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E-Book

Kursbuch 185

Fremd sein!

VerlagKursbuch Kulturstiftung gGmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783946514022
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In der öffentlichen Debatte ist derzeit von kaum etwas anderem die Rede als davon, wie wir mit dem Fremden und mit den Fremden umgehen wollen - und irgendwie werden wir uns selbst dabei fremd. Aber was ist fremd? Was bedeutet 'fremd sein'? Sind wir selbst uns nicht ebenso fremd wie den Menschen, die aus fernen Ländern zu uns kommen? Welche Funktion hat das Fremde? Julia Kristevas Sentenz, die sich auch in diesem Kursbuch wiederfindet, bleibt aktueller denn je: 'Der Fremde, Figur des Hasses und des Anderen, ist weder das romantische Opfer unserer heimischen Bequemlichkeit noch der Eindringling, der für alle Übel des Gemeinwesens die Verantwortung trägt.' Mit Beiträgen von Julia Kristeva, Alfred Hackensberger, Naika Foroutan, Bilal Tanweer, Mita Banerjee, Florian Beaudenon, Alan Posener, Armin Nassehi, Wolfgang Schmidbaruer, Thomas Kron, Pascal Berger und Gregor Dotzauer.

Seit 2012 erscheint das Kursbuch unter der Herausgeberschaft von Armin Nassehi und Peter Felixberger. ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem 'Mit dem Taxi durch die Gesellschaft', in der kursbuch.edition erschien 'Gab es 1968? Eine Spurensuche'. PETER FELIXBERGER (*1960) ist Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: 'Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?'. Das Kursbuch wurde 1965 von Hans Magnus Enzensberger zusammen mit Karl Markus Michel gegründet. Als einer der wichtigsten kritischen Begleiter der bundesdeutschen Öffentlichkeit setzte die Kulturzeitschrift Themen, die sonst nicht auf der öffentlichen Agenda standen. Demgegenüber gilt es heute, im vorhandenen Themendickicht neue Schneisen zu schlagen und überraschende und ungewohnte Verbindungen herzustellen. Unter der Herausgeberschaft von Peter Felixberger und Armin Nassehi bietet das Kursbuch solche neuen unerwarteten Perspektiven an. Nicht die großen Unterschiede werden diskutiert, sondern das, was einen Unterschied macht.

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Leseprobe

Gregor Dotzauer
Brief eines Lesers (13)

Der Titel, zufällig entdeckt, begegnete mir just in dem Moment, als Mazedonien Flüchtlingen auf der Balkanroute eine dreitägige Transiterlaubnis gewährt hatte. »The Disappearance of the Stranger«, das klang nach einem Roman oder einem Film, aber es war ein Seminar in interkultureller Kommunikation unter dem Generalthema »Dealing with The Other«, Teil eins. Wenige Tage später beschrieb mir der mazedonische Dichter Nikola Madzirov, Nachfahr einer Familie, die infolge der Balkankriege zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Griechenland fliehen musste, in nüchternen Worten, dass es im ganzen Land keine Fahrräder mehr zu kaufen gebe. Sie seien alle in den von früh bis spät vorüberziehenden Flüchtlingstrecks im Einsatz. Man könne sie höchstens zu Wucherpreisen an der Grenze zu Griechenland erstehen oder darauf hoffen, ihnen an der Grenze zu Serbien wiederzubegegnen, von der aus findige Händler sie zum neuerlichen Verkauf an die griechisch-mazedonische Grenze zurücktransportieren. Das Bild von der Fahrradkolonne beschäftigte ihn ohne jedes poetische Interesse. Es befremdete ihn als Mensch, der kaum vor die Haustüre treten kann, ohne auf der Straße und am Horizont das endlose Band der Fahrradfahrer in der Frühsommerhitze zu sehen. So, wie er es mir ausmalte, gewann es eine geradezu surreale Qualität. Seither verfolgt mich dieses Bild. In ihm konzentriert sich für mich die Wirklichkeit eines historischen Moments, dessen handfeste Folgen ich in der eigenen Stadt zwar sehr wohl bemerke, der mir jedoch nach wie vor in Nikola Madzirovs Beobachtung am fasslichsten erscheint.

