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Das Angst-Buch für Pflege- und Gesundheitsberufe

Praxishandbuch für die Pflege- und Gesundheitsarbeit

VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl360 Seiten
ISBN9783456754147
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Angst- und Panikstörungen nehmen weltweit stark zu: Neben den Depressionen gelten Angst-Erkrankungen als ein Phänomen der heutigen Zeit. In Deutschland sind 10% der Bevölkerung betroffen. Ängste begleiten zudem eine Fülle anderer psychiatrischer Erkrankungen und Pflegephänomene. Patienten im Krankenhaus fühlen sich mit ihren Sorgen und Ängsten allein gelassen. Pflegende sind als die größte Berufsgruppe des Gesundheitswesens nicht nur Schlüsselfiguren im professionellen Umgang mit diesen Problemen. – In Zeiten der Ökonomisierung und wachsender Belastungen werden gerade sie einer Fülle von Stressoren bzw. potenziellen Angstauslösern ausgesetzt. Dieser Umstand wird kaum kommuniziert, da Ängste von Pflegenden und weiteren Berufsgruppen im Gesundheitswesen als Tabu gelten.

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Leseprobe

[20][21]1 Gesellschaft in Angst – Angstgesellschaften

1.1 Panorama gegenwärtiger Lebensängste

Gerhard Bliersbach

1.1.1 Einleitung

Um die Dimensionen heutiger Belastungen für den modernen Menschen aufzuzeigen, bietet es sich an, bestimmte Lebenskontexte zu betrachten. In der Addition entsteht das Panorama heutiger Lebensängste. Pflegende bzw. Menschen in Gesundheitsberufen werden in zweifacher Hinsicht gefordert: Sie haben sich den unmittelbaren Angstkontexten im Krankenhaus zu stellen und sind zugleich – gewissermaßen als Privatpersonen – eingebunden in den Lebenskampf außerhalb ihrer Arbeitsstätte.

Den Impuls für den Titel dieses Beitrags gab ein Leserbrief in der Süddeutschen Zeitung Nr. 164 vom 18.07.2013, Seite 15.

1.1.2 Der Alltag Tag für Tag

«Alles klar?» – «Alles klar.» Das ist der kommunikative Austausch einer Kurzbegegnung, der in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts bei uns aufkam (Bliersbach, 1997: 46–48). «Alles klar?» ersetzte die andere, alte Formel: «Wie geht’s?» Darauf konnte man vielfältig antworten: «Es geht», «Gut», «Naja» oder «Prima». Auf «Alles klar» nicht – es sei denn, man nimmt die Anstrengung auf sich und relativiert das einschüchternde Alles mit einer gewundenen Einschränkung: «Naja, es geht so, aber mein Rücken, mein Job, meine Kinder machen mir Sorgen.» «Alles klar?» erwartet eine Antwort: die uneingeschränkte, zweifellose Zustimmung. Die Frage dient der Selbstvergewisserung – sie gehört zum Ritual und zu unseren Techniken der Selbstberuhigung; ein Dialog ist unerwünscht, Nachfragen sind nicht gestattet. So hält man sich den, dem man begegnet, vom Leib und schützt sich. Wovor? Vor der lästigen, schwierigen und schmerzvollen Erörterung dessen, was eben nicht klar werden soll, nämlich unsere Sorgen, Nöte, Befürchtungen, Ängste um – pathetisch gesagt – unser Leben: unsere Hoffnungen, Sehnsüchte, Fantasien und Wünsche. Das machen wir lieber allein mit uns aus, tragen es lieber allein mit uns herum – sagt dieser Kurzdialog, der mit den schlimmsten Befürchtungen spielt und den anderen auffordert, sie zu beruhigen. Würden wir sie aussprechen, müssten wir lange sprechen; die Liste unserer Befürchtungen ist lang, kompliziert und in manchen Passagen unverständlich. Das Problem ist, dass wir sie als Gefühle mit uns herumtragen, mit denen wir auf unklare Weise eingestimmt sind auf den Prozess der Bewältigung und Bearbeitung unserer Lebensaufgaben und auf den Prozess der Realisierung unseres Lebensentwurfs. Die Gefühle, könnte man sagen, geben uns gewissermaßen unklare, sprachlose, empfundene Auskunft über den Stand dieses komplexen Projekts, das wir Leben nennen.

Leider, das ist unsere tägliche Erfahrung, haben wir unser Leben nicht so in der Hand, wie wir es uns wünschen (oder fantasieren). Christopher Bollas, der nordamerikanische Psychoanalytiker, hat einmal gesagt, dass wir unsere Tage ähnlich wie unsere Träume gestalten (Bollas, 2000). Damit meinte er nicht, dass wir gewissermaßen schläfrig durch unser Leben gehen, sondern, dass wir uns – bewusst und nicht bewusst – in vielen Kontexten bewegen, deren Übergänge und Wahlen träumerisch (wie automatisch) initiiert werden. Ein Beispiel: Auf der Fahrt zur Arbeit im eigenen Wagen treffe ich in Sekundenbruchteilen die Wahl, ob ich das Radio, den CD-Player oder den iPod einschalte, [22]telefoniere oder ohne kommunikative Begleitung nur im inneren Dialog mit mir beschäftigt bleibe. Wie immer ich mich entscheide: Ich reguliere meine Verfassung und stelle oder stimme mich auf die Fahrt und auf die Arbeit ein. «Jeder Tag», so Bollas (2000: 44), «ist die potenzielle Artikulation meines Idioms.» Das Idiom ist ein sprachwissenschaftlicher Begriff; für den früheren Anglisten Bollas lag es nahe, das Idiom als den Stil und den Wunsch des Selbst, sich auszudrücken (seinem Lebensentwurf zu folgen), psychoanalytisch auszulegen: Wir suchen, sagt Bollas, in unserem Leben Tag für Tag die Gelegenheiten für unsere Selbstentfaltung und Selbsterweiterung.

