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Experimentelle Handlungsforschung

Kognitive Grundlagen der Wahrnehmung und Steuerung von Handlungen

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl232 Seiten
ISBN9783170249943
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis37,99 EUR
Die Struktur menschlichen Handelns ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten erneut zu einem zentralen Thema psychologischer Forschung geworden. Lange Zeit davor galt Psychologie als Wissenschaft vom Denken, Fühlen und Wollen, und Handeln kam, wenn überhaupt, nur am Rande vor. Einen zentralen Anteil an der Renaissance des Handelns hat die moderne Kognitionspsychologie, die im Mittelpunkt des Buchs steht. Sie untersucht die repräsentationalen Grundlagen von Handlungen - die Lernprozesse, in denen Handlungswissen entsteht, und die Kontrollprozesse, in denen es in Handlungen umgesetzt wird. Das Buch führt in den ideomotorischen Ansatz ein, der der kognitiven Handlungsforschung entscheidende Impulse gegeben hat. Es gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung aus drei unterschiedlichen Perspektiven: der individuellen Perspektive der Allgemeinen Psychologie, der interindividuellen Perspektive der Sozialpsychologie und der ontogenetischen Perspektive der Entwicklungspsychologie.

Prof. Dr. Wolfgang Prinz ist emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig.

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Leseprobe

2         Experimentelle Handlungsforschung: Die individuelle Perspektive


Arvid Herwig


In diesem Kapitel geht es um die intraindividuelle Hauptlinie der ideomotorischen Theorie. Diese Linie möchte erklären, auf welche Weise einzelne Individuen Handlungswissen erwerben, repräsentieren und zur Handlungssteuerung nutzen. Handlungswissen umfasst hierbei das Wissen über Ziele, Bewegungen und Zusammenhänge zwischen Zielen und Bewegungen. Der Fokus liegt also auf der Frage, welche Rolle das Handlungswissen innerhalb von zumeist erwachsenen Individuen spielt. Fragen nach der Rolle ideomotorischer Prozesse im sozialen sowie entwicklungspsychologischen Kontext werden dagegen in den nachfolgenden Kapiteln 3 und 4 behandelt.

Die Handlungsforschung ideomotorischer Prägung hat in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten ein reichhaltiges Repertoire von experimentellen Paradigmen vorgelegt. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Nachweis von Effektrepräsentationen als Teil des Handlungswissens tatsächlich kein leichtes Unterfangen ist. Wie im Einleitungskapitel bereits beschrieben wurde, wirken Effektrepräsentationen zumeist im Verborgenen und müssen daher durch geeignete experimentelle Manipulationen erst dingfest gemacht werden. Auf den ersten Blick mag die Vielzahl unterschiedlicher Paradigmen als Hürde erscheinen, die eine Integration der Ergebnisse erschwert. Auf den zweiten Blick bietet sie jedoch auch einen enormen Vorteil. Dank des reichhaltigen Repertoires lässt sich neben den Kernannahmen des ideomotorischen Ansatzes zusätzlich eine Vielzahl weitergehender Fragen untersuchen, die ein tieferes Verständnis ideomotorischer Prozesse ermöglichen. Wann und wie schnell erwerben wir neues Handlungswissen? Was genau beinhaltet dieses Wissen? Zu welchem Zeitpunkt der Handlungsplanung kommen Effektantizipationen ins Spiel? Wie genau kann man sich diese Effektantizipationen vorstellen? Wie werden Handlungseffekte im Anschluss an die Handlung verarbeitet? Welche weiteren spezifischen Wechselwirkungen zwischen Wahrnehmung und Handlung treten auf und was sagt uns das über die Art und Weise, wie Handlungswissen repräsentiert ist? Von jüngerem Interesse ist also nicht ausschließlich die Frage, ob wir Handlungswissen erwerben, repräsentieren und nutzen, sondern vor allem, wann und wie genau das vonstattengeht.

Das vorliegende Kapitel versucht, diesen jüngeren Entwicklungen Rechnung zu tragen. Im Folgenden wird dazu zunächst die Frage unter die Lupe genommen, wie wir Handlungswissen erwerben ( Abschn. 2.1: Ideomotorisches Lernen). Der anschließende Abschnitt diskutiert die Frage, wie wir dieses Handlungswissen zur Handlungssteuerung nutzen ( Abschn. 2.2: Ideomotorische Kontrolle). Kernannahme ist hier, dass wir Handlungen durch die Antizipation ihrer sensorischen Effekte auswählen und überwachen. Schließlich behandelt der dritte Abschnitt die Frage, wie wir Handlungswissen repräsentieren, indem die Wechselwirkungen zwischen Wahrnehmung und Handlung näher beleuchtet werden ( Abschn. 2.3: Wahrnehmung und Handlung).

2.1        Ideomotorisches Lernen: Erwerb von Handlungswissen


Zielgerichtetes Handeln erfordert Wissen darüber, welche spezifischen Bewegungen geeignet sind, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Die ideomotorische Theorie nimmt an, dass dieses Wissen auf gesammelten Erfahrungen beruht ( Kap. 1). Erst wenn man erfahren hat, dass eine bestimmte Bewegung (z. B. Herunterdrücken einer Klaviertaste) zu einem bestimmten sensorischen Effekt führt (z. B. Ertönen eines ›c‹), kann diese Erfahrung genutzt werden, um den sensorischen Effekt absichtlich herbeizuführen ( Abb. 2.1). Zielgerichtetes Handeln sollte demnach abhängig von Lernprozessen sein, die Bewegungen und ihre Effekte verknüpfen. Besonders offensichtlich ist der Einfluss von Lernen zu Beginn des Lebens, wenn noch wenige Erfahrungen über Bewegungs- und Effektzusammenhänge vorliegen ( Kap. 4). Selbstverständlich ist der Erwerb von Handlungswissen aber nicht auf diese frühe Phase beschränkt. Selbst im Erwachsenenalter treten immer wieder Situationen auf, in denen neue Bewegungs- und Effektzusammenhänge relevant werden können – man denke nur an das Erlernen eines neuen Musikinstruments, das Erlernen einer neuen Sportart oder die Bedienung neuer Werkzeuge. Tatsächlich scheint gerade ein ausgeprägtes Wissen über Bewegungs- und Effektzusammenhänge in vielen Bereichen ein entscheidender Beitrag zu sein, der Experten von Novizen unterscheidet (Drost, Rieger,

