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E-Book

Wenn Kinder größer werden

Familientherapie mit älteren Kindern und Jugendlichen

AutorGrossmann Konrad Peter
VerlagCarl-Auer Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl239 Seiten
ISBN9783849781521
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis28,99 EUR
In einer Familientherapie geht es meistens um mehrere Anliegen gleichzeitig: ein gegebenes Problem beim Kind bzw. Jugendlichen, die damit verbundene Hilflosigkeit der Eltern und die Interaktion der Familienmitglieder untereinander bzw. mit der Umwelt. Konrad Peter Grossmann entwickelt drei verschiedene Formen des Fallverständnisses. Sie fokussieren auf die Entwicklung des Kindes, seinen sozialen Lebenskontext bzw. auf vergangene oder aktuell belastende Erfahrungen. Der Praxisteil des Buches folgt dem Ablauf eines Therapieprozesses und gibt Anregungen für die entscheidenden Fragen: Was kann man als Therapeut für eine gute Beziehung zu allen Familienmitgliedern beitragen? Wie lassen sich Klagen in sinnvolle Themen für die Therapie umformulieren? Wie erkundet und stärkt man die Motivation von Kindern und Jugendlichen für Veränderungen? Welche Interventionen sind im Hinblick auf die konkreten Anliegen besonders hilfreich? Wie kann man als Therapeut kreativ auf Rückfälle und Stagnation reagieren? Das Buch macht deutlich, dass der Schlüssel für Gestaltungsmöglichkeiten in allen Phasen in der therapeutischen Gesprächsführung liegt. In den Text eingebettet ist deshalb neben Fallvignetten auch das Transkript einer familientherapeutischen Sitzung.

Konrad Peter Grossmann, Dr. phil., Studium der Psychologie; 2005 Habilitation an der Universität Klagenfurt; psychotherapeutische Tätigkeit in freier Praxis und im Rahmen der Ambulanten Systemischen Therapie (AST), Wien (Einzel-, Paar- und Familientherapie); Lehrtätigkeit an der Lehranstalt für systemische Familientherapie, an der Universität Klagenfurt und der Fachhochschule für Soziale Arbeit, Linz. Veröffentlichungen u. a.: Langsame Paartherapie (2012), Psychotherapie mit Männern (2016).

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Leseprobe

1Einleitung


Anlass der Therapie mit dem zehnjährigen Niko1 und seiner alleinerziehenden Mutter war sein sozial auffälliges Verhalten in der Schule. Zu Beginn des fünften Therapiegesprächs erzählte Niko von seiner Enttäuschung in Zusammenhang mit einem nicht zustande gekommenen Ausflug mit seinem Vater. Nikos Eltern lebten zu diesem Zeitpunkt seit mehreren Monaten voneinander getrennt. Sein Vater wahrte Abstand zu ihm und seiner zwei Jahre alten Schwester.