Seither sinne ich auch darüber nach, welche Bewandtnis es mit dem Verschwinden des Fremden im Umgang mit dem Anderen hat, wie der Seminartitel behauptet. Über die anhaltenden Projektionen der Xenophobie in all ihren Formen muss man nicht reden. Die Erforschung ihrer Mechanismen und Strategien trägt bei allen realen Konflikten, die sich mit ihnen vermengen, im Großen und Ganzen erfolgreich zum Abbau von Feindseligkeiten bei. Im Licht postkolonialer Erkenntnisse findet auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit statt, die nicht nur Auswirkungen auf das aktuelle politische Handeln hat, sondern mitunter bis ins Fiktionale reicht. Die ungewöhnlichste Maßnahme nachholender Gerechtigkeit ist sicher die »Gegendarstellung«, die der algerische Journalist Kamel Daoud gut 70 Jahre nach dem Erscheinen von Albert Camus’ Roman Der Fremde mit Der Fall Meursault vorgelegt hat. Sie gibt dem anonymen »Araber«, den der Ich-Erzähler mehr oder weniger zufällig erschießt, aus der Sicht des Bruders einen Namen und ein erzählerisches Gesicht. Ergänzt wird eine Blindstelle, die der pied-noir Camus’ zu seiner Zeit wohl gar nicht erkennen konnte, vermutlich aber auch gar nicht ausfüllen wollte. Denn der wirklich Fremde des Romans, der seine Leser bis heute zu befremden vermag, ist der sich selbst entfremdete, in seiner Unberührbarkeit versinkende Erzähler Meursault. Was folgt daraus für die Erfahrung von Fremdheit überhaupt? Verliert die Ethnologie als Wissenschaft vom kulturell Fremden nicht ihre Grundlage? Und kommt es in der ethnografischen Forschung nicht darauf an, auch der eigenen Kultur wie einer fremden gegenüberzutreten?

Das unendliche Spiel von Identität und Differenz hat einerseits zu jenem Abgrenzungswahn geführt, der sich auf der Straße in nationalistischen Demonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen Bahn bricht, und andererseits zu jener Leugnung aller Unterschiede, die Diversität beansprucht, sie im gleichen Atemzug aber schon nicht mehr wahrnehmen will. Vor allem an britischen und amerikanischen Universitäten hat sich daraus ein Drama eigener Art ergeben, das auch hierzulande mehr und mehr Anhänger findet. Der antirassistische und antikolonialistische Impetus, der einst Jean-Paul Sartres Phänomenologie des Anderen mit Frantz Fanons Hoffnungen auf das revolutionäre Potenzial afrikanischer Bauern zusammenführte, hat sich in emanzipatorischen Sub- und Nebendiskursen vervielfacht. Er lebt fort in Achille Mbembes Kritik der schwarzen Vernunft oder den von Judith Butler inspirierten Texten der Queer Theory, und er bewegt die Aktivisten in der Asylpolitik nicht weniger als die LGBT-Gemeinschaft.

Vieles davon hat dazu beigetragen, das Verhältnis von Mehrheiten und Minderheiten in westlichen Gesellschaften gerechter zu gestalten. Der linguistic turn, den die anfangs durch und durch materialistische postkoloniale Theorie dabei genommen hat, führt allerdings zu Sprachregelungen, die von der kindischen Annahme leben, dass die Wortwahl allein schon die Wahrnehmung von Differenz ausblenden könne. Wie kann man das sagen, ohne sich in schlechte Gesellschaft zu begeben? Das vorgeblich nonkonformistische Aufbegehren gegen einen Konformismus, der sich mit dem etwas aus der Mode gekommenen rechtskonservativen Kampfbegriff der political correctness verbindet, ist meistens sein Gegenteil: ein populistisches Manöver. Der Schlüssel liegt für mich eher in der Überwindung eines Blicks, der, wie es der französische Anthropologe Philippe Descola formuliert, den »dualistischen Schleier« ablegt, unter dem Natur und Kultur als streng voneinander geschiedene Welten erscheinen. Denn die durchgehende Kulturalisierung ethnischer und sexueller Unterschiede ist so fatal wie ihre durchgehende Naturalisierung. Man müsste eine Ordnung der Dinge entwerfen, in der an die Stelle von absoluter Natur und kontingenten Kulturen fließende Übergänge treten.

Es gibt gute Gründe, sich gegen den Essentialismus rein biologischer Zuschreibungen zu wehren. Zugleich müsste man allerdings auch zugeben, dass das Aufwachsen innerhalb bestimmter Traditionen nicht minder wesenhafte Züge hervorbringen kann. Diese Prägung ist nur bis zu einem gewissen Grad ein Gegenstand freier Wahl. Der weiße heterosexuelle Europäer entgeht ihr so wenig wie der schwule Afroamerikaner: Beide beziehen ihr Selbstverständnis aus den Zufällen ihrer Herkunft. Sie bewohnen Welten mit verschiedenen Codes und verschiedenen Vergangenheiten. Was soll sie daran hindern, sich als radikal, wenngleich nicht fundamental andersartig wahrzunehmen? Und was soll sie daran hindern, die umgekehrte Erfahrung zu machen, dass ihre Gemeinsamkeiten die Unterschiede bei Weitem übertreffen? Jeder denkende Mensch weiß, dass Fremdheit einzig und allein im Auge des Betrachters liegt. Genau deshalb lässt sie sich abstreifen. Das Fremde ist dazu da, zum Eigenen zu werden. Aber allem Anschein nach ist das vielen nicht genug – als ginge es darum, die Anmutung von Fremdheit als menschliches Grundgefühl abzuschaffen.

Im Berliner Bezirk Wedding, der zur Hälfte von Migranten, ihren Kindern und Kindeskindern bewohnt wird, wurde Ende Januar eine Ausstellung mit dem Titel »POW« eröffnet. Sie geht, so die Kuratoren – der aus Kamerun stammende Bonaventure Soh Bejeng Ndikung und die Dänin Solvej Helweg Ovese –, »von einer grundsätzlichen Gleichberechtigung und rhizomatischen Verbindung zwischen westlichen und nicht westlichen Künstlerinnen und Künstlern aus«. Das titelgebende Akronym steht für »Post-Otherness-Wedding« und geht auf einen Aufsatz zurück, in dem Ndikung, der für die documenta 14 im kommenden Jahr als Curator at Large bestellt ist, und Regina Römhild vom Institut für Europäische Ethnologie der Berliner Humboldt-Universität »The Post-Other as Avant-Garde« entwickelten. Post-Other bezeichnet darin »eine Figur, die noch immer Anzeichen des historischen Othering in sich trägt, während sie gleichzeitig unbekannte Zukünfte repräsentiert und mit ihnen experimentiert. Im Schatten der dominierenden politischen Vorstellung entfaltet sich eine kosmopolite Realität von nebeneinander existierenden Bemühungen, welche sich gegen diese Metaphorik aussprechen und handeln. Der Zeitpunkt des Post-Other ist hingegen noch im Entstehungsstadium: Es offenbart sich in der alltäglichen Praxis in ›unbewusster‹ Form, vor allem wenn die Anonymität des urbanen Lebens unendlich viele Beispiele alltäglicher, kosmopoliter Interaktionen ermöglicht.«

Mit Othering haben Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak die Praxis charakterisiert, die eigene Kultur auf Kosten anderer Kulturen in ein strahlenderes Licht zu rücken. Indem sie noch gang und gäbe ist, handelt es sich beim Post-Othering um eine Utopie. Doch ist der politische Anspruch, der sich in diesem Begriff kundtut, nicht allzu idealistisch? Und ist die Avantgarde als ästhetisches Fortschrittskonzept nicht schon hundertmal bestattet worden? Damit nicht genug. Der Text steht in dem Reader We Roma: A Critical Reader in Contemporary Art, in dem Roma und Nicht-Roma den Versuch unternehmen, die moderne Mehrheitsgesellschaft aus der Perspektive einer tendenziell vormodernen, sozial marginalisierten Gemeinschaft anzusehen. Steckt darin, was die Nicht-Roma betrifft, nicht die späte Fortschreibung der befreiungstheologischen Identifikation mit einer Dritten Welt, die in einer Geste der Aneignung nun auf dem eigenen Kontinent gesucht wird?

Man kann sich schnell darüber einigen, dass die westliche Kunst der nicht westlichen keineswegs überlegen ist. Rhizomatische Verflechtungen etwa zwischen Asien und Europa gibt es, seitdem Alexander der Große durch seinen Feldzug im dritten Jahrhundert vor Christus die Vermischung von Hellenismus und Buddhismus ermöglichte. Auch über die Problematik, dass unter der Prachtkuppel des künftigen Humboldt-Forums im zuletzt kaiserlich-preußischen Stadtschloss mit der rekonstruierten »Höhle der 16 Schwertträger« ein besonders exquisites Stück Raubkunst ausgestellt sein wird, lässt sich reden. Der Berliner Indologe...

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