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E-Book

Meine Freundin, die Depression

Wie ich mich meiner Krankheit stellte und so zu mir selbst fand

AutorVictoria Müller
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783961211838
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
'Lange habe ich es regelrecht geheim gehalten (...). Ich hatte Angst. Angst vor Ablehnung, vor dem großen Stempel. Angst 'Schwäche' zu zeigen. Inzwischen weiß ich, dass ich stark bin.' Mit diesen Worten hat sich die beliebte Bloggerin Victoria Müller nicht nur ihren Fans, sondern unzähligen anderen Betroffenen als depressiv offenbart und damit ein Tabu gebrochen: Auch als erfolgreiche, schöne und bewunderte junge Frau kann man knallhart von einer Depression getroffen werden. Authentisch und bewegend erzählt Victoria von den ersten Anzeichen bis zu ihrer Selbsteinweisung und zeigt, dass eine Depression trotz aller dunklen Seiten auch dazu führen kann, sich mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen und sich Problemen zu stellen.

Victoria Müller ist nicht nur bekennende Pazifistin, sondern auch Bloggerin, Tierschutzaktivistin, Moderatorin, Botschafterin für die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Chefin ihres Modelabels 'The New Rose'. In einem Provinznest in der Nähe von Frankfurt am Main aufgewachsen, entdeckte sie schon früh ihre Vorliebe für Tattoos und Krawallmusik - Punk war schon früh ihr Katalysator. Und dennoch folgte ein klassisches Studium der Anglistik und Germanistik.

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Leseprobe

1


Die unerträgliche Leichtigkeit der Freiheit


»Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin. Wo die Verrückten sind, da jehörste hin.« Diese berühmten Liedzeilen aus Franz von Suppés Operette Fatinitza habe ich mir zu Herzen genommen. Schon mit 14, als ich das erste Mal in Berlin war, wusste ich: Hier will ich mal leben. Das ist meine Stadt. Bunt, laut, schrill. Das Leben dort wirkte freier und ungezwungener. Äußerlichkeiten schienen hier nicht so wichtig, überall wuselten Menschen mit bunten Haaren herum, jeder schien zu tun, was ihm beliebte. Die Stadt und ihre Bewohner wirkten so gelassen, tolerant, cool. Das übte eine magische Anziehung auf mich aus, war es doch genau das Gegenteil von dem tristen Dorfleben, das ich kannte, wo Toleranz ein Fremdwort war und alle irgendwie gleich aussahen. Inspirierend war das nicht.

Mein erster Berlinbesuch fand im Rahmen meines Schulpraktikums statt: Ich begleitete Jan, einen Fotojournalisten und Freund meines Vaters, zu einem Filmdreh in die Hauptstadt, denn Jan sollte Behind-the-Scenes Bilder festhalten. Das war keine popelige Klassenfahrt, auf der nur Reichstag und Fernsehturm auf dem Programm stehen. Ich durfte das echte Berlin kennenlernen. Wir übernachteten bei dem Regisseur des Films. Der hieß Manfred, aber ich fand, dass dieser altbacken klingende Name überhaupt nicht zu ihm passte. Manfred war ein moderner Mittdreißiger mit großer Designerbrille und Retro-Turnschuhen. Seine Tochter Juliette, die in meinem Alter war, hatte er nach der Schauspielerin und Musikerin Juliette Lewis benannt. Manfred und Juliette lebten zusammen in einer riesigen Altbauwohnung im Prenzlauer Berg: Dielenboden, Stuck an der Decke und üppige Kachelöfen in jedem Raum. Die Einrichtung war ein moderner Mix aus Designerteilen und Flohmarktmöbeln. Manfred war alleinerziehend, und Juliette genoss viele Freiheiten. Bis dahin hatte ich noch keinen alleinerziehenden Vater kennengelernt, denn dieses Familienmodell war in hessischen Vororten noch nicht angekommen. (Und ich bezweifle, dass sich daran inzwischen etwas geändert hat.) Mit den bunten Strähnen im Haar, zwei verschiedenfarbigen Kniestrümpfen und einem quietschgelben Zebramusterkleid entsprach auch Juliette nicht dem typischen Vorstadtmädchen, aber genau meinem Geschmack. Ich hatte das Gefühl, endlich anzukommen. Hier, umgeben von Gleichgesinnten in puncto Musikgeschmack und Interessen, war ich in meinem Element. Juliette und ich quasselten stundenlang über das Leben in Berlin, sie erzählte mir, dass sie schon mal Nina Hagen auf der Straße getroffen habe und welche Berühmtheiten in ihrem Kiez wohnten. Ich lag auf ihrem Bett, das Gesicht auf die Hände gestützt, meine Ellenbogen in die Matratze bohrend, lauschte ich ihren Erzählungen. »Und was geht bei dir so ab?«, frage Juliette plötzlich. »Wo kommst du noch mal her? Frankfurt, oder?« »Fast. Ist eher so ein kleines Nest vor Frankfurt. Super öde«, antwortete ich und schämte mich fast für meine Herkunft. »Manchmal hänge ich aber auch in Frankfurt rum«, fügte ich hinzu, um mein langweiliges Leben wenigstens etwas aufzupeppen. »Klingt doch cool«, sagte Juliette. »He, kennst du schon die neue Yeah Yeah Yeahs? Hat mir mein Dad gestern mitgebracht. Soll ich die mal reinlegen?« »Ich liebe die Yeah Yeah Yeahs. Geil, mach an!«, erwiderte ich aufgeregt. Sie drehte die Musik voll auf und begann, auf dem Bett zu tanzen.

