten Tränen in Tammys Augen. Sie erkannte, dass es keine logische Erklärung für ihr verändertes Herz gab, aber sie sah es als Beweis der heilenden Begegnung mit Gott an. Die Familie versuchte sogar wieder für eine Zeit zusammen zu leben, was aber nicht klappte. Frau Koh freute sich, die Veränderung an ihrer rebellischen Tochter zu beobachten. Ihre Zustimmung schlug jedoch in Zorn um, als ihr Tammy erklärte, dass sie Christin geworden war. In den Augen der älteren Frau war dies ein Verrat an allem, was als Chinesisch galt. Tammy wusste, dass von ihr als dem ältesten Kind erwartet wurde, alle religiösen Pflichten, wie zum Beispiel die Ahnenverehrung, zu erfüllen. Frau Koh verbot ihr die Kirchenbesuche und versuchte, sie von christlichen Freunden fern zu halten. Tammy war gezwungen, die Bibel heimlich zu lesen und auf jegliche Gemeinschaft zu verzichten. Doch als auch ihre Schwester ein Jahr später Jesus in ihr Leben aufnahm, verlor ihre Mutter die Kontrolle. Sie schnappte ein Messer und hielt es drohend an Tammys Kehle. Die Mädchen mussten entscheiden, was ihnen wichtiger war: Jesus Christus oder ihr Leben. Mutig erklärten beide Schwestern, dass sie Jesus treu sein würden, ganz egal welche Konsequenzen das hätte. Frau Koh setzte ihre Drohung nicht in die Tat um, aber die Spannungen zu Hause wurden immer unerträglicher. Als Tammy siebzehn war, forderte Frau Koh schließlich beide Mädchen auf, auszuziehen. Tammy war bereits daran gewöhnt, hart zu arbeiten. Sie hatte mitgeholfen, ihren Unterhalt zu verdienen, seit sie vierzehn war, indem sie während der Schulferien und an Wochenenden in einer Papierfabrik arbeitete. Ihr schnelles logisches Denken half ihr jedoch in der Schule, gute Noten zu bekommen, und sie war fest entschlossen, den High School Abschluss zu machen. Sie träumte davon, an der Hochschule Mathematik zu studieren. Aber zwei Jahre lang blieb ihr kaum Zeit etwas anderes zu tun, als sich selbst und ihre Schwester über Wasser zu halten. Die Mädchen hatten den Riss in ihrer Beziehung zur Mutter nie gewollt. »Wenn Mutter uns je bittet zurückzukommen, werden wir dies um Jesu Willen tun«, darin waren sich beide einig. Das war keine Entscheidung, die sie leichtfertig trafen. Das neurotische Verhalten der Frau war noch immer eine Quelle des Kummers für alle in ihrem Umfeld. Aber Frau Koh gab schlussendlich nach. Ihre Töchter zogen wieder bei ihr ein, bestanden aber darauf, den Gottesdienst besuchen zu dürfen. Tammy machte schließlich ihren Hochschulabschluss. Mit ihrer Schwester eröffnete sie eine kleine Geschenkboutique und später, nachdem sie einen Buchhaltungskurs absolviert hatte, gründete sie eine eigene Firma, die Einzelpersonen finanzielle Dienstleistungen anbot. Ihr Glaube blieb für sie wichtig. Doch eines Tages bei einer Missionskonferenz, auf der sie von Missionaren hörte, die für das Evangelium als Märtyrer starben, hinterfragte sie das Ausmaß ihrer persönlichen Hingabe. Am Ende dieser Konferenz traf sie die stille Entscheidung, Gott in die Mission zu folgen, falls er sie rufen würde. Daraufhin sprach Gottes Stimme zu ihrem Herzen: »Wenn du die Entscheidung getroffen hast zu antworten, warum stehst du dann nicht für mich auf?« Tammy begann zu zittern. Was wäre, wenn sie sich diese Stimme nur einbildete? Mit großem Mut stand sie auf, um ihre Entscheidung öffentlich zu machen. Das Zittern wurde von Gewissheit abgelöst. Mehrere Jahre vergingen. Tammy war siebenundzwanzig und führte zwei florierende Unternehmen, als sie sich einige Zeit frei nahm, um an einer Mini-Weltmissions-Ausstellung in Malaysia teilzunehmen — einem von OM organisierten »Führungscamp«. Das Camp stellte sie vor eine unerwartete Herausforderung. Nie zuvor war ihr bewusst geworden, dass Buchhalter und Geschäftsleute gebraucht werden könnten, um das Reich Gottes voranzutreiben. Aber jetzt hörte sie von vielen Bereichen, in denen dringend diese Fertigkeiten benötigt wurden. Wollte Gott ihr etwas sagen? Sie betete, dass Gott ihr, noch bevor sie diese Ausstellung verlassen würde, Klarheit darüber schenkte, wann und wohin sie gehen sollte. In den nächsten Tagen merkte sie, dass ihr Herz zu Nepal hingezogen wurde. Tammy besuchte zu dieser Zeit eine junge christliche Gemeinde. Die Besucherzahl war noch sehr gering. Als sie von der Konferenz zurückkehrte und ankündigte, dass Gott sie Richtung Nepal führte, erwartete sie von den paar Dutzend Leute nicht mehr, als dass sie für sie beten würden. Aber sie überraschten Tammy. Die Gemeinde erklärte sich bereit, für ihre gesamten Kosten auf dem Feld aufzukommen. Später erklärte sich die Muttergemeinde bereit, die finanzielle Unterstützung von Tammy zu übernehmen. Eine andere Verpflichtung blieb ihr jedoch. In ihrer...