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Heute im Blick

Provokationen für eine Kirche, die mit den Menschen geht. Ein geistlicher Weg in 100 Schritten

AutorMartin Werlen
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451805035
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Verrät die Kirche ihren Auftrag, wenn sie sich nur auf sich konzentriert? Müsste sie sich nicht intensiv dem Heute, der Zeit zuwenden? Mit brennender Sorge, aber auch mit Leidenschaft und aus einem inneren Feuer heraus geschrieben ist Buch des bekannten Schweizer Mönches Martin Werlen, dem populären Altabt von Einsiedeln. Er lenkt den Blick auf die zentralen Fragen und weist heilsame, spirituelle Wege, die auch nach innen führen. Gegen Doppelbödigkeit und die Häresie der Äußerlichkeit setzt es eine klare Perspektive der Hoffnung. Ein ermutigendes, prophetisches Buch, das begeistert und aufrüttelt.

Martin Werlen OSB, geb. 1962, Mönch des Klosters Einsiedeln, Novizenmeister und Gymnasiallehrer. Von 2001-2013 der 58. Abt des Klosters Einsiedeln und Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz. Autor mehrerer Bücher, zuletzt in sechs Auflagen »Heute im Blick'. Aktuell: »Wo kämen wir hin? Für eine Kirche, die Umkehr nicht predigt, sondern selber lebt'.

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Leseprobe

Ein überraschendes Innehalten zum Staunen

Gerade als ich die Zeilen des vorherigen Abschnittes spät in der Nacht auf meinem Computer getippt hatte, traf bei mir eine E-Mail aus Deutschland ein: „Geschätzter Abt emeritus, Sie sind die einzige ‚neutrale‘ Person, die mir in den Sinn gekommen ist, an die ich mich mit meinem Anliegen wenden kann und will. Könnten Sie einem nicht-katholischen Christen die Beichte abnehmen, oder könnte ich bei Ihnen mein Gewissen ‚erleichtern‘? Fest steht, dass ich sowohl aus religiöser als auch aus moralischer Sicht gesündigt habe und nun in einer schwierigen Situation bin. Suizidgefährdet bin ich nicht, aber ich benötige Hilfe, um aus der momentanen Sackgasse herauszukommen. Allein werde ich es kaum schaffen. Darf ich Ihre Hilfe in Anspruch nehmen? Dürfte ich Sie in Einsiedeln besuchen? Für Ihre geschätzte Antwort danke ich Ihnen schon im Voraus herzlich. Mit Respekt und Hochachtung, Erasmus.“ Sofort antwortete ich: „Lieber Erasmus, Sie dürfen! Wenn wir uns treffen, werde ich Ihnen zeigen, was ich gerade am Computer geschrieben habe, als Ihre Anfrage eintraf. Sie werden staunen. Wann könnten Sie nach Einsiedeln kommen? Im Gebet mit Ihnen – ebenfalls mit Respekt und Hochachtung – verbunden, P. Martin.“

Die große Not eines Menschen mit fast unlösbaren Problemen lässt Konfessionsgrenzen schwinden. Ich bin überzeugt, dass wir den Weg aus der ökumenischen Sackgasse finden, sobald wir nicht mehr um unsere Fraktionen besorgt sind, sondern um den Menschen. Wir sind nicht berufen, Fraktionswächter zu sein, sondern Zeuginnen und Zeugen der Liebe Gottes zu jedem Menschen. Die Wunder, die ich hier miterleben darf, lassen mich voll Vertrauen auf diesem Weg weitergehen.

XLB


Der Schweizer Regisseur Milo Rau konstatierte kürzlich einen Wertemangel in unserer Gesellschaft, und er stellte fest: Jungen Menschen fehlten Vorbilder. Damit erklärt er, warum junge Menschen aus unseren Ländern sich extremistischen und terroristischen Kreisen in anderen Kulturen anschließen. Der Weg in eine terroristische Gruppierung biete ihnen in dieser Situation die beste Perspektive.137 Der in Deutschland lebende palästinensisch-israelische Psychologe und Autor Ahmad Mansour, früher selbst Islamist, erklärt sich das Phänomen so: Junge Menschen in Europa werden Islamisten „weil sie vorher unglücklich waren, weil sie auf der Suche sind. Und auf einmal finden sie eine Gruppe, die sie akzeptiert, wie sie sind. Das ist nur der Schein, natürlich müssen sie auch bestimmte Regeln befolgen, sie müssen beten, sie müssen sich der Gruppe anschließen, sie müssen sich vom Aussehen her anpassen, aber trotzdem: Sie finden Freunde, die sie unterstützen, die dabei sind.“138 Hören wir diese Schreie nach Sinn und nach Orientierung im Leben?