Ein Tag, das wissen wir, ist eine dichte, komplizierte Textur seelischer Bewegungen, Erwartungen, Erinnerungen, Fantasien, Sehnsüchte und Erfahrungen. Es beginnt an den Arbeitstagen etwa in dieser Reihenfolge: mit dem Aufstehen, der Toilette, dem Anziehen, dem Frühstücken (falls man etwas aufnehmen kann) und der Fahrt zur Arbeit. Wir sind wach – und dennoch bewegen wir uns wie mechanisch. Die Arbeit ist eine eigene, andere Realität mit ihren Aufgaben, Kontakten und ihren Momenten des Versinkens in den Routinen unseres Handelns. Der Tag endet mit dem selbstverständlichen, vertrauten, häufig gedankenvollen und gedankenverlorenen Management des Feierabends und des Einschlafens. Wir sind wach und müde, anwesend und abwesend: mit der Realität unserer Umwelt beschäftigt und absorbiert von den Bewegungen, Gedanken und Erinnerungen des Tages.

Ein Tag, das wissen wir auch, hat seinen eigenen Rhythmus. Die physikalische Zeit – die Zeit, die wir messen können und an der wir uns orientieren – entspricht nicht der Zeit, die wir erleben. Das Frühstück mit der Zeitungslektüre vergeht im Flug, die Fahrt zur Arbeit ist zäh, die erste Konferenz hört einfach nicht auf, aber die Diskussion mit den Kolleginnen und Kollegen ist zu kurz, die Heimfahrt schrumpft seltsamerweise zusammen und der Abend ist, kaum hat man die Haustür geöffnet, schon vorbei. Wo ist der Tag geblieben? Wo und wie habe ich ihn und mich erfahren? Die Antwort ist kompliziert. Der eine Tag lässt einen aufleben, er gelingt; der andere nicht, er misslingt. Die Gründe sind vielfältig. Es beginnt mit der Stimmung, in der wir aufwachen; sie ist, vermute ich, abhängig von der Qualität unserer Träume, die die Qualität unseres Schlafs mitbestimmen. Sigmund Freud vertrat das Konzept, der Traum wäre der Hüter des Schlafes (Freud, 1966). Es trifft sicherlich noch zu. Der Traum, ist meine Erfahrung, belebt auch unsere schlimmsten Befürchtungen; ob sie geträumt werden, hängt von der Stabilität oder Fragilität unserer Verfassung ab. Im Aufwachen antizipieren wir den Tag mit seinen Aufgaben; die unklare Frage, die einen als ein Gefühl der Befürchtung oder Angst bewegt, lautet in Klartext übersetzt: Wie viel steht heute für mich auf dem Spiel? Bollas’ Wort von der potenziellen Artikulation meines Idioms besagt ja auch, dass wir prüfen, ob und inwieweit wir – salopp gesagt – unseren Punkt oder gar unsere Punkte machen konnten. Jeder Tag ist gewissermaßen ein Test. Ob wir wollen oder nicht, wir bewegen uns täglich auf den vielen Prüfständen unserer Lebensentfaltung.

Welche Aufgaben können also morgens im Prozess des Aufwachens bewusst werden? Hier eine alltägliche Liste:

1. Der Stecker des Wäschetrockners ist bräunlich verfärbt – etwas stimmt nicht. Der Elektriker ist bestellt, er hat zugesagt – ob er kommen wird, ist ungewiss; er ist nicht verlässlich. Zugleich ist dieses elektrische Problem auch ein Problem in der Beziehung zur eigenen Frau, denn sie wartet, ob es ihrem Mann gelingt, den Handwerker ins Haus zu bewegen, um endlich diese beunruhigende Verfärbung zu beseitigen, und der Trockner wird dringend gebraucht.

2. Seit 2 Tagen zieht der Wagen nicht richtig; die Kontrollleuchte signalisiert einen Schaden an der Benzinzufuhr. Die Reparatur ist dringend, er wird daher einen beruflichen Termin verschieben und seinen Kollegen bitten müssen, ihm auszuhelfen. Das aber wird schwierig werden, weil sie im Augenblick eine spannungsvolle Beziehung haben.

3. Die Tochter muss in ihre Universitätsstadt gefahren werden. Er hat sich dazu bereit erklärt, ohne absehen zu können, dass es für ihn eng werden könnte.

[23] 4. Die Einkommenssteuererklärung, die er jedes Jahr vorbereitet, ist überfällig. Er wird das nächste Wochenende dafür reservieren müssen.

5. Dem Rasenmäher geht der Sprit aus. Er wird sich endlich aufmachen müssen, die umständliche Prozedur zu erledigen und die kleinen Tanks zu füllen.

6. Der Grünschnitt, deponiert in der Garage, wartet auf seinen Transport; die Behälter werden gebraucht.

7. Ein Dankesschreiben für eine Einladung muss schleunigst geschrieben werden.

8. Die Online-Banküberweisungen warten.

9. Das Telefonat mit seiner amerikanischen Cousine wartet. Er kann sie nur abends erreichen und muss sich endlich für einen Abend entscheiden.

10. Im Büro muss heute ein Gutachten geschrieben werden.

11. Dort hat er auch ein schwieriges Gespräch mit seinem Kollegen vor sich.

Die Lektüre der Liste dauert länger als ihre gedankliche Bewusstwerdung und als die blitzartig mit einer sich in seinem