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E-Book

Im Bann der Verantwortung

AutorFrieder Vogelmann
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl486 Seiten
ISBN9783593425252
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis41,99 EUR
Dass wir verantwortlich handeln sollen, scheint eine selbstverständliche Norm zu sein, die kaum jemand infrage stellt. Doch das war nicht immer so - noch vor 200 Jahren war »Verantwortung« ein marginaler Rechtsbegriff. Was bedeutet die steile Karriere von Verantwortung für unser Denken und Handeln? Was geschieht, wenn Verantwortung in der Arbeitswelt oder in der Kriminalpolitik zu einem verlangten Selbstverhältnis ohne substanzielle Handlungsmacht wird, während die Philosophie Verantwortung an diese Bedingung knüpft?

Frieder Vogelmann, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Institut für interkulturelle und internationale Studien (InIIS) der Universität Bremen.

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Leseprobe
1. Einleitung

Der Mythos vom Anfang der Philosophie erzählt von einem Mord: Um Philosophie zu werden, muss der logos töten, was mythos an ihm ist. Theoretische Gewalt ist der Philosophie damit von Anbeginn zu eigen, und wie jede Ursprungserzählung sorgt auch diese für Entlastung von der fortgesetzten Brutalität, die die Philosophie begeht - begehen muss, wie der Mythos vom notwendigen Tod des Mythos ergänzt und dem Absolution erteilt. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange sich die Sensibilität für die in den philosophischen Praktiken ausgeübte Gewalt erhält und mäßigend auf sie einwirken kann: Die Hoffnung bleibt, beim Philosophieren mit weniger als Mord auszukommen - schwerer Körperverletzung vielleicht oder gar nur einem blauen Auge. Doch wo diese Sensibilität abhandenkommt, droht die Gewalt überhandzunehmen und praktisch zu werden. Das ist das Thema dieser Arbeit in seiner allgemeinsten Formulierung.

Warum gerät die eigene theoretische Gewalt aus dem Blick? Vielleicht weil der Eifer keine Ruhe lässt, um den Auswirkungen des eigenen Denkens nachzuspüren. Doch um systematisch nicht zu erkennen, was man anrichtet, dazu bedarf es mehr. In der Sprache des Mythos vom Tod des Mythos gesprochen, braucht es dazu einen Bann, der verzaubert und einfängt (vgl. Mengis 1987; Grimm und Grimm 1854: Spalte 1114 f.), so dass der philosophische Blick von etwas anderem gebannt wird und die philosophischen Praktiken ihre eigene theoretische Gewalt außer Acht lassen.

Ein solcher Bann, so ist der Titel der Arbeit zu verstehen, geht von 'Verantwortung' aus, der große Teile der Philosophie verfallen sind, die die theoretische wie praktische Gewalt von 'Verantwortung' übersehen oder leugnen. Schließlich sei die philosophische Reflexion auf den 'richtigen' Begriff von 'Verantwortung' etwas ganz anderes als dessen philosophisch 'unreiner' Gebrauch in den Praktiken der Gerichtsprozesse und der Kriminalpräven­tion, der Unternehmen oder des Sozialstaats. Aber die Grenzziehung trügt so sehr wie sie beruhigt. Dank der Einheit hinter der Pluralität von 'Verantwortung' wird die Kraft der philosophischen Rechtfertigungen in ganz andere Praktiken übertragen und zeitigt dort 'ungeahnte' Folgen. Zugleich wird 'Verantwortung' zum theoretisch unentbehrlichen Hilfsmittel, nicht nur, um moralische, soziale, ökonomische, rechtliche oder politische Praktiken zu erklären und/oder zu maßregeln, sondern auch, um die Tätigkeiten und den Gegenstandsbereich der philosophischen Praktiken selbst zu verstehen. Fasziniert von ihrer Selbstexplikation mit Hilfe eines tief verankerten 'Verantwortungsbegriffs' entdeckt die Philosophie überall jene 'Verantwortung', mit der sie sich selbst ausgerüstet hat, ohne je auf die Folgen ihrer Hingabe an diesen diskursiven Operator zu treffen. Die blindwütige Legitimationsarbeit, die der 'Verantwortung' gewidmet wird, verbirgt sowohl, was sie den verantwortlich gemachten Individuen antut, als auch die Wände der theoretischen Zelle, in die sich die dem Bann der Verantwortung verfallene Philosophie selbst einschließt.

Den Bann der Verantwortung brechen können nur jene philosophischen Praktiken, die ihn verhängen - dazu will diese Arbeit ihn sichtbar machen und so denen helfen, die um ihre eigene Emanzipation kämpfen.

1.1 Thesen

Gewalt und Faszination, Gefangenschaft und Emanzipation - diese Begriffe können die Perspektive dieser Arbeit andeuten, doch sind sie zu unbestimmt, um ihre Thesen zu formulieren. Schon die Anführungszeichen um 'Verantwortung' weisen auf Schwierigkeiten hin, die ein präziseres Vokabular erforderlich machen. Wenngleich die methodologischen Details erst im folgenden Kapitel geklärt werden, lässt sich schon jetzt die wichtigste Weichenstellung vorwegnehmen, so dass die Thesen dieser Arbeit vorgestellt werden können.

Mit 'Verantwortung' ist im Folgenden mehr und weniger als ein Begriff gemeint: mehr als ein Begriff, weil 'Verantwortung' etwas in Praktiken Aktives ist, das Macht ausübt, Erkenntnisse produziert und Einfluss auf die Subjektivität derer hat, die 'Verantwortung' gebrauchen oder von ihrem Gebrauch betroffen sind. Weniger als ein Begriff ist 'Verantwortung', wenn 'Begriff' einen philosophisch wohldefinierten, geschichtslosen Sachverhalt meint. In diesem Sinne ist Verantwortung bestimmt worden als eine n-stellige Relation (wobei für n alle Werte zwischen eins und sechs eingesetzt werden können) , als eine Seinsweise des Menschen (Thomé 1998), als das ontologische Fundament der Moral (Buddeberg 2011) oder schlicht als 'der Adel der menschlichen Person' (Schuster 1947: 332). Dem stellt diese Arbeit eine andere Perspektive entgegen. 'Verantwortung' ist ein historisch junges Wort mit einer außerordentlichen Geschichte, es ist ein umstrittener Begriff, dem zahllose philosophische Analysen gewidmet sind - es ist jedoch vor allem ein diskursiver Operator, der in den Praktiken, in denen er gebraucht wird, die Machtbeziehungen, die Wissensformationen und die Subjektivierungen transformiert.

'Verantwortung' ist zum Bann geworden, so lautet die wichtigste These dieser Arbeit, weil dieser diskursive Operator zu einem wirkmächtigen Paradigma der Normativität aufgestiegen ist. Die bindende Kraft des Normativen, die dessen Eigentümlichkeit ausmacht, wird heute von großen Teilen der Philosophie anhand von 'Verantwortung' verstanden. Das hat weitreichende Konsequenzen, sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. Die praktischen Auswirkungen zu erkennen erfordert eine detaillierte Analyse jener Praktiken, in die der diskursive Operator 'Verantwortung' hereingetragen wird oder in denen seine Bedeutsamkeit gewachsen ist. Dass eine solche Transformation der Praktiken durch 'Verantwortung' nicht ohne eine Veränderung von 'Verantwortung' vonstattengeht, verkompliziert die Untersuchung weiter. Das dritte und vierte Kapitel dieser Arbeit untersuchen diese wechselseitig verschränkten Transformationen der Praktiken und des diskursiven Operators 'Verantwortung' in den Praktikenregimes der Arbeit und der Kriminalität.

Die theoretischen Auswirkungen von 'Verantwortung' als einem Paradigma der Normativität lassen sich schon in den Wissenschaften besichtigen, die sich von Haus aus mit diesen Praktiken beschäftigen: Soziologie, Ökonomie, Politik- oder Rechtswissenschaft. Gleichwohl sind es die Diskussionen um 'Verantwortung' in der Philosophie, in denen die theoretischen Folgen der neuen Bedeutsamkeit von 'Verantwortung' am deutlichsten werden. Dass sie dennoch erst im letzten Kapitel untersucht werden, ist der Überzeugung geschuldet, dass die Philosophie nicht bei sich selbst anfangen sollte, wenn sie etwas über die Gegenwart sagen will - in der Hoffnung, so eine wie gering auch immer ausfallende Sensibilität für die praktische Bedeutung des in ihr nach ihren eigenen Regeln Verhandelten zurückzugewinnen.



Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Vorwort10
Danksagung18
1. Einleitung20
1.1 Thesen21
1.2 Begriffsgeschichte27
1.3 Diagnosen34
1.3.1 Diffusion durch steigende Handlungsmacht34
1.3.2 Individualisierung als neoliberale Strategie38
1.3.3 Sozialisierung durch Versicherung41
1.4 Übersicht45
2. Michel Foucaults Praktiken50
2.1 Drei Achsen51
2.1.1 Macht53
2.1.2 Wissen66
2.1.3 Selbstverhältnisse77
2.1.4 Zwischenfazit I: Eine kritische Diagnose der Gegenwart88
2.2 Praktiken96
2.2.1 Praxistheorie97
2.2.2 Joseph Rouse’ »scientific practices«101
2.2.3 Zwischenfazit II: Zum Status des Praktikenbegriffs121
2.3 Verantwortung als diskursiver Operator125
3. Das Praktikenregime der Arbeit130
3.1 Lohnarbeit133
3.1.1 Der Topos »Subjektivierung der Arbeit«134
3.1.2 Rechtfertigungen und die neue Leistungspolitik139
3.1.3 Neue Steuerungsinstrumente und die »Macht der Zahlen«147
3.1.4 Selbstverhältnisse155
3.1.5 Zwischenfazit I: »Verantwortung« und die Erfahrung Lohnarbeit163
3.2 Arbeitslosigkeit165
3.2.1 Die Problematisierungen der »Eigenverantwortung«167
3.2.2 Die »Arbeitslosen« der neosozialen Gesellschaft175
3.2.3 Zwischenfazit II: »Verantwortung« und die Erfahrung Arbeitslosigkeit181
4. Das Praktikenregime der Kriminalität184
4.1 Die Verantwortung der »responsibilization strategy«190
4.1.1 Zur Transformation der Erfahrung Kriminalität durch »Responsibilisierung«191
4.1.2 »Verantwortung« in den Praktiken der Responsibilisierungsstrategie205
4.1.3 Zwischenfazit I: »Verantwortung« und die Erfahrung Kriminalität228
4.2 Verantwortung vor Gericht230
4.2.1 Verantwortung und Schuld im demokratischen Rechtsstaat (Klaus Günther)231
4.2.2 Das Theater der Verantwortung250
4.2.3 Zwischenfazit II: »Verantwortung« in Selbstreflexion und Selbstinszenierung des Rechts258
5. Das Praktikenregime der Philosophie266
5.1 Die metaphysische Problematisierung von »Verantwortung«274
5.1.1 Ein englisches Vorspiel275
5.1.2 Willensfreiheit als Selbstbestimmung282
5.1.3 Zwischenfazit I: »Verantwortung« und Zurechnung299
5.2 Die moralische Problematisierung von »Verantwortung«303
5.2.1 Das Selbstverhältnis der philosophischen Verantwortung (I): Unterworfensein314
5.2.2 Zwischenfazit II: »Verantwortung« und Pflicht338
5.2.3 Das Selbstverhältnis der philosophischen Verantwortung (II): Unterwerfen342
5.2.4 Zwischenfazit III: »Verantwortung« und (moralische) Handlungsmacht372
5.3 »Verantwortung« als Gewissheit377
5.3.1 Sprache als Muster von Verantwortungsbeziehungen (Robert Brandom)377
5.3.2 Responsive Normativität (Joseph Rouse revisited)401
5.3.3 Zwischenfazit IV: »Verantwortung« im normativistischen Grenzregime411
6. Im Bann der Verantwortung424
6.1 »Verantwortung« und die Erfahrungen Arbeit, Kriminalität und Wahrheit425
6.2 Diagnose und Kritik429
Siglenverzeichnis438
Literatur442

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