Am nächsten Tag fuhren Jan und ich mit Manfred in dessen altem dunkelblauen Mercedes zum Set. Juliette hatte Schule und konnte deshalb leider nicht mit. Die Fahrt dauerte fast eine Stunde, weil das Set außerhalb der Stadt lag. Ich trug eine riesige Sonnenbrille mit orangenen Gläsern aus den Siebzigern, trällerte mit Jan und Manfred den Beat-staeks-Song mit, der im Radio lief – und fühlte mich pudelwohl. Als der Song vorbei war, grinste Manfred zu mir herüber: »Du bist ´ne echte Type, wa!« Da war mir klar: Ich gehör‘ nach Berlin. Nur hier würde ich mich entfalten und ich selbst sein können, ohne komisch beäugt, kritisiert oder gehänselt zu werden. Es war fast zu schön, um wahr zu sein – und letztlich war es das auch nicht. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass Berlin verrückt macht. Ein Mensch muss schon in guter psychischer Verfassung sein, um hier nicht mit wehenden Fahnen unterzugehen und einen echten Psychoknacks wegzubekommen. So wie ich zwölf Jahre nach meinem ersten Besuch. Doch der Reihe nach …

Bevor ich nach Berlin ging, legte ich erst noch einige schrille Au-pair-Monate London und sechs Studienjahre in Darmstadt ein. In Darmilein, wie ich die eintönige Stadt inzwischen liebevoll nenne, habe ich mich zeitweise zu Tode gelangweilt. Kein Wunder bei dem Kontrast zur pulsierenden englischen Metropole. Daaarmstadt (Gähn!) hieß Zwangsentschleunigung, die Stadt war überschaubar, mein soziales Umfeld grundsolide. Dazu passte mein zugebenermaßen sehr spezieller Musikgeschmack natürlich ganz und gar nicht, weshalb ich begann, auch das Genre Rock zu erobern, und ging mit meinen neuen Studienfreunden auf Indie-Pop-Partys und Hardcore-Konzerte. Aber ich wollte mehr. Mehr Action, mehr Abwechslung, mehr Punkrock, mehr Party. Innerlich hatte ich meine Koffer für Berlin schon gepackt, als die Liebe den ausschlaggebenden Schubs gab – und zack saß ich mit meinem damaligen Freund Rob1 in einem WG-Zimmer in Berlin-Friedrichshain. Meine Abschlussarbeit konnte ich schließlich auch hier schreiben. Rob, der bereits vor acht Jahren von Darmstadt nach Berlin gezogen war, war bestens vernetzt und spielte in einer Band, wodurch ich ziemlich schnell viele Kreativlinge kennenlernte, von denen die meisten »was mit Medien« machten. War ich in Darmstadt als Tattoomodel der sprichwörtlich bunte Hund gewesen, war ich in Berlin plötzlich eine freischaffende Kreative unter vielen. Doch dieses vermeintlich inspirierende Umfeld stellte sich ziemlich schnell als zermürbend heraus – und nur wenige Monate nach meinem Umzug war meine psychische Gesundheit reif für die Tonne: Depression. Nicht herzzerreißend melancholisch mit einer Prise romantisierter Düsterkeit, wie man es aus The Smiths-Songs kennt, sondern so richtig mit Diagnose, Selbsteinweisung, Pillen und Therapie. Ich kannte mich selbst nicht mehr. Warum gerade jetzt, da ich endlich meinen Traum, in Berlin zu leben, verwirklicht hatte?