Julien Green macht im erwähnten Roman deutlich, dass die Kirche in diesem ihrem Kompetenzbereich oft fehlt. Nebenbei sei daran erinnert, dass dieser Roman zwei Jahre vor Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils geschrieben wurde. Warum gehen Menschen in ihrer Suche nach Erfüllung und mit der Last der Erfahrung ihrer inneren Zerrissenheit nicht zur Kirche? Dazu eine Szene aus Greens Roman: Ein Sterbender braucht Hilfe, lehnt es aber ab, dass man einen Priesters ruft. „Nein, den nicht. Er ist ein guter Priester, aber er muss glauben, weil er ein Priester ist. Mit dir ist es etwas andres. Du hast es vorhin gesagt. Du bist wie ein Liebender.“139 Julien Greens Roman ist eine Herausforderung der Seelsorge – auch in unserer Zeit. „Mit Priestern kann ich nicht sprechen. Ich habe nichts gegen sie, aber sprechen kann ich mit ihnen nicht. Mit Ihnen, da kann ich sprechen. Sonderbar – aber es ist nun mal so. Ich kenne Sie nicht und kann Ihnen dennoch sagen, was ich nie jemandem gesagt habe, vor allem keinem Priester.“ Menschen in ihrer Nacht wollen nicht Belehrung von oben oder gar Verurteilung. „Ich will geliebt werden“, sagt der Sterbende.140 Die Kirche muss zu den Menschen gehen, weil sie sie liebt.

Menschen stören sich auch heute daran, dass die Kirche gerade dort nicht präsent ist, wo sie besonders nötig wäre. „,Aber wer soll denn reden, wenn Menschen wie du schweigen?‘ fragte er und ließ den Arm des Vetters los. ‚Du hast kein Recht zum Schweigen, du hast den Glauben. Ein Glaubender schweigt zu einem solchen Fall nicht. Es gibt Millionen von Menschen wie mich auf Erden, und ihr, die ihr den Glauben habt, ihr begnügt euch damit, zu seufzen, wenn ihr an uns denkt.“141

Papst Franziskus ruft uns Christen zu Recht auf, nie den Kontakt zur Realität zu verlieren: „Auch das ist Teil des christlichen Zeugnisses: Es ist eine Herausforderung, angesichts einer Leitkultur, die den Schein und das Oberflächliche und Provisorische an die erste Stelle stellt, die Realität zu lieben.“142 Julien Green schildert, wie Menschen in ihrem religiösen Tun nicht zur Weite des Herzens geführt werden, sondern zur Verzweiflung. „Ich bin einer von denen, die an der Kristallmauer ‚Vollkommenheit‘ zerschellen.“143

XLI


Das andere Buch ist ‚Attaccante nato‘ (Der geborene Stürmer)144 vom italienischen Profifußballer Stefano Borgonovo (1964 –2013). Die Saison 1988/89 verbrachte er beim AC Florenz und schuf mit 14 Treffern in 30 Serie-A-Partien den Durchbruch in Italiens höchste Spielklasse. Der Ehemann und Vater von vier Kindern starb nach achtjährigem Kampf gegen die unheilbare Nervenkrankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose). Diese Krankheit – Borgonovo nennt sie das Ungeheuer – lässt an einem Organ nach dem andern die Muskeln schwinden, außer den Augenmuskeln. Und das bei vollem Bewusstsein. Bei Stefano Borgonovo begann der Verlauf der Krankheit mit der Zunge und den daraus resultierenden Sprechproblemen. Wochen nach meiner Lektüre seiner bewegenden Gedanken hat die Aktion ‚Ice Bucket Challenge‘ im Sommer 2014 dazu beigetragen, die Krankheit in der Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Stefano konnte schlussendlich nur noch die Augen bewegen. Mit den Augen kommunizierte er. Mit diesen konnte er dank modernster Technik schreiben und so die Krankheit und den Menschen in dieser Situation in der Öffentlichkeit zur Sprache bringen, wie das vorher nie möglich war. Pro Sekunde schaffte er mit viel Übung einen Buchstaben. Was Stefano in seinem Buch zum Ausdruck bringt, bewegt mehr als jede kirchenamtliche Stellungnahme zu aktuellen Fragen zum würdigen Leben und würdigen Sterben. Ich habe noch nie bei einer Lektüre so geweint wie bei diesem Buch. Nicht weil ich tieftraurig wurde, sondern im Innersten berührt und ermutigt. Der geborene Stürmer hat uns viel zu sagen über den Menschen, der in der Mitte der Liebe Gottes ist, obwohl er selten über Gott schreibt.