Abb. 2.1: Schematische Darstellung des ideomotorischen Prinzips. Die Ausführung von Bewegungen führt zu sensorischen Effekten (A). Handlungswissen entsteht durch die bidirektionale Assoziation von Bewegungs- und Effektrepräsentationen (B). Bewegungen können intern durch die Antizipation ihrer Effekte (C) oder extern durch die Wahrnehmung ihrer Effekte (D) induziert werden.

Brass, Gunter & Prinz, 2005; Rieger, 2004).

Der folgende Abschnitt stellt zunächst die experimentellen Paradigmen vor, mit denen sich der Erwerb von Handlungswissen untersuchen lässt ( Abschn. 2.1.1). Im Anschluss werden Basisphänomene erläutert, die ein besseres Verständnis über den zugrunde liegenden Lernmechanismus ermöglichen ( Abschn. 2.1.2). Abschließend werden Modellvorstellungen zum ideomotorischen Lernen diskutiert und der Frage nachgegangen, ob der Erwerb von Handlungswissen tatsächlich so automatisch erfolgt, wie es der ideomotorische Ansatz postuliert hat ( Abschn. 2.1.3).

2.1.1      Experimentelle Paradigmen


In der Vergangenheit hat die experimentelle Handlungsforschung vorrangig zwei experimentelle Aufgaben eingesetzt, um den Erwerb von Wissen über Bewegungs- und Effektzusammenhänge zu untersuchen (vgl. Shin, Proctor & Capaldi, 2010, S. 949). Dabei handelt es sich zum einen um Wahlreaktionszeit-Aufgaben (oder auch CRT von choice reaction time) und zum anderen um serielle Reaktionszeit-Aufgaben (oder auch SRT von serial reaction time). Beiden Aufgaben ist gemein, dass sie bestimmte auszuführende Bewegungen mit bestimmten sensorisch wahrnehmbaren Bewegungseffekten kombinieren. Der Hauptunterschied zwischen beiden Aufgaben liegt darin, dass bei CRT-Aufgaben die einzelnen auszuführenden Handlungen zufällig aufeinander folgen, während sich bei SRT-Aufgaben Reize und Handlungen in einer festen Reihenfolge wiederholen. Daher eignen sich CRT-Aufgaben vor allem zur systematischen Untersuchung des Erwerbs einzelner Bewegungs-Effekt-Zusammenhänge, während SRT-Aufgaben zur Erforschung des Erwerbs ganzer Handlungssequenzen herangezogen werden können. In beiden Aufgaben sind die Leistungen für gewöhnlich dann besser, wenn sich die Beziehung zwischen Bewegungen und Effekten nicht verändert und jede Bewegung mit einem eindeutigen Effekt verknüpft ist.

Wahlreaktionszeit-Aufgaben


In CRT-Aufgaben sollen die Versuchsteilnehmer gemäß zuvor instruierter Regeln in jedem Durchgang des Experiments auf die Präsentation eines bestimmten Reizes eine korrekte Handlung unter mehreren Handlungsalternativen auswählen und ausführen. CRT-Paradigmen zum Nachweis ideomotorischen Lernens folgen dabei einem Vorschlag von Greenwald (1970) und teilen das Experiment in eine Erwerbs- und eine Testphase ein (für einen Überblick siehe Abb. 2.2). In der Erwerbsphase werden zunächst bestimmte Bewegungen mit bestimmten bislang unverknüpften sensorischen Effekten verbunden. In der anschließenden Testphase wird dann geprüft, ob sich Bewegungen in ihrer Geschwindigkeit oder Auftretenshäufigkeit durch das neu erworbene Handlungswissen beeinflussen lassen. Als Effekte werden dabei zumeist Ferneffekte verwendet ( Kap. 1), die sich besser experimentell kontrollieren lassen als Begleit- oder Naheffekte. Eine weitere Gemeinsamkeit der nachfolgend beschriebenen Experimente ist, dass die Versuchsteilnehmer in der Erwerbsphase nicht dazu angehalten werden, Handlungswissen zu erwerben. Gemäß dem ideomotorischen Ansatz sollte der Erwerb von Handlungswissen mehr oder weniger beiläufig stattfinden (sog. inzidentelles Lernen, Kap. 1).

Eine erste Untersuchung zum Nachweis ideomotorischen Lernens führte Hommel (1996, Exp. 3) durch. In der Erwerbsphase ließ er seine Versuchsteilnehmer wiederholt linke (R1) oder rechte (R2) Tastendrücke auf die Präsentation der Buchstaben O (S1) oder X (S2) ausführen. Jeder Bewegung folgte entweder ein tiefer (E1) oder hoher (E2) Ton als Effekt, je nachdem welche Taste gedrückt wurde. Eine solche Anordnung von Reizen, Bewegungen und Bewegungseffekten...

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