BLEIBEN ODER GEHEN?


»Ich produzier‘ im Moment mein erstes Album, hab‘ einen Blog, und nebenbei designe ich Ohrschmuck für Katzen«, erzählte Constanze, eine schlanke Blondine. Wir hatten uns vor zwei Minuten an der Bar vom Lido kennengelernt. »Wow, das ist aber eine ganze Menge«, sagte ich bewundernd. »Kommst du damit denn gut über die Runden?« Ich kam mir etwas naiv vor. Das Mädchen aus dem Hessisch´ Outback hört staunend den tollen Geschichten der noch tolleren Szeneberlinerin zu. »Läuft mega gut, vor allem die Katzen-Klunker. Wurde grad in der Vogue ge-featured, und bei der nächsten Pariser Fashion Week will der Lagerfeld auch Katzen auf den Laufsteg schicken, die dann meine Schmuck-Kreationen tragen sollen«, schwärmte Constanze, während sie schon zum dritten Mal ihr Handy checkte. »Krass, hätte ich gar nicht gedacht … Ich geh mal schnell aufs Klo, sehen uns sicher später noch mal«, verabschiedete ich mich, genau wissend, dass wir uns an diesem Abend bestimmt nicht mehr sehen würden. Wer auf Berliner Partys jemanden abwimmeln möchte, verlässt die Situation einfach mit einer Ausrede (Toilettengang, Zigarettenpause oder neues Getränk) und dem Standardspruch »Wir sehen uns später«. So entgeht Mensch jedem unangenehmen Gespräch, ohne sein Gegenüber vor den Kopf zu stoßen.

»Kennst du diese Constanze?«, fragte ich Rob in der Lounge-Ecke. »Die hat mir eine total abgedrehte Story erzählt, dass sie irgendwas mit …« »Abgedreht trifft‘s«, unterbrach er mich und steckte sich eine Zigarette an. »Die hat so einen Sockenschuss. Glaub´ der bloß nichts. Die macht zwar wirklich irgendwie Musik und versucht sich an allem Möglichen, nichts klappt so richtig. Kann einem fast leidtun.« »Dann hat die mich einfach angelogen oder was?«, fragte ich irritiert. »Hm … Würde ich so nicht sagen. Sie hat halt ihre eigene Realität. Lust auf einen Pfeffi?« Damit war das Gespräch beendet, aber Constanze mit den Katzen-Klunkern ging mir auch am nächsten Tag noch durch den Kopf. Rob schien nicht sonderlich schockiert darüber gewesen zu sein, dass sie Quatsch erzählt. Und wieso meinte er, dass sie einem fast leidtun kann? Das machte doch alles keinen Sinn. Wieso sollte jemand bewusst Unwahrheiten erzählen, obwohl fast jeder weiß, dass es nicht der Realität entspricht?

Rob und ich gingen oft aus, am Wochenende, unter der Woche, an jedem Wochentag war irgendetwas los. Schon bald kannte ich die Friedrichshainer Szene in- und auswendig – und merkte, dass die Menschen hier wirklich anders ticken. Sogar anders als in London. Irgendwie waren hier alle am Durchdrehen, als hätte man einem Kleinkind zu viel Zucker verabreicht. Alle etwas überspult und ständig auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. 99,6 Prozent meiner neuen Bekanntschaften kamen wie ich aus irgendeinem Kuhkaff und mit der gleichen Sehnsucht, in der großen Stadt zu leben, um sich kreativ zu entfalten. Ich war ganz erschlagen von all den Möglichkeiten und schillernden Figuren, die mir hier über den Weg liefen. Erfolgreiche Autoren, erfolgreiche Musiker, erfolgreiche Produzentinnen. Jeder war in dem, was er tat, besonders erfolgreich und einzigartig, ich wurde aber schon eine Woche später von eben jenen erfolgreichen Menschen um 10 Euro angeschnorrt, die ich natürlich nie wiedersah. All das, was hier Bedeutung hatte, war mir bislang...

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