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E-Book

Handlexikon Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl338 Seiten
ISBN9783170256910
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis35,99 EUR
Das Buch liefert zu den Schlüsselbegriffen der Pädagogik bei Lernschwierigkeiten und Verhaltensproblemen grundlegende Information aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. Inhaltlich konzentriert sich das Buch auf die Themen, die für Studierende der beiden Fächer und für die dem Studium folgenden Tätigkeitsbereiche relevant sind. Es werden repräsentative und aktuell handlungsleitende Begriffe behandelt, die die Quintessenz der pädagogischen Theoriebildung und Praxisreflexion erläutern und klären. Der Band bietet so insgesamt eine Einführung in das 'wissenschaftliche Grundvokabular' der beiden Fächer. Das Handlexikon reagiert auf die immer wieder geäußerte Klage über die uneinheitliche begriffliche Ausgangslage der Fächer.

Alle drei Herausgeber sind Lehrstuhlinhaber der Pädagogik bei Verhaltensstörungen bzw. Lernbehinderungen an den Universitäten Würzburg und Dortmund.

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Leseprobe

Ängstlichkeit und soziale Unsicherheit


Einleitung


Während → Aggressivität und Gewalt sowie → Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen in der öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussion intensiv erörtert werden, stellen Ängstlichkeit und Angststörungen sowie → Depressivität scheinbar eher »versteckte«, deutlich weniger im Rampenlicht stehende Phänomene dar – vielleicht passend zu diesen Erscheinungen selbst. Ein Blick auf die epidemiologische Forschung offenbart eine erhebliche Schieflage, denn Angstproblematiken sind die häufigsten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Ihle & Esser 2002). Zudem sind sie oft Vorläufer persistierender Angstproblematiken und auch späterer anderer Störungen.

Ein Blick in die Literatur zeigt, dass es zwar einige grundlegende Arbeiten zu diesem Thema gibt (Essau 2003; Krohne 2010; In-Albon 2011) – aber kaum eine pädagogische oder sonderpädagogische Auseinandersetzung.

Begrifflichkeit


Zu unterscheiden ist zunächst, ob es um Angst, Ängstlichkeit oder Angststörungen geht.

Angst stellt einen zentralen und grundlegenden menschlichen Affekt dar, der zum Leben gehört und den jede und jeder alltäglich erlebt. Fröhlich (1993, 56) definiert Angst als »allgemeine umfassende Bezeichnung für emotionale Erregungszustände, die auf die Wahrnehmung von Hinweisen, auf mehr oder weniger konkrete bzw. realistische Erwartungen oder allgemeine Vorstellungen physischer Gefährdung oder psychischer Bedrohung zurückgehen. A.-Zustände äußern sich in Gefühlen der Spannung bzw. Betroffenheit und gehen mit ausgeprägten autonomen Veränderungen einher«.

Zentrale Komponenten von Angst sind Aufgeregtheit (emotionality) und Besorgtheit (worry). Angst äußert sich auf verschiedenen Ebenen: physiologisch, im Verhalten, im Ausdruck (Mimik, Gestik, Körperhaltung), in der Sprache sowie im subjektiven Erleben – es handelt sich letztlich um ein Konstrukt, das »hinter« diesen Ausdrucksformen steht.

Ängstlichkeit hingegen ist nicht als ein Zustand zu verstehen, sondern als überdauernder Wesenszug: Eine Person reagiert besonders häufig, besonders stark und in vielen Situationen mit dem Affekt Angst. Dies kann, muss aber nicht mit einem besonderen Hilfebedarf verbunden sein.

Angststörungen sind gekennzeichnet durch das auf bestimmte Situationen beschränkte oder auch situationsunabhängige Auftreten massiver Ängste, welche die Funktionen einer Person erheblich einschränken und unter denen diese leidet. Internationale Klassifikationssysteme wie die → ICD-10 unterscheiden verschiedene Formen von Angststörungen (Essau 2003, 31 ff.). Besonders häufig treten bei Kindern und Jugendlichen Phobien auf, also abnorm starke, objekt- oder situationsbezogene Angstreaktionen. Aber auch Zwangsstörungen, Panikstörungen und Generalisierte Angststörungen, durch starke Ängste in verschiedenen Situationen gekennzeichnet, Störungen mit Trennungsangst sowie Posttraumatische Belastungsstörungen sind recht verbreitet (Essau 2003, 118 ff.).

Die kognitive Lernpsychologie hat das Konzept der »Sozialen Unsicherheit« oder des »sozial unsicheren Verhaltens« geprägt (Petermann & Petermann 2010). Hier handelt es sich um stark habitualisierte soziale Ängste mit Vermeidungstendenzen und Defiziten im Sozialverhalten.