Nikos Traurigkeit über die Absage des Ausflugs war auch der Grund gewesen, warum es in den Tagen danach »in der Schule nicht so geklappt« hatte. Ich verstand seine Enttäuschung. Die Frage, auf welche Weise Niko seine Enttäuschung hinsichtlich seines Wunsches nach intensiverem und verlässlicherem Kontakt zu seinem Vater besser bewältigen konnte, wurde zum Thema der Therapiestunde. Niko erzählte, was diese und frühere Enttäuschungen im Zusammenhang mit seinem Vater in ihm auslösten. Ich fasste seine Erzählung in einem Bild zusammen: Seine Situation glich der eines Ritters, der gerne einen Fluss überquert hätte, um zu dem Schatz auf der anderen Seite zu gelangen. Aber der Fluss war zu breit, sodass all seine Versuche, das andere Ufer zu erreichen, scheiterten. Niko war einverstanden, dass wir dieses Bild mit Playmobil-Figuren nachstellten – er zeichnete einen »wilden Fluss« auf einen großen Bogen Papier, er positionierte eine kleine Schatztruhe auf der rechten Seite des durch den Fluss geteilten Bildes und eine Ritterfigur samt Pferd auf dessen linker Seite. Was konnte der Ritter machen? War es sinnvoll, den Fluss weiter entlangzureiten in der Hoffnung, auf eine Brücke zu stoßen, wo er ihn überqueren konnte? (Nein – der Fluss war überall so wild, dass er jede Brücke zum Einsturz brachte.) Sollte er ein Boot suchen oder bauen? (Nein – der Fluss war so stürmisch, dass jedes Boot versank.) Gab es einen Vogel mit magischen Kräften und mächtigen Schwingen, der ihn über den Fluss tragen konnte? (Nein – die Wellen des Flusses waren so hoch, dass sie jeden Vogel erfassten und zum Absturz brachten. Nikos durchgängiges Verneinen spiegelte seine Erfahrung wider, dass all sein Bemühen um mehr Kontakt mit seinem Vater ergebnislos blieb.) Schließlich entschied sich Niko dafür, auf »seinem« Ufer des Flusses ein Haus aus Bauklötzen zu bauen, das nach und nach um einen Garten und eine Landwirtschaft erweitert wurde. Was bewog ihn dazu? Es war »irgendwie besser« (statt auf etwas zumindest im Moment Unerreichbares zu hoffen, wendete er sich für ihn Erreichbarem zu), und zudem war »vom Ufer aus der Fluss nur halb so wild«. Am Schluss der Therapiesitzung sprachen wir darüber, welche Auswirkungen es mit sich bringen würde, wenn Niko nicht mehr auf einen engeren Kontakt mit seinem Vater hoffen würde. (Die Figur des Ritters hatte Niko im Verlauf seiner Darstellung vom Fluss/vom Schatz weg hin zu seinem Haus und Garten gedreht.) Er würde dann – so Niko – nicht mehr so traurig sein; und er würde sich dann auch besser mit anderen vertragen.

Nikos kluge Beschreibung – »Vom Ufer aus ist der Fluss nur halb so wild« – beeindruckte mich tief. Eine Position vom Ufer aus scheint mit jene zu sein, die Familien und ihre Therapeuten2 nutzen, um Veränderung anzuregen. Eine riverside position (White a. Morgan 2006; Denborough 2008) ist ein Erzählstandort, der zugleich nah genug wie nicht zu nah am »Fluss des Erzählens« problembetroffener Familien ist. Und letztlich ist dieser Erzählstandort auch einer, von dem aus sich über Familientherapie schreiben lässt.

Fragestellungen


Nikos Geschichte gehört zu jenem Geschichten-Schatz, der meine praktische Erfahrung als Familientherapeut ausmacht. Dieser Schatz entstand im Lauf der Jahre in unterschiedlichen beruflichen Kontexten: im Rahmen der Tätigkeit in einem Kinderschutzzentrum, in der Arbeit mit Familien im Rahmen einer Familienberatungsstelle, deren Klientel zu einem Großteil von Jugendämtern zugewiesen wurde, in der Arbeit mit Familien im Kontext der privaten Praxis und im Rahmen einer Therapieambulanz, die mit jener therapeutischen Ausbildungseinrichtung verbunden ist, in der ich Familientherapie lehre.

Obwohl das Arbeiten mit Familie ein wichtiger Bestandteil meines beruflichen Lebens war und ist, habe ich über damit verbundene Fragestellungen weniger geschrieben als über anderes. Ein Grund dafür waren die Fülle und Komplexität der mit Familientherapie verbundenen Fragestellungen: Was sind zentrale Anliegen/Themen von Familienmitgliedern im Rahmen von Familientherapien? Wie kommen kindliche/jugendliche Leidenszustände zustande und wodurch werden sie aufrechterhalten? Welches Fallverständnis wird ihnen gerecht? Gibt es mehr als ein passendes Fallverständnis? Welche Art der Beziehungsgestaltung ist in Familientherapien hilfreich? Wie lässt sich im Rahmen familientherapeutischen Erzählens und Handelns positive Reziprozität und funktionale Interaktion von Familienmitgliedern anregen? Für welche Anliegen/Themen eignen sich welches Setting und welche Form der Gesprächsführung? Was ist in der Anfangsphase einer Familientherapie wichtig? Wie unterscheiden sich die Motivationslagen von Kindern/Jugendlichen und Eltern? Wie lassen sich unterschiedliche Problembeschreibungen von Familienmitgliedern konsensualisieren? Wie können sich Familien auf Therapieziele einigen? Was ist eine für Folgegespräche hilfreiche Choreografie? Wie realisiert sich Veränderung in Familientherapien? Wie müssen Interventionen eingebettet sein? Welche Interventionen eignen sich für Kinder, welche für Jugendliche, welche für Eltern? Welches Fallverständnis korrespondiert mit welchem therapeutischen Vorgehen? Wie lässt sich Stagnation und Rückfällen begegnen? Was ist in der Abschlussphase einer Familientherapie bedeutsam?

