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E-Book

Patient ohne Verfügung

Das Geschäft mit dem Lebensende

AutorMatthias Thöns
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783492952552
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
In deutschen Kliniken wird operiert, katheterisiert, bestrahlt und beatmet, was die Gebührenordnung hergibt - bei 1.600 Euro Tagespauschale für stationäre Beatmung ein durchaus rentables Geschäft. Dr. Matthias Thöns berichtet aus seiner jahrelangen Erfahrung von zahlreichen Fällen, in denen alte, schwer Kranke mit den Mitteln der Apparatemedizin behandelt werden, obwohl kein Therapieerfolg mehr zu erwarten ist. Nicht Linderung von Leid und Schmerz, sondern finanzieller Profit steht im Fokus des Interesses vieler Ärzte und Kliniken, die honoriert werden, wenn sie möglichst viele und aufwendige Eingriffe durchführen. Thöns? Appell lautet deshalb: Wir müssen in den Ausbau der Palliativmedizin investieren, anstatt das Leiden alter Menschen durch Übertherapie qualvoll zu verlängern.

Matthias Thöns, geboren 1967 in Witten, ist Anästhesist und seit 1998 als niedergelassener Palliativmediziner tätig. Er ist stellvertretender Sprecher der Landesvertretung NRW der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und war Sachverständiger im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags zur Sterbehilfe-Debatte. Sein Anliegen vertrat er u. a. bei Markus Lanz, im Spiegel und in der ZEIT.

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Leseprobe

Einleitung


Als junger Medizinstudent war ich begeistert von der Idee, Menschen das Leben zu retten, also war Notarzt mein Traumberuf. Für diesen Weg ist eine Ausbildung zum Anästhesisten von Vorteil, denn in kaum einem anderen Fachgebiet erlernt man das Handwerkszeug zur Lebensrettung so umfangreich. Während meiner ersten Stelle in der Anästhesie war ich einem sehr menschlichen Chefarzt unterstellt, er verstand sich als Anwalt des Patienten. So weigerte er sich beispielsweise, an riskanten Operationen mitzuwirken, wenn er keine Aussicht auf Besserung mehr sah. Er stärkte damit uns Berufsanfängern das Selbstbewusstsein so manchem Chirurgen gegenüber, der die Grenzen seines Könnens und die Gesetze der menschlichen Natur nicht so richtig einzuschätzen vermochte.

Die nächste Stelle im Rahmen meiner Ausbildung führte mich an eine »Klinik der Maximalversorgung«. Mein Chef dort hatte das junge Fachgebiet der Schmerztherapie in Deutschland etabliert und die Tumorschmerztherapie entscheidend geprägt. Liebevoll nannten wir ihn »godfather of pain therapy«. Allerdings wurde ich in dieser Klinik auch Zeuge unendlich aufwendiger Operationen an teils schwerstkranken alten Menschen. Die auf den Eingriff folgenden langwierigen Intensivbehandlungen erschienen mir nicht selten unangemessen. So oft bestand im Grunde keine Hoffnung mehr auf Heilung, und die endlos anmutende Intensivtherapie war von viel Leid geprägt: Nicht heilende, übel riechende Wunden, Platzbäuche, Verwirrtheitsdelirien, Fixierungen, leidverzerrte Gesichter, dazu die Verzweiflung der Angehörigen und letztlich doch der Tod.

Ein solches Verständnis von Medizin belastete mich zunehmend. Konnte ich als Arzt verantworten, dass Menschen einer riskanten Operation ausgesetzt wurden, um dann während der verbleibenden kurzen Lebenszeit an den Folgen zu leiden? Es schien mir also nur konsequent, dem fremdbestimmten Klinikbetrieb den Rücken zu kehren und selbst eine Praxis zu übernehmen, wozu ich mich vor 18 Jahren entschied. Endlich konnte ich meinen Beruf nach meiner Überzeugung ausüben. Kurz nach der Niederlassung wurde ich zu einem Notfall in das Hospiz in Bochum gerufen. Dem Patienten, der sich vor Schmerzen krümmte, konnte ich mit einer Infusion rasch helfen, doch der Besuch in dieser Einrichtung beschäftigte mich noch lange. Die Atmosphäre dort, die Herzlichkeit der Schwestern und der Blick auf den ganzen Menschen mit seinen Beschwerden und Wünschen beeindruckten mich nachhaltig. Bald schon war ich einer von vier Hospizärzten dort und lernte viel, vor allem von den Schwestern. So begann ich verstärkt, sterbende Menschen auch zu Hause zu begleiten, und wurde dabei zunehmend von Kollegen, Ehrenamtlichen und engagiertem Pflegepersonal unterstützt. Gemeinsam gründeten wir Palliativnetze in Bochum und Witten.[1] In meiner täglichen Arbeit wurde mir klar, wie individuell die letzte Lebensphase ist, wie unterschiedlich die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen sind. Der eine starb ruhig im Gebet unter zärtlichen Berührungen seiner Frau, der andere kämpfte mit aller Kraft gegen den Tod und wurde dabei vom lauten Schluchzen seiner Liebsten begleitet. Es galt zu akzeptieren, dass nicht ich als Arzt, sondern der Patient und sein Umfeld über diesen letzten Weg bestimmen.

Viele Kollegen sehen das leider anders, wie der Fall von Gerhard[a] zeigt, zu dem ich im Frühjahr 2008 gerufen wurde. Der einstige Klempner, fast 80 Jahre alt, liebte Angelteiche und endlose Wanderungen in der Natur. Irgendwann bemerkte eine seiner Töchter, dass er die Angel nicht mehr richtig halten konnte. Ein erfahrener Nervenarzt stellte die niederschmetternde Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose, kurz: ALS[b], sowie eine mittelgradig ausgeprägte Demenz[c]. Die Beweglichkeit des Patienten nahm ab, immer wieder kam es zu Atemwegsinfektionen mit akuten Erstickungsanfällen.

Meist lehnte Gerhard jede Zuwendung ab, spuckte die ihm verabreichten Medikamente so gut er konnte wieder aus und schlug um sich. Manchmal lag er auch nur hilflos-apathisch in seinem Bett. Er wurde inkontinent.[d] Bald konnte man ihn nicht mehr allein lassen. Er fing an zu schreien, wollte nicht mehr essen und trinken und wurde schwächer und schwächer. Gerhard hatte genug von seinem Dasein auf Erden. Der Neurologe empfahl dringend die Anlage einer PEG-Sonde[e], anderenfalls würde er verhungern. Die Ehefrau stimmte dem ärztlichen Rat zu, denn der Neurologe sagte ja, die Magensonde sei alternativlos.

Als die Sonde[f] angelegt war, versuchte Gerhard immer wieder, sich den Schlauch aus dem Bauch zu ziehen. Daraufhin wurden seine Arme am Bettgitter fixiert, wenig später waren sie wegen der unaufhaltsam fortschreitenden Erkrankung ohnehin kaum mehr beweglich. Mit abnehmender Muskelkraft wurde auch die Atmung schwächer. Eines Tages fand ihn die Ehefrau, nennen wir sie Gisela, blitzeblau[g] und nur noch ruckartig atmend in seinem Bett. Der Notarzt wurde alarmiert. Als das Rettungsteam wenig später eintraf, hatte Gerhards Herz bereits seit einigen Minuten aufgehört zu schlagen. Man kann sagen: Der Mann war klinisch tot. Das kam letztlich einer Gnade gleich.

Doch die Rettungsmannschaft begann mit der Wiederbelebung, der Notarzt legte einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre, Elektroschocks brachten das Herz wieder zum Schlagen. Rasch war eine Infusion gelegt, kreislaufstützende Medikamente wurden verabreicht.[h]

Also musste er weiterleben. Doch trotz umfangreicher Intensivtherapie in der Klinik gelang es nicht, Gerhard von der Beatmungsmaschine zu entwöhnen. Er wachte einfach nicht mehr auf. Zu lange hatte sein Hirn nach dem Herzstillstand keinen Sauerstoff mehr bekommen. Nach gut zwei Monaten Intensivabteilung ging es mit apparativer Beatmung und Notarztwagen wieder zurück nach Hause.[i]

Fortan saß ein Pflegeteam rund um die Uhr an Gerhards Bett. Das Wohnzimmer glich einer Intensiveinheit: Überall Infusionsständer, Beatmungsgeräte, Sauerstoffflaschen, piepsende Monitore, schlürfende Absauggeräte und die vibrierende Spezialmatratze.

So lag Gerhard über ein Jahr lang zu Hause, viele Male unterbrochen von Noteinweisungen ins Krankenhaus.[j] Diese waren immer wieder nötig, wenn es zu Erstickungsanfällen kam, weil der Beatmungsschlauch durch Schleim verstopft war. Solche äußerst leidvollen Zustände treten bei dauerbeatmeten Patienten nicht nur regelmäßig auf, sie gelten auch als deren häufigste Todesursache: Tod durch qualvolles Ersticken. Auch wurden in der Klinik immer wieder Lungen- oder Nierenbeckenentzündungen bekämpft.

Ab und an nahm Gerhards Gesicht Züge einer schmerzverzerrten Grimasse an, ansonsten konnte er praktisch keinen Muskel mehr bewegen.

Durch einen Bericht in der Zeitung wurde Gisela auf die Möglichkeiten einer palliativmedizinischen Versorgung zu Hause[k] aufmerksam. Also trafen wir uns und führten lange Gespräche. Über die noch verbleibenden Therapieziele waren wir uns rasch einig, und vor allem darüber, dass eine Fortführung der künstlichen Beatmung Gerhards Vorstellungen von einer menschenwürdigen Existenz grundlegend widerspräche. Und dennoch, letztendlich über die Einstellung der Beatmung, das Ziehen des Schlauches entscheiden, das wollte Gisela nicht. Ihre Angst war zu groß. Wie oft hatte man ihr im Krankenhaus gesagt: »So etwas darf kein Arzt, das ist Mord!« Immerhin konnten wir uns auf eine Therapiebegrenzung einigen. Künftig kein Krankenhaus mehr und keine Antibiotika bei einer lebensbedrohlichen, Erlösung verheißenden Infektion. Nicht ohne Grund wird die Lungenentzündung als »Freund des alten Mannes« bezeichnet – der Tod findet zumeist leidlos im Koma statt.

Wenige Tage nach der Übereinkunft, es war ein Samstagvormittag, wurde ich zu Gerhard gerufen. Das Beatmungsgerät gebe Druckalarm, auch mit dem Pulsmonitor stimme etwas nicht. Das Bild, das sich bei meinem Eintreffen bot, werde ich niemals vergessen. Gerhard war bereits am Vortag gestorben, die Leichenstarre war vollständig ausgeprägt. Totenflecken am Körper bis zur mittleren Flanke. Niemand hatte seinen Tod bemerkt. Irgendetwas bewegte sich doch noch. Das Beatmungsgerät kämpfte gegen die Leichenstarre an und signalisierte Alarm, weil der Druck in der Lunge zu hoch war. Niemand hatte den bis ultimo verzögerten Tod bemerkt.

Der Intensivpflegedienst konnte der Krankenkasse dann auch noch diesen Tag mit rund 800 Euro in Rechnung stellen. Sinnlose, aber gut bezahlte Übertherapie; Rückfragen der Krankenkasse: keine.

Ein Extremfall, gewiss. Aber vergleichbare Fälle ereignen sich Tag für Tag in Deutschland. Die Übertherapie, das Geschäft mit der systematischen Missachtung des Patientenwillens, mit dem bis ultimo hinausgezögerten Sterben floriert. Der prominente Palliativmediziner Prof. Gian Domenico Borasio schreibt: »Bis zur Hälfte aller Sterbenskranken erhalten Behandlungen wie zum Beispiel Chemotherapie, Bestrahlung, künstliche Ernährung oder Antibiotika, die ihnen nichts bringen.«[2] Es wird also, denke ich, Zeit, die systematischen Missstände detailliert, freimütig und ohne Angst vor der erwartbaren Kollegenschelte zu benennen und in all ihren oft grausigen Konsequenzen aufzuzeigen. Darum habe ich mich nach reiflicher Überlegung entschlossen, dieses Buch vorzulegen.

Aufgabe der Medizin ist es, menschliches Leiden...

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