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Lesesozialisation in Kindheit und Jugend

Lesemotivation, Leseverhalten und Lesekompetenz in Familie, Schule und Peer-Beziehungen

AutorMaik Philipp
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl174 Seiten
ISBN9783170295575
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Wie werden Heranwachsende zu kompetenten Leserinnen und Lesern? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz? Und wie hängen diese drei Bereiche des Lesens vom Geschehen in der Familie, der Schule und in Peer-Beziehungen ab? Diesen Fragen geht die Forschung zur Lesesozialisation nach, ihre Befunde werden im vorliegenden Band vorgestellt. Er bietet einen aktuellen und systematischen Überblick zum internationalen Stand der Forschung und blickt aus zwei Perspektiven auf das Thema Lesesozialisation. Der erste Teil enthält Ergebnisse aus Untersuchungen zu den Bereichen Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz. Der zweite Teil fokussiert empirisch nachgewiesene soziale Einflüsse von familialen, schulischen und Peer-Variablen auf Lesefreude, -frequenz und -verstehen.

Dr. Maik Philipp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Lesen an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz in Aarau.

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Leseprobe

3 Lesemotivation


Warum lesen Kinder und Jugendliche? Die Gründe dafür sind vielfältig und werden in diesem Kapitel eingehend beleuchtet. Es beginnt mit einer Systematisierung verschiedener Arten von Lesemotivation (Kap. 3.1). Danach werden Forschungsergebnisse zweierlei Art präsentiert. Erstens werden empirisch nachgewiesene Varianten der Lesemotivation dargestellt (Kap. 3.2). Zweitens werden Unterschiede von Jungen und Mädchen sowie Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen in den Blick genommen (Kap. 3.3). Zu guter Letzt werden Entwicklungsverläufe von Formen der Lesemotivation konturiert (Kap. 3.4). Dabei interessieren auch Unterschiede in soziodemografischen Gruppen.

3.1 Wie lassen sich Arten der Lesemotivation theoretisch unterscheiden?


Motivation lässt sich zunächst allgemein bestimmen als eine „aktivierende Ausrichtung des momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Zielzustand“ (Rheinberg, 2002, S. 17). Nach dieser Definition geht es darum, dass Menschen aktiv einen Zustand erreichen wollen, den sie als erstrebenswert empfinden, wobei es auch um Vermeidungen bestimmter Zustände gehen kann. In der Motivationsforschung besteht Einigkeit darin, dass es nicht nur eine Form von Motivation, sondern dass es verschiedene motivationale Konstrukte wie Erwartungen, Werten, Interessen, Selbstwirksamkeit, -bestimmung und -regulation gibt (für einen Überblick: Wentzel & Wigfield, 2009), die in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen (Hidi & Harackiewicz, 2000). So wenig wie es eine Motivation gibt, gibt es nur eine Form der Lesemotivation (Wigfield, 1997). Die Forschung zur Lesemotivation kennt viele theoretische und empirische Zugänge, von denen in diesem Kapitel die theoretischen vorgestellt werden.

In den einflussreichen Arbeiten von Allan Wigfield und John T. Guthrie (Wigfield, 1997; Guthrie & Wigfield, 1999, 2000; Guthrie & Coddington, 2009) wurde stets postuliert, dass es sich bei der Lesemotivation um ein mehrdimensionales Konstrukt handelt, das soziale, intrinsische, extrinsische und weitere Aspekte wie etwa das Erleben von Kompetenz, Wahlfreiheit oder Involviertsein umfasst. Diese verschiedenen Facetten lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten systematisieren. Ein solcher Versuch wird in Tabelle 3.1unternommen: Sie enthält eine Gegenüberstellung von sieben mehr oder minder dichotomen Paaren von Lesemotiven bzw. Formen der Lesemotivation. Diese Sammlung stellt keineswegs das Gesamt an Formen der Lesemotivation dar, sondern soll mit dem Mittel des Kontrasts als zugrunde liegendem Prinzip vor allem die Breite des Spektrums an Unterscheidungsmöglichkeiten von Lesemotivation verdeutlichen.

Tab. 3.1: Gegenüberstellung von Lesemotiven bzw. Varianten der Lesemotivation

Unterscheidungsdimension

Gegenüberstellung der Begriffspaare

angestrebter Zweck

Unterhaltung

Information

Textart

fiktional

non-fiktional

Kontext

Freizeit

Schule/Beruf

Dauer/Vorkommen

aktuell

habituell

Anreiz des Lesens

intrinsisch

extrinsisch

personale Quelle des Leseantriebs

eigene Person

fremde Person(en)

Funktionalität für das Leseverstehen

funktional

dysfunktional

Die erste Unterteilung ergibt sich aus dem angestrebten Zweck, der sich idealtypisch in ein Lesen zur Unterhaltung oder zur Information trennen lässt (Christmann, 2004; Klimmt & Vorderer, 2004). Diese beiden Zwecke versteht Groeben (2004b) in Übereinstimmung mit Vorderer und Klimmt (2002) oder auch Schön (1999) nicht als Gegensatz, existieren doch bei Lese- und Medienangeboten zahlreiche Mischformen wie Edu- oder Infotainment, die die Grenze zwischen sich vermeintlich gegenseitig ausschließenden Zwecken der Lektüre verwischen. In einer Studie mit 10- und 13-Jährigen aus aller Welt fanden Greaney und Neumann (1990) allerdings drei unterscheidbare Faktoren vor, warum Kinder bzw. Jugendliche lesen: erstens aus Gründen der Nützlichkeit für die Schule oder den späteren Beruf, zweitens aus der Freude am Lesen, weil es unterhält und Zugänge zu anderen Welten offeriert, und drittens deshalb, weil es eine Flucht aus langweiligen oder belastenden Situationen ermöglicht. Die Faktoren Flucht und Freude lassen sich eher dem Unterhaltungslesen, der Faktor Nützlichkeit stärker dem informatorischen Lesen zuordnen. Es ist daher – auch aus didaktischer Sicht – sinnvoll, zwischen einem eher informatorischen und einem eher unterhaltungsbasierten Lesen zu unterscheiden.