„Ich lache gerne. Ja, auch jetzt noch, wo manche meinen, es gäbe nichts zu lachen. Ich bin noch immer ich selber. Ich bin glücklich, dass ich glücklich bin. Ich habe gelernt, das wertzuschätzen, was mir geblieben ist: Die Freunde, die positiven Gefühle, eine Bewegung hie und da. Ich sehe die guten Seiten des Lebens und fühle mich privilegiert – trotz allem. Ich weiß, dass es Menschen gibt, die weniger haben als ich. Warum soll ich also nicht lachen?“ Und lachen konnte Stefano ‚nur‘ mit seinem Herzen und den Augen.

„Oft werde ich gefragt, was das letzte Wort war, das ich gesagt habe. Ich weiß es nicht mehr. Ich kann mich nicht erinnern. Wenn ich aber ein bisschen poetisch werden darf, würde ich mir wünschen, dass es ‚Danke‘ war. Danke an Chantal, danke an meine vier Sterne, Andrea, Alessandra, Benedetta und Gaia. Danke an all jene, die mir nahe waren, die mich immer respektiert haben. Danke an die Welt des Fußballs.“

Und wenn es um die Frage ‚leben oder sterben‘ geht? „Ein Doktor kam zu mir und wollte mich sprechen. Er war sehr direkt: ‚Stefano, von selbst kannst du nicht mehr atmen, dein Atmungsapparat ist beschädigt.‘ Pause. ‚Willst du künstlich beatmet werden? Willst du an eine Maschine angehängt leben? Wenn ja, mach die Augen zu …‘ Der Moment der Entscheidung war gekommen. Es ging um alles: leben oder sterben? Noch mehr, schlecht leben oder leidend sterben? Das ist die Frage des Jahrhunderts, die sich niemand stellen möchte. Das ist kein Quiz. Keiner kann dir helfen. Vor allem musst du rasch antworten. Du hast keine Zeit. Du musst dagegenhalten und hast nur eine einzige Möglichkeit zur Wahl. Leben oder sterben? Leben oder sterben? Der Kopf droht dir zu platzen, während er die schwierigste Entscheidung deines Lebens verarbeitet. Gianluca Signorini, Ex-Kapitän von Genua, erstickte an der eigenen Luft, das Ungeheuer hatte ihn ein für alle Mal niedergestreckt. Und wie ich daran denken musste. Ich würde sagen, dass ich einen Augenblick extrem berührt war, obwohl das der Moment war, in dem ich hätte antworten sollen. Und Chantal. Und meine Kinder. Ich war Ehemann und Familienvater. Keiner der beiden [d. h. Ehefrau und Kinder] konnte so feig sein und die Flucht ergreifen. Und dann gab’s da auch noch mich. Denn am Scheideweg musst du ein Egoist sein, zumindest ein bisschen. Ich war auch was wert, menschlich sehr viel. Dazu kamen die Millionen, welche die Vereine ausgaben, um meine Tore zu kaufen, als ich noch spielte. Leben oder sterben? Leben oder sterben? Um die Wahrheit zu sagen: die Entscheidung fiel mir nicht so schwer wie vermutet. Wenn man darüber nachdenkt, wenn man klar genug ist, um zu kapieren, dass das Leben das schönste ist, was es gibt, dann wird man draufkommen, dass die Probleme, die Ungeheuer nicht zählen. Das Leben ist einzigartig, in jeder Hinsicht. Du kommst auf die Welt, wächst heran, leidest, schaffst ein anderes...

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