Einleitung
Ein zentraler Lebensbereich des Menschen ist, neben Familie und Freundschaften, die Arbeit. Sie erfüllt wichtige Funktionen: Sie strukturiert unseren Alltag, schenkt uns Anerkennung, schafft sozialen Status und trägt durch die Entlohnung zum Autonomieerleben bei. Sie fördert den sozialen Austausch und erzeugt Aktivität im Leben. Seine Arbeit zu verlieren oder nicht mehr arbeitsfähig zu sein ist ein schwerwiegender Lebenseinschnitt. Neben äußeren, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren, wie betrieblicher Restrukturierung und Neuausrichtung sowie politisch unsichere Verhältnisse, können psychische und physische Erkrankungen zum Verlust der Arbeit führen. Und hier ist gerade im Bereich der psychischen Erkrankungen eine alarmierende Entwicklung zu beobachten: Die Fehlzeiten am Arbeitsplatz sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Bis zu knapp einem Drittel aller krankheitsbedingten Fehltage gehen in Deutschland mittlerweile auf psychische Erkrankungen zurück.
Das vorliegende Buch widmet sich einem speziellen Thema im Bereich psychischer Erkrankungen: dem der Traumafolgestörungen. Die intensive Forschung der letzten Jahrzehnte hat die Bedeutung von Traumata und deren Folgeerscheinungen in das allgemeine Bewusstsein gerückt. Neben den klassischen Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung kann sich die Nachwirkung von Trauma in Depressionen, Angsterkrankungen, Zwangserkrankungen oder Suchtmittelmissbrauch wie auch in einer verminderten Stressresistenz, erhöhtem Burnoutrisiko und mangelnder Beziehungsfähigkeit zeigen. Man weiß heute um die weitreichenden Folgen frühkindlicher Traumatisierung, die eine erhöhte Gefahr gesundheitlicher Beeinträchtigung bergen. Oft gelingt es betroffenen Menschen zwar, diesen Einfluss bis zu einem gewissen Grad zu kompensieren, doch können eine Lebenskrise, eine berufliche Veränderung, ein Todesfall oder eine schwere Erkrankung die Bewältigungsmöglichkeiten des Einzelnen übersteigen.
Vermutlich haben Sie zu diesem Buch gegriffen, weil Sie sich als verantwortungsbewusster Coach über Trauma, traumatischen Stress und dessen Folgen im Alltags- und Berufsleben informieren möchten. Sie sind bemüht, Ihre Klienten zu verstehen, und wollen sie besser unterstützen und begleiten können. Verwandte Themen wie Stressmangement, Burnoutprophylaxe oder Resilienz sind Ihnen vertraut und Sie haben bereits zahlreiche Klienten im Umgang mit diesen Themenfeldern beraten und begleitet. Die Frage, warum manche Menschen stressresistenter sind als andere, warum einige oft mehr als einmal Burnout erleiden, andere jedoch scheinbar selbst stärksten Belastungen trotzen können, drängt sich an dieser Stelle förmlich auf. Sicher sind Sie bei Ihren zahlreichen Gesprächen mit Klienten auch auf für die Betroffenen schwer zu bewältigende Ereignisse gestoßen, beispielsweise einen Unfall, körperliche Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch in der Kindheit, eine lebensbedrohliche Erkrankung oder andere traumatische Erlebnisse, die einen nachhaltigen Einfluss auf das psychische Befinden und die Stressverarbeitung eines Menschen ausüben. Wie geht man als Coach mit solchen Informationen um? Wie gehen Sie damit um?
Setzen wir uns mit Trauma auseinander, stellt sich die Frage, welche Art Auftrag ein Coach in Abgrenzung zur Psychotherapie annehmen und welche Ziele er mit seinen Methoden verfolgen kann. Da Sie als Coach eine vertrauensvolle Beziehung zu Ihrem Klienten aufbauen, werden Sie, vielleicht noch eher als ein Psychotherapeut (den mancher Klient niemals aufsuchen würde), sehr persönliche Informationen erhalten. Manches davon können Sie leicht in Verbindung mit den Problemen des Klienten und damit dem aktuellen Coachingauftrag bringen. Auf potenziell traumatische Ereignisse einzugehen und eine Traumaverarbeitung anzustreben sprengt den Rahmen Ihres Auftrags, denn diese erfordert neben einem ausgedehnten Zeitrahmen eine fundierte Ausbildung und Erfahrung. In diesem Buch gehe ich deshalb der Frage nach, welche Rolle ein professioneller Coach in solchen Fällen einnehmen kann, um dem Anliegen des Klienten gerecht zu werden.
Betrachten wir, was Coaching ausmacht, kommen Ihnen sicher Begriffe wie „Auftrags- und Zielklärung“, „zeitlich begrenzter Dialog“, „Erhalt bzw. Steigerung der Leistungsfähigkeit“ und „Unterstützung zur eigenständigen Problemlösung“ in den Sinn. Die Zielgruppe sind „gesunde“ Menschen, die eine definierte Verbesserung im Umgang mit ihren spezifischen Problemen anstreben. Im Gegensatz zur Psychotherapie geht es beim Coaching nicht um die „Heilung“ erkrankter Menschen.