Neben diesen Formen allgemeiner Angststörungen gibt es schulspezifische Problematiken: Schulangst kann aus leistungsbezogenen und aus sozialen Situationen heraus entstehen, jedoch, etwa im Falle von Mobbing und Gewalt, auch aus einer erlebten oder realen psychischen oder physischen Bedrohung, also als Existenzangst (Schwarzer 1993). Davon zu unterscheiden ist Schulphobie, die wissenschaftlich zumeist als besondere Form der Vermeidung von Schule verstanden wird, hinter der weniger Angst vor der Schule steht als vielmehr Ängste vor Trennung von den Eltern oder bestimmte familiäre Schwierigkeiten.

Den Angststörungen verwandt ist das Konzept der Erlernten Hilflosigkeit, welches auf die Forschung von Seligman (1995) zurückgeht. Er beschreibt, wie Tiere und auch Menschen Hilflosigkeitserfahrungen machen und generalisieren können: dass ihr Handeln keine Wirkung entfalten wird. Es entsteht ein Muster des Sich-selbst-Aufgebens mit dreifachem Defizit im Umgang mit situativen Herausforderungen: kognitiv, motivational und emotional. Das Konzept ist für sonderpädagogische Kontexte sehr bedeutsam.

Erklärungskonzepte und Merkmale


Erklärungskonzepte für Ängstlichkeit und Angststörungen kommen aus der Lernpsychologie (Ängste als gelernte Reaktionen), aus der Psychoanalyse (Ängste auf Basis der inneren Dynamik und der intrapsychischen Konflikte einer Person) und aus der Kognitionspsychologie (Ängste auf Basis der Erwartung von kaum bewältigbaren Bedrohungen und auf Basis der Bewertung von Situationen als bedrohlich).

Pädagogisch hilfreich können zentrale Merkmale von Ängstlichkeit sein, die Krohne (1996, 291 ff.) zusammengestellt hat und die auch auf Angststörungen übertragen werden können – Ängstlichkeit ist demnach gekennzeichnet durch

•  starke und häufige, automatisiert erscheinende, erlernte Angstreaktionen in ganz unterschiedlichen oder auch spezifischen Situationen;

•  verstärkte Erwartungen, dass bestimmte situative Ereignisse unangenehme und negative Folgen haben – wobei es durch solche Erwartungen zur stärkeren Wahrnehmung von Bedrohungen kommt;

•  die Erwartung, das eigene Verhalten könne wenig zur Kontrolle der Konsequenzen einer Situation beitragen (»externale Kontroll-Überzeugung«);

•  die Selbsteinschätzung, dass es an Fähigkeiten fehle, ein möglicherweise erfolgreiches Kontrollverhalten überhaupt auszuüben oder die in bedrohlichen Situationen ausgelösten Gefühle regulieren zu können – und schließlich häufig, wenn auch durchaus nicht immer

•  eine tatsächlich geringere Kompetenz zur Ausführung eines effektiven Bewältigungsverhaltens nach außen hin oder auch im Hinblick auf das Regulieren der eigenen Emotionen.

Diese Merkmalsliste soll durch zwei bedeutsame Aspekte ergänzt werden:

•  starke innere Spannungen, die oft aus bisherigen Lebenserfahrungen heraus auf-gebaut wurden, also eine Art Grundpotenzial zu Aufgeregtheit und Besorgtheit, eine »existenzielle Angst« (Seitz & Rausche 2004, 282 ff.);

•  das Auftreten von starker Angst gerade in solchen Situationen, in denen individuelle Werte der Person eine besondere Rolle spielen, also das, was ihr wichtig ist (Krohne 1996).

Beurteilung und Förderung


In pädagogischen Situationen wird sich oft das Problem ergeben, Angstproblematiken zu erkennen. Pädagoginnen und Pädagogen können sich hier nur an den Manifestationsmöglichkeiten orientieren, also an Körper- und Verhaltensmerkmalen sowie dem mehr oder weniger direkten Selbstausdruck von Angsterleben. Die Schwierigkeiten des Erkennens spiegeln sich in der nach wie vor defizitären öffentlichen Berücksichtigung dieser Probleme wider. Über das Erkennen hinaus wird es aber auch wichtig sein zu beurteilen, auf welchem Weg die Angst entstanden ist, um mit einer gezielten Förderung ansetzen zu können.

Zur Förderung wurden mittlerweile verschiedene Programme entwickelt; das Spektrum ist allerdings sicher nicht so breit wie für Aggressionsproblematiken. Ein »Klassiker« ist das über dreißig Jahre auf dem Markt befindliche, aber immer wieder aktualisierte »Training mit sozial unsicheren Kindern« (Petermann & Petermann 2010). Jüngeren Datums sind das australische »FRIENDS«-Programm (Barrett, Lowry-Webster & Turner 2000a; b) mit seiner deutschen Version FREUNDE (Essau & Conradt 2003a; b) sowie das Programm »Gesundheit und Optimismus« (GO; Junge, Neumer, Manz & Margraf 2002). Fast alle vorliegenden Programme sind als Trainings konzipiert und stark kognitiv-behavioral ausgerichtet (siehe zu Überblick und Kritik Stein 2012).

