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Reflexive Erziehungswissenschaft

Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu

AutorBarbara Friebertshäuser, Lothar Wigger, Markus Rieger-Ladich
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl331 Seiten
ISBN9783531902944
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Die deutschsprachige Erziehungswissenschaft verdankt den Arbeiten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zahlreiche Impulse und wichtige Anregungen. Diesen Resonanzen spürt dieser Sammelband nach, indem er nicht nur eine erste Bilanzierung der erziehungswissenschaftlichen Bourdieu-Rezeption vornimmt, sondern auch Perspektiven einer künftigen reflexiven Erziehungswissenschaft vorstellt. Der Rückblick wird zu diesem Zweck mit einer Bestandsaufnahme gegenwärtiger und einem Ausblick auf neue, von den Studien Bourdieus inspirierte Forschungsprojekte kombiniert. Zugleich zeichnen sich auf diese Weise die Konturen einer wissenschaftlichen Praxis ab, deren Charakteristika die Kritik des begrifflichen Instrumentariums, die Befragung der theoretischen Grundannahmen und das Bemühen um Aufklärung des akademischen Unbewussten sind.



Dr. Barbara Friebertshäuser ist Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M.
Dr. Markus Rieger-Ladich ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Bonn.
Dr. Lothar Wigger ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Dortmund.

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Leseprobe
Reflexive Erziehungswissenschaft: Stichworte zu einem Programm (S. 9)

Markus Rieger-Ladich/Barbara Friebertshäuser/Lothar Wigger

Der Terminus „Reflexive Erziehungswissenschaft ist innerhalb des pädagogischen Diskurses keineswegs neu. Auch wenn er – zu Beginn der 1990er Jahre von Dieter Lenzen eingeführt – meist mit der Anmerkung versehen wurde, dass es sich hierbei um eine vorläufige, versuchsweise Etikettierung einer neuen Form erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung handele, so prägte dieses Programm doch recht schnell ein durchaus erkennbares Profil aus.

Da die Beiträge, die in diesem Band versammelt sind, sich jedoch durchgängig einem anderen Begriff von Reflexivität verpflichtet wissen, sei an dieser Stelle die spezifische Differenz kurz markiert. Der Untertitel, welcher „Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu in Aussicht stellt, verweist bereits auf jenen Autor, der als Bezugsgröße der folgenden Texte gelten kann.

Bevor jedoch Bourdieus Konzept wissenschaftlicher Reflexivität vorgestellt, dessen Herausforderung für die deutschsprachige Erziehungswissenschaft skizziert und ein knapper Überblick über die einzelnen Beiträge gegeben wird, sei jenes Projekt umrissen, das in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts unter dem Titel „Reflexive Erziehungswissenschaft firmierte.

Als Lenzen in den frühen 1990er Jahren die Begriffe Reflexivität und Erziehungswissenschaft kombinierte, reagierte er damit auf einen eklatanten, fortschreitenden Legitimationsverlust der Wissenschaften: Nachdem die sog. „Meta- Erzählungen ihre Überzeugungskraft eingebüßt hatten (Lyotard), die „utopischen Energien gänzlich erschöpft schienen (Habermas) und die Wissenschaften selbst nun immer häufiger als Verursacher gesellschaftlicher Krisen identifiziert wurden (Beck), galt es, auf diese Situation nun auch innerhalb der Erziehungswissenschaft in angemessener Weise zu reagieren (vgl. Lenzen 1991).

Als Antwort auf die Grundlagenkrise insbesondere der Geistes- und Sozialwissenschaften entwarf Lenzen in einer Reihe von Vorträgen, Aufsätzen und einer Monographie die Konturen einer künftigen Erziehungswissenschaft, die er als „reflexiv kennzeichnete.

Charakteristisch für diese neue Form erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung, die ihm nicht zuletzt deshalb als reflexiv galt, weil er sie als Reflexionsinstanz des pädagogischen Wissensbestandes konzipierte, ist nun der Versuch, die angedeuteten Diagnosen nicht länger zu ignorie- ren, zu verharmlosen oder gar zu verdrängen, sondern diese als Stimulanzien für die Entwicklung neuer Wissenstypen zu begreifen.

Im Rückgriff auf Habermas’ einflussreiche Unterscheidung dreier Erkenntnisinteressen (vgl. Habermas 1968) identifizierte Lenzen drei Dimensionen einer reflexiven Erziehungswissenschaft, die es durch die Entwicklung entsprechender Wissenstypen künftig auszuarbeiten gelte.

Die erste Herausforderung bestehe demnach in der Entwicklung eines „pädagogischen Risikowissens, das es – hierin durchaus der Technikfolgenabschätzung verwandt – erlaube, jene Risiken prognostizieren, abschätzen, kontrollieren und möglichst auch vermeiden zu können, die von pädagogischem und erziehungswissenschaftlichem Wissen selbst ausgelöst werden.

„Mythenwissen zu entwickeln – dies der zweite Wissenstyp –, erweise sich als zwingend notwendig, um über jene narrativ verfassten erziehungswissenschaftlichen Diskurse aufzuklären, welche die pädagogische Semantik fortwährend mit Metaphern und Mythen speisen.

Schließlich gelte es, hier lässt sich Lenzen sowohl von Platon als auch von Ernst von Glasersfeld inspirieren, ein „poietisches Wissen zu entwickeln, um das pädagogische Leitbild einer Teilhabe zu entwerfen, welches den Menschen nicht länger als jenes Wesen entwirft, das durch Erziehung erst zum Menschen wird, sondern als eines, das auf Begleitung, Teilhabe und die Ermöglichung von Zugängen angewiesen ist (vgl. Lenzen 1996).
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis5
Reflexive Erziehungswissenschaft: Stichworte zu einem Programm9
Literatur17
Das Feld der Bildung in der Soziologie Pierre Bourdieus: Systematische Vorüberlegungen21
1 Transdisziplinäre Epistemologie21
2 Soziale Ungleichheit und symbolische Gewalt24
3 Eigenlogik und relative Autonomie des Bildungssektors27
4 Koalitionen zwischen Bildung, Ökonomie und Staat31
5 Erkennen und anerkennen – Habitus und Bildung33
6 Kritik der scholastischen Vernunft35
Literatur38
Der Störenfried. Warum Pädagogen Bourdieu nicht mögen41
1 Faszination und Hoffnung41
2 Wunsch und Wirklichkeit: Die Illusion der freien pädagogischen Vernunft44
3 Körper und Geist: Die Illusion der geistigen Bildung46
4 Lebenslauf oder Biographie: Die Illusion der Identität48
5 Soziale Reproduktion und soziale Relationen: Die Illusion der Chancengleichheit50
6 Die Bildungsinstitutionen: Die Illusion der pädagogischen Autonomie52
7 Kulturelle Willkür, Symbolische Gewalt: Die Illusion der Aufklärung54
8 Die doppelte Beleidigung – und eine Perspektive55
Literatur57
Dem familialen Habitus auf der Spur. Bildungsstrategien in Mehrgenerationenfamilien59
1 Der Beitrag der Familie an der Reproduktion der sozialen Ordnung62
2 Die Familie und die Funktionsweise des Feldes65
3 Bildungsstrategien als Strategien des Habitus68
4 Empirische Zugänglichkeit von Bildungsstrategien71
5 Ausblick77
Literatur78
Habitus at Work. Sinnbildungsprozesse beim Betrachten von Fotografien81
1 Der Habitus als „modus recipiendi“83
2 Methodologische Konsequenzen84
3 Anlage der Untersuchung86
4 Inhaltliche Interpretation der Sinnbildungsprozesse87
5 Strukturelle Interpretation93
6 Situative und transsituative Sinnbezüge95
Form des Lachens „Still Alive“ „flotte AH’s“ „Nadelstreifen“96
Literatur98
Habitus und Bildung. Einige Überlegungen zum Zusammenhang von Habitustransformationen und Bildungsprozessen101
1 Über die Verwendung des Bildungsbegriffes in der Habitustheorie104
2 Angepasstheit, Transformierbarkeit und Trägheit des Habitus105
3 Bildungstheoretische Interpretationen von lebensgeschichtlichen Erzählungen aus dem „ Elend der Welt“110
4 Soziologische Aufklärung und Bildung115
Literatur116
Lernen und seine Körper. Habitusformungen und - umformungen in Bildungspraktiken119
1 Lernen, Praktiken, Bewegungen121
2 Lernen, Bildung, Training125
3 Schulische Lern- und Bildungspraktiken128
4 Fazit und Ausblick: Schule als urbaner Raum133
Literatur138
Charakter, Habitus und Emotion oder die Möglichkeit von Erziehung? Zu einer Leerstelle im Werk Pierre Bourdieus143
1 Vorbemerkung: Zur prognostischen Schwäche einer bedeutenden Theorie143
2 Das Elend der Welt in Deutschland144
3 Perspektiven der Veränderung: Wahrgenommene Entfremdung147
4 Bourdieus Theorie der Gefühle als Ausdruck eigenen Ressentiments149
5 Das fremde und das eigene Ressentiment150
6 Soziologische Skizze der neuen „underclass“152
7 Noch einmal: Sesam öffne dich154
Literatur155
Pierre Bourdieus Theorie des wissenschaftlichen Feldes: Ein Reflexionsangebot an die Erziehungswissenschaft157
1 Inventur: Feld und Habitus, Position und Disposition159
2 Perspektiven künftiger Studien zum Feld der Erziehungswissenschaft162
3 Resümee172
Literatur173
Professionelles Handeln und die Autonomie des Feldes der Weiterbildung177
1 Die Brechungskraft des Feldes und sein Joker – das Subjekt177
2 Die Einheit des Feldes und seiner Theorie180
3 Der Verlust der Bedeutsamkeit der Disziplin184
4 Ein Feld von Praktiken188
Literatur190
Das Maß der Dinge. Qualitätsforschung im pädagogischen Feld193
1 ‚Pädagogische Qualität’ und die Qualität des Pädagogischen195
2 Theorie als Methodologie: Pierre Bourdieus Konzept des sozialen Feldes199
3 Die Ordnung des ‚Guten’: Qualität als feldspezifische Qualifizierungspraxis204
Literatur209
Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft – Inspirationen und Modifikationen durch Pierre Bourdieu.213
1 Die Relevanz der Konzepte Bourdieus für die Sozialisationsforschung innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung214
2 Soziale Herkunft und Geschlechterverhältnisse im Feld der Hochschule216
3 Empirische Studien in schulischen und außerschulischen Arbeitsfeldern219
4 Modifikationen der Konzepte Bourdieus – oder: Differenzen im Verständnis?225
Literatur227
Verstehen als methodische Herausforderung für eine reflexive empirische Forschung231
1 Aspekte der wissenschaftlichen Qualifizierung des Verstehens232
2 Das Verstehenskonzept einer „reflexiven empirischen Forschung“ nach Pierre Bourdieu236
3 Reflexive empirische Forschung in der Erziehungswissenschaft244
Literatur248
Reproduktion in der Krise: Fallstudien zur symbolischen Gewalt253
1 Die Rückkehr der gefährlichen Klassen und die Renaissance der sozialen Frage254
2 Der Abschied vom Arbeiterstand: Ende der sozialen Frage?256
3 Abitur für Alle – und danach?259
4 Von der Not zur Tugend: Das Modell des prekären, aber flexiblen Kulturproduzenten261
5 Not ohne Tugend: Die Flexibilisierung des „einfachen“ Arbeitnehmers263
Literatur267
Bildungsaußenseiter. Sozialdiagnosen in der „ Gesellschaft mit begrenzter Haftung“269
1 Die Untersuchung der „Gesellschaft mit begrenzter Haftung“271
2 Bildungsaußenseiter274
3 Bildungsoffensive statt Warteschleife – Schlussbemerkung284
Literatur285
Die Notwendigkeit milieubezogener pädagogischer Reflexivität. Zum Zusammenhang von Habitus, Selbstlernen und sozialer Selektivität289
1 Die neue Aktualität des Selbstlernens290
2 Ein empirisches Bild von der Ungleichheit der Lernenden293
3 Reflexionen und Perspektiven298
4 Vermittlung und Verstrickung303
Literatur305
Soziale Selektion in der Hochschule – Stufung, Modularisierung und Kreditierung auf dem Prüfstand309
1 Die Illusion der Chancengleichheit – zentrale Annahmen und Ergebnisse der Bildungssoziologie Bourdieus310
2 Ergebnisse aktueller Schul- und Hochschulforschung312
3 Mögliche Effekte der neuen Studienstruktur315
4 Erste empirische Ergebnisse aus den BA/MA-Studiengängen an der Ruhr- Universität Bochum317
5 Schlussbemerkung321
Literatur321
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren325

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