Ein zweiter Grund dafür bestand in der Suche nach einem Modell, das unterschiedliche Weisen familientherapeutischen Denkens und Handelns zusammenfügen konnte. Systemische Familientherapie ist ein breiter, viele Strömungen umfassender Fluss, die zum Teil nur lose miteinander verbunden sind: Entwicklungsorientierte Familientherapie, strukturelle Familientherapie, strategische Therapie, lösungsfokussierte Therapie, narrative Therapie, hypnosystemische Therapie – sie alle und andere systemische Therapieansätze sind Teil meiner Geschichte; sie alle bilden relevante Aspekte intra- wie interpersoneller Dynamik rund um kindliche/jugendliche Problemstellungen ab; sie alle repräsentieren ein jeweiliges »System von Geglaubtem« (Wittgenstein 1992, S. 150), sie alle haben sich in der praktischen Umsetzung bewährt (Shadish et al. 1997, S. 11).

Der dritte Grund war ein erlebtes Unbehagen mit familientherapeutischer Modellbildung: Wenngleich Familientherapie kindliche/jugendliche Leidenszustände bereits früh als Lösungsversuche interpretierte, lag ihr doch über lange Zeit hinweg ein Denken in Form starker Kausalität zugrunde, das Problemstellungen von Kindern/Jugendlichen vor allem als Folge elterlicher oder familiärer Konfliktdynamiken interpretierte und damit all jene Faktoren, die jenseits dieser Zusammenhänge an ihnen mitweben, unberücksichtigt ließ. Leben und Großwerden bietet sowohl für Kinder/Jugendliche als auch für Eltern schwierige Herausforderungen. Es birgt Unsicherheiten, Erschütterungen und Belastungen. Das Nachdenken über die Kinder bzw. Jugendlichen und ihre Familien, mit denen ich arbeite, führte mich zu einer Frage, die ich mir bislang nicht gestellt hatte: Wie kam es, dass sich ihre Problemstellungen nicht stärker ausprägten, als es der Fall war? Wie kam es, dass ihre Eltern in den meisten Fällen trotz alldem, was sie zu tragen und ertragen hatten, ihnen jene Zuneigung, jenen Halt, jene Zuversicht vermittelten, die dazu beitrugen, dass sie Lösungen für ihre Problemstellungen fanden? So wie Kinder/Jugendliche ihr Bestmögliches versuchen, tun dies in aller Regel auch ihre Eltern (Steiner u. Berg 2016, S. 41). Diese Gedanken regten mich dazu an, sowohl problembetroffene Kinder bzw. Jugendliche als auch ihre Eltern zugleich als »Problemopfer« wie als »Lösungstäter« (Retzer 2006) zu sehen – es sind die Umstände ihres Lebens in Verbindung mit ihren jeweiligen Verwundbarkeiten, die ihre Leidenszustände hervorrufen; und es sind ihr Mut, ihre Entschlossenheit, ihre Fähigkeiten, ihre Vorstellungen von einem guten Leben und ihre Zuneigung zueinander, die Lösungen ermöglichen.

Bestimmungsversuche


»Die eine systemische Therapie« – so Deissler (2000, S. 45) – »gibt es nicht.« Gleiches gilt für Familientherapie. Familientherapie ist ein Überbegriff für höchst unterschiedliche Erzählsituationen: für ambulante, stationäre oder aufsuchende Familientherapie; für Familientherapie, die Leidenszustände von Kindern und Jugendlichen fokussiert, und Familientherapie, die Leidenszustände von Erwachsenen oder von alten Menschen...

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