Für pädagogisches Alltagshandeln sind Trainings nur beschränkt hilfreich und mit Skepsis zu betrachten. Am Beispiel des Feldes Schule kann eine Förderung grundsätzlich an zwei Punkten ansetzen (Stein 2012, 134 ff.):

•  Die Gestaltung des Lernfeldes kann so angelegt werden, dass der Entstehung erheblicher Ängste und Angstproblematiken entgegengewirkt wird: durch Schaffung eines günstigen Klimas und Umganges in der Lerngruppe, durch Transparenz der...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Deckblatt1
Titelseite4
Impressum5
Inhaltsverzeichnis6
Einleitung10
I Förderschwerpunkte und Störungsbilder14
Ängstlichkeit und soziale Unsicherheit16
Aggressivität und Gewalt19
Analphabetismus22
Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS)23
Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)27
Delinquenz28
Depression31
Entwicklung33
Essstörungen38
ICD/ICF (ICF-CY)39
Identität und Selbstkonzept42
Intelligenz, Kognition46
Kompetenz, Kompetenzorientierung49
Lernschwierigkeiten, Lernbeeinträchtigung, Lernbehinderung52
Lernen55
Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten60
Migration63
Motivation und Lernmotivation65
Motorik68
Rechenschwierigkeiten70
Schulabsentismus73
Soziale Benachteiligung76
Sprache79
Sucht81
Verhaltensstörung und Verhaltensauffälligkeit (Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung)83
Wahrnehmungsstörungen87
II Förderkonzepte und therapeutische Ansätze90
Arbeitslehre92
Beratung95
Berufliche Bildung97
Biografiearbeit102
Computer und Internet im Unterricht104
Differenzierung und Individualisierung105
Direkter Unterricht108
Didaktik des Unterrichts im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung111
Didaktik des Unterrichts im Förderschwerpunkt Lernen115
Entdeckendes Lernen120
Erlebnispädagogik122
Förderdiagnostik123
Förderplanung126
Förderung der Handlungsregulation129
Frühförderung131
Gemeinsame Erziehung134
Inklusiver Unterricht136
Integration in Arbeit138
Intensive Erziehungshilfe142
Kognitive Verhaltensmodifikation143
Kooperatives Lernen145
Lebensweltorientierung148
Leistungsmessung und Leistungsbewertung149
Lernförderung151
Lerntherapie154
Moralisches Urteilen und Handeln155
Offener Unterricht159
Prävention von Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen162
Projektunterricht164
Psychoanalytische Pädagogik166
Psychomotorische Förderung167
Schulsozialarbeit170
Selbstgesteuertes Lernen172
Selbstinstruktionstraining174
Sensorische Integration175
Spielförderung und -therapie177
Systemische Förderansätze180
Tiergestützte Pädagogik, Förderung und Therapie183
Wahrnehmungsförderung185
III Förderorte und Organisationsformen188
Benachteiligtenförderung190
Berufsbildungswerke191
Förderschule193
Heimschule/Schule und Heim195
Inklusive Schulen/Inklusive Schulentwicklung196
Jugendarrest198
Jugendvollzug199
Kooperationsklasse201
Schule für Erziehungshilfe202
Schule und Frühförderung204
Schule und Jugendhilfe206
Schule und Kinder- und Jugendpsychiatrie209
Sonderpädagogische Beratungsstelle210
Sonderpädagogische Diagnose und Förderklassen212
Sonderpädagogisches Förderzentrum (SFZ)213
IV Geschichte216
Hilfsschule, Hilfsschulkonzeption218
Konfessionelle schulische Einrichtungen221
Rettungshäuser222
Sonderschule für Erziehungshilfe225
Sonderschule für Lernbehinderte228
V Theoriekonzepte und Grundbegriffe232
Autonomie234
Behaviorismus235
Bildung237
Bindung241
Empirische Sonderpädagogik242
Erziehung244
Evidenzbasierte Praxis248
Geisteswissenschaftliche (Sonder-)Pädagogik250
Gender/Geschlecht252
Humanistische Psychologie und Pädagogik253
Individualpsychologie255
Inklusion257
Integration260
Konstruktivismus261
Kognitive Lernpsychologie263
Materialistische Behindertenpädagogik265
Ökologie267
Partizipation/Teilhabe268
Phänomenologische (Sonder-)Pädagogik272
Psychoanalyse274
Qualitätsmanagement275
Risikomodell279
Sonderpädagogische Profession283
Soziologische Aspekte des Lernens und Verhaltens286
Stigmatisierung290
Symbolischer Interaktionismus292
Systemtheorie294
VI Forschungskonzepte296
Evaluation298
Fallstudie und Einzelfallanalyse300
Forschungsdesign302
Metaanalyse305
Qualitative Methoden306
Quantitative Methoden309
VII Internationale Aspekte314
Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen in Entwicklungsländern316
Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen in Europa317
Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen in Nordamerika321
Vergleichende Sonderpädagogik324
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren327
Sachregister332

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