Bemerkenswert an Groebens (2004b) Unterscheidung der Zwecke ist, dass das Motiv Unterhaltung fiktionalen Texten und das Motiv Information Sachtexten zugerechnet wird. Diese zweite Unterscheidung nach Textart dürfte damit zu tun haben, dass beide Formen unterschiedlichen Konventionen folgen. So beziehen sich Sachtexte auf die tatsächliche Welt und sollen eindeutig sein, während literarische Texte sich eher auf mögliche Welten beziehen und dabei sowohl einer Polyvalenz- und Ästhetikkonvention unterliegen: Sie sind mehrdeutig und verweisen nicht notwendigerweise auf eine Welt außerhalb jener, die im Text dargestellt wird (Rosebrock, 2007). Die spezifischen unterschiedlichen Anforderungen an die Lesenden (Christmann & Groeben, 2002; Eggert, 2002) bilden unter Umständen gerade den Anreiz für die Lektüre (Christmann & Rosebrock, 2006). Bei Viertklässlern ließen sich jedenfalls distinkte Motive für das Lesen von Sach- und belletristischen Büchern eruieren (Guthrie, Hoa, Wigfield, Tonks, Humenick & Littles, 2007).

Eine weitere Differenzierung betrifft den Kontext. Einige Studien von Guthrie und Kollegen haben zwei Formen unterschieden: das Lesen in der Freizeit und das schulische Lesen. Bei beiden sind möglicherweise spezifische Arten der Lesemotivation die treibende Kraft (Coddington, 2009; Cox & Guthrie, 2001; Guthrie et al., 1999; Wang & Guthrie, 2004). Unterstützung erfährt dies von einem der Lesemotivation verwandten, aber nicht deckungsgleichen Konstrukt, nämlich den Einstellungen zum Lesen. McKenna, Kear und Ellsworth (1995) differenzierten in ihrer Studie zwischen positiven Einstellungen zum Freizeitlesen und zum Lesen in der Schule. Zudem ließen sich mit den drei Faktoren aus der Studie von Greaney und Neuman (1990) ebenfalls kontextspezifische Varianten der Lesemotivation benennen: Lesen wegen der Nützlichkeit hat einen stark schulischen Bezug, während das Lesen zur Unterhaltung deutliche Züge der Freizeitlektüre aufweist. Den gegenwärtig wichtigsten Beitrag in diesem Zusammenhang dürfte Coddington (2009) leisten, die theoretisch begründet zwei Instrumente zur inner- und außerschulischen Lesemotivation entwickelt und eingesetzt hat. Qualitativ gewonnene Daten stützen zusätzlich die Existenz von distinkten Motivationsformen, inner- und außerhalb der Schule zu lesen (Graf, 2007; Ivey, 1999; Smith & Wilhelm, 2002).

Eine klassische Differenzierung liegt bei der Dimension Zeit bzw. Dauer vor. Die Absicht zu lesen kann sowohl nur in einzelnen Situationen bestehen als auch situationsübergreifend vorkommen. Eine habituelle Lesemotivation bildet sich aus, wenn wiederholt aktuelle Lesemotivationen auftreten. Darunter wird das „Ausmaß des Wunsches oder der Absicht, in einer bestimmten Situation einen spezifischen Text zu lesen“, gefasst (Artelt et al., 2005, S. 19). Für das Interesse ist die zeitliche Perspektive präziser herausgearbeitet worden als für die Lesemotivation, selbst wenn inzwischen erste Forschungsarbeiten zum Verhältnis von situativer und habitueller Lesemotivation vorliegen (Guthrie, Hoa, Wigfield, Tonks & Perencevich, 2006; Guthrie, Hoa et al., 2007). So wird analog zur Differenzierung von aktueller und habitueller Lesemotivation in der Interessenforschung von situativem und individuellem Interesse gesprochen. Hidi und Renninger (2006) haben dafür ein Vier-Phasen-Modell zur Entwicklung des übergreifenden individuellen Interesses über wiederholt auftretendes situatives Interesse postuliert, für das bei Grundschulkindern bezogen auf das Lesen erste Hinweise vorliegen (Guthrie, Hoa et al., 2007; Nolen, 2007). In der Vielzahl der Studien, die sich der Lesemotivation widmen, wird allerdings der zeitliche Aspekt der Lesemotivation bislang vernachlässigt, sodass der Großteil von Befunden sich auf die habituellen Formen der Lesemotivation konzentriert, ohne dass das immer ausdrücklich erwähnt wird.

Eine der wichtigsten Differenzierungen von Lesemotivation betrifft zweifellos den Anreiz des Lesens, der inner- oder außerhalb der Tätigkeit liegt (Ryan & Deci, 2000)....

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