Die Wurzeln der polnischen Migration nach Deutschland reichen in das 19. Jahrhundert zurück. Zwischen 1870 und 1910 kamen 2 Mio. Einwanderer aus Polen ins Deutsche Reich. Darunter waren die sog. „preußischen“ Polen aus den agrarisch strukturierten Ostprovinzen. Zu dieser Zeit existierte der polnische Staat nicht auf der Landkarte, er war unter drei Mächte aufgeteilt: Deutschland, Österreich und Russland. Die meisten Einwanderer ließen sich im Ruhrgebiet (650.000), wie auch in anderen industriellen Ballungsgebieten des Reiches (Berlin, Hamburg) nieder. Später kamen noch die Saisonarbeiter aus dem russischen und österreichischen Teilungsgebiet hinzu, die hauptsächlich in der Landwirtschaft arbeiteten. Die Push-Faktoren der Auswanderung waren politisch und ökonomisch. Das hohe Bevölkerungswachstum in polnischen Gebieten, wie auch der Überschuss an Arbeitskräften in der polnischen Landwirtschaft wirkte auf die Zahl der Ost-West-Migration. Die fortgeschrittene „Industrielle Revolution“ im westlichen Europa zog eine große Nachfrage nach Arbeitskräften an. (Kiereta 2005, S.20-23, vgl. Kolodziej 1996, S.79)
Die meisten sog. Ruhrpolen fanden im Bergbau Beschäftigung, nur wenige betrieben ein Gewerbe. Sie wohnten in der Nähe von Bergwerken in sog. Zechenkolonien, abgeschottet von einheimischer Bevölkerung. Die konzentrierten Siedlungen stellten eine Barrieren dar und verleiteten die Migranten dazu, unter sich zu bleiben.
Die wichtige und einzige Integrationschance für die Einwanderer war die Religion. Die Polen nahmen am religiösen Leben der deutschen Katholiken teil; an Messen, Fronleichnamsprozessionen, Pilgerfahrten und Kirchenfeiern. Dadurch, dass es in den Gemeinden keine polnisch sprechende Pfarrer gab, was sich bei den kirchlichen Ritualen wie der Beichte und der heiligen Kommunion besonders bemerkbar machte, führte es mit der Zeit zur Unzufriedenheit polnischer Gläubiger. Aufgrund dessen entstanden die ersten kirchlichen polnischen Vereine wie „Jednosc“, „St. Barbara-Verein“, Redaktion „Oredownik“ und viele mehr. Fast alle Vereine erklärten im ersten Punkt ihrer Satzung „die Unterstützung des Ordnungsgeistes und guter Sitten“ unter ihren Mitgliedern sowie den Schutz „vor allen Gefahren und Verstößen gegen die Sittlichkeit“. Außerdem erklärten sie, keine politischen Ziele zu verfolgen und wiesen die Mitglieder an, „fromm und sittsam“ zu leben. Mitglied konnte „jeder ehrbare Pole katholischer Konfession“ aus seiner Umgebung werden. (Kaczmarek 2005, S.87-88)
Die katholischen Organisationen haben zwar keine politischen Ziele verfolgt, sie trugen trotzdem zur Bildung der polnischen Subkultur in Nordrhein-Westfalen bei. Unter Subkultur ist hier ein „vielfältiges Netzwerk ethnischer Beziehungen und Organisationen zu verstehen, dass es einer Zuwanderergruppe ermöglicht, sich im Alltag fast ausschließlich innerhalb ihres gewohnten ethnischen Umfeldes zu bewegen“.
Die Subkultur entstand aufgrund der alltäglichen Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit seitens der Aufnahmegesellschaft. Diese Situation führte dazu, dass sich immer mehr Selbstorganisationen bildeten, um die Diskriminierungserfahrungen zu lindern. So entwickelten sich polnische Vereine wie die Berufsvereinigung ZZP (Zjednoczenie Zawodowe Polskie), die bis 1914 zur drittstärksten Gewerkschaft im Ruhrgebiet geworden ist. Im Jahr 1894 wurde der Bund der Polen in Deutschland gegründet, ein paar Jahre später die polnische Turnvereinbewegung „SOKOL“. Dazu kamen polnische Zeitungen. Von 1890 bis 1912 entstand so ein dichtes Netz von 875 Vereinen in allen Lebensbereichen mit 82.000 Mitgliedern. Die Vereine hatten eine Funktion des sozialen Auffangnetzes für die Neuankömmlinge aus Polen. (Wrzesinski 1996, S.24-29)
Von besonderer Bedeutung war die Gründung der politisch-religiösen Zeitung Wiarus Polski (Polnischer Kämpe). Deren Ziel war es, die polnischen Vereine zu vernetzen und eine starke und nationalbewusste Auswanderergruppe mit einer einheitlichen Weltsicht aufzubauen. Pflege der Muttersprache und polnische Traditionen gehörten auch zu den obersten Zielen des Vereins. Das löste seitens der staatlichen Behörden Ängste vor der Stärke dieser Minderheit und der „Polonisierung des Westens“ aus. (Matwiejczyk 2005, S.14-20, vgl. Becher 2004, S.53)
Schon im Jahr 1896 verlangte der Oberpräsident der Provinz Westfalen in einer Denkschrift:
„Scharfe Überwachungen der Agitations- und Vereinstätigkeit, Fernhaltung nationalpolitischer Geistlicher, Beschränkung des Gebrauchs der polnischen Sprache in öffentlichen Versammlungen, ausschließlich deutsche Schulbildung“.
Nach und nach folgten neue Germanisierungsvorschläge. Ab 1899 waren Deutschkenntnisse eine Voraussetzung für die Arbeitsaufnahme in Kohlezechen. Bei öffentlichen Veranstaltungen durften Polen nur die deutsche Sprache benutzen. Polnische Schulen oder Klassen wurden streng verboten. Das Reichsvereinsgesetz aus dem Jahre 1908 gab der Diskriminierung der polnischen Sprache eine gesetzliche Grundlage. Im Jahre 1909 wurde in Bochum eine „Zentralstelle für die Überwachung der Polenbewegungen“ eröffnet. (Wrzesinski 1996, S.24-29)
Über die polnischen Bewegungen und das Engagement in den Organisationen haben sich die Migranten letztlich auch mit dem neuem Umfeld auseinandergesetzt. Die polnische Subkultur wirkte nicht nur abgrenzend, sondern war auch Vermittler zur neuen Lebensumgebung. Demnach sind Integration und Subkultur nicht ausschließlich als Gegensätze zu betrachten, obwohl man hier sagen muss, dass der Integrationsprozess durch die alltäglichen Diskriminierung und Germanisierung sehr schwer verlief. (Kaczmarczyk 2005, S.87-89)
Die Gruppe polnischer Zuwanderer in Berlin (100.000) war nicht so groß wie im Ruhgebiet. 80 Prozent der Migranten haben als Ungelernte gearbeitet, die andere Gruppe von 15 Prozent war als Selbstständige im Bereich Handwerk und Handel tätig. Die dritte Gruppe von 5 Prozent arbeitete sogar als Post- oder Bahnbeamte. Zu einer ganz kleinen Gruppe der Einwanderer in Berlin gehörten Adlige, Künstler, Intellektuelle und Studenten. Sie hatten einen großen Einfluss auf die polnische Migration in Berlin. Durch die Kontakte zu den obersten Gesellschaftskreisen der Reichshauptstadt gelang es ihnen, in dem sich im Kaiserreich verstärkten deutsch-polnischen Nationalitätenkonflikt zu vermitteln. Die Wohnsituation der Polen stellte eine Chance für die Integration dar. Sie war durch die Streusiedlung geprägt, d.h. die Polen wohnten nicht konzentriert in bestimmten Stadtteilen, sondern lebten inmitten der ansässigen Bevölkerung. Die Berliner Polen wurden trotzdem von den Einheimischen diskriminiert und als „Pollacken“ bezeichnet. Um sich zu wehren und diese Barrieren zu überwinden, wurden wie im Ruhrgebiet, polnische Vereine gegründet, bei denen die Kirche und Religion eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Kräfte der nationalpolitischen Strömungen waren aber nicht so stark wie im Ruhrgebiet. Die „Partei der polnischen Sozialisten“(Polska Partia Sozjalistyczna) mit Sitz in Berlin besaß kaum Einfluss unter den Migranten. Sie war finanziell und organisatorisch von den deutschen Sozialdemokraten abhängig. Die polnische Tageszeitung Dziennik Berlinski wirkte auf das Nationalbewusstsein der Polen in Berlin, und versuchte die Integration in die Berliner Gesellschaft zu verhindern und die Perspektive einer späteren Heimatrückwanderung aufrecht zu erhalten (Steinert 2005, S.75-82)
Bei den beiden Gruppen der Zuwanderer im Ruhrgebiet wie auch in Berlin, hatten katholische Geistliche großen Einfluss auf die Entstehung der polnischen Organisationen. Die Priester waren für die Polen als Identifikations- Figuren, weil sie die kulturelle und religiöse Herkunfts-Identität unterstützt haben. Die beiden Gruppen wurde von der einheimischen Bevölkerung diskriminiert und bekämpft. Die Berliner im Unterschied zu ihren Landsleuten im Ruhrgebiet durchliefen einen schnelleren und individuelleren Anpassungsprozess. Ihre Eingliederung wurde nicht durch die Ausbildung einer Subkultur erschwert. Im Gegensatz zu den Ruhrpolen, die in ethnisch homogenen Zechenkolonien lebten und Unterstützung bekamen, waren die Berliner Polen auf sich allein gestellt. (Steinert 2005, S.73-90, vgl. Maxim 1996, S.85)
Nach Kriegsausbruch ändert sich die Situation der Polen. Für die Ruhrpolen verwandelte sich der Bergbau in Kriegsproduktion. Die polnischen Arbeiter blieben überwiegend loyal, obwohl sie von den Behörden weiterhin als potentielle feindliche Ausländer behandelt wurden und für zweidrittel des früheren Lohns noch härter und länger (12 Stundenschicht) arbeiten mussten.(Briesen 1996, S.59)
In den Kriegsjahren änderte sich auch die Lage für die...