Der Beruf des Coachs ist kein Heilberuf, die Behandlung psychischer Störungen somit ausdrücklich ausgeschlossen. Auch bei Burnout im fortgeschrittenen Stadium, wenn psychische und psychosomatische Beschwerden auftreten, ist die Behandlung ausgebildeten Fachkräften zu überlassen (vgl. Möller & Kotte 2013, S. 224). Dasselbe gilt für die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Eine qualifizierte Diagnose einer PTBS sowie sogenannter komorbider Störungen (Begleiterkrankungen) wie Depression, Angst- oder Zwangserkrankungen kann nur von einer spezialisierten Fachkraft, also Ärzten, Psychiatern oder psychologischen Psychotherapeuten mit spezieller Ausbildung vorgenommen werden.
Bleibt die Frage: Welche Funktion kann und soll ein Coach im Bereich psychischer Erkrankungen und Traumafolgestörungen erfüllen?
Eine wichtige Aufgabe liegt im Erkennen von Signalen bzw. Symptomen, deren richtige Deutung ein frustrierendes, weil erfolgloses bzw. nur kurzfristig wirksames Coaching verhindern kann. Diese Erfahrung kann bei einem vulnerablen Klienten zu Ohnmachts- und Versagensgefühlen und, im schlimmsten Fall, zu einer Verschlechterung seiner psychischen Stabilität führen. Doch Symptome einer einfachen bzw. komplexen Traumafolgestörung erkennen und verstehen kann aus meiner Sicht nur, wer ein fundiertes Wissen über biologische, neurophysiologische, bindungsspezifische, entwicklungstheoretische und therapeutische Zusammenhänge besitzt. Ausgestattet mit diesen Erkenntnissen kann ein Coach psychoedukativ tätig werden, seinem Klienten die ihm oft unerklärlichen Symptome und Reaktionen näherbringen und ihn zunächst von Scham- und Schuldgefühlen entlasten. Die professionelle und fundierte Psychoedukation hat zudem die Funktion, den Klienten von der Notwendigkeit einer Behandlung zu überzeugen, die ihm hilft, seine traumatische Vergangenheit zu verarbeiten und zu integrieren.
Der Aufbau eines Netzwerks traumabehandelnder Fachkräfte versetzt den Coach in die Lage, professionell und vertrauenswürdig zu handeln, indem er seinem Klienten Hinweise gibt, an wen er sich wenden kann. Der Professionalität dient es auch, wenn ein Coach über die gängigen Fachbegriffe verfügt, die ich an den jeweiligen Stellen erklärt habe. In Zusammenarbeit mit der jeweiligen Fachkraft, die Ausschlussdiagnosen stellen und psychische Störungen behandeln kann, kommt dem Coach die Begleitung aktueller, beruflicher Themen zu. Wo z. B. eine zeitweise Arbeitsunfähigkeit durch zu große Belastungen vorliegt, fällt dem Coach eine wichtige Rolle bei der Wiedereingliederung des Betroffenen zu, da er der Spezialist für berufliche Fragestellungen ist.
Eine weitere, wichtige Rolle kommt dem Coach dort zu, wo im Coaching Themen angeschnitten wurden, die an eine traumatische Situation erinnern und akute Symptome wie ungewollt eindringende (intrusive) Erinnerungen oder dissoziative Zustände auslösen, von denen der Klient entweder von Gefühlen überwältigt wird oder auf „Autopilot“ schaltet. Er ist dann zwar körperlich anwesend, hat sich jedoch von seinen Gefühlen abgespalten. Hier verfügt ein traumainformierter Coach über diverse Stabilisierungstechniken und verhilft dem Klienten neben der Beruhigung in der aktuellen Situation zu Skills, die er im Alltag anwenden kann.
Traumainformiertes Coaching befähigt Sie zudem, Ihre Klienten in akuten Belastungssituationen und bei drohendem Burnout professionell abzuholen, da Sie aufgrund Ihrer neurophysiologischen Kenntnisse um die Bedeutung zwischenmenschlicher Bindung für die kindliche Entwicklung wissen. Ihnen ist dadurch bewusst, auch, was der Erwachsene im Hier und Jetzt braucht, um Vertrauen zu Ihnen aufbauen zu können. Dieses Wissen hilft Ihnen, die Beziehung zum Ihrem Klienten so zu gestalten, dass er sich bei Ihnen sicher fühlt und so eine fruchtbare Arbeitsbeziehung entstehen kann. Im Bereich der Psychoedukation können Sie Ihren Klienten entlasten, weil Sie in der Lage sind, ihm zu erklären, warum auch kleinere Kränkungen und Zurückweisungen so belastend sind und zu Stresssymptomen führen können.
Zum Aufbau dieses Buches
Im traumainformierten Coaching ist die Frage nach der Abgrenzung zwischen Coaching und Psychotherapie von zentraler Bedeutung, sind doch in der Kombination aus „Trauma“ und „Coaching“ beide Disziplinen angesprochen. Auch wenn es hierzu keine abschließenden Antworten geben wird, empfinde ich es als besonders wichtig, so genau wie möglich zu klären, worin sich das Arbeitsfeld des Coachs von dem eines Psychotherapeuten unterscheidet. Kapitel 1 befasst sich daher mit der Erkundung, was man unter Coaching versteht und welche Ziele mit welchen Methoden angestrebt werden. Im zweiten Kapitel gehe ich der Frage nach, wie Psychotherapie definiert wird; Kapitel 3 widmet sich der Psychotraumatologie. Hier beschäftigen wir uns umfassend mit einfachen und komplexen Traumafolgestörungen, den neurophysiologischen Zusammenhängen, den Komorbiditäten und setzen uns mit der Rolle des Coachs auseinander. Im vierten Kapitel stelle ich Ihnen erste Maßnahmen für Akutintervention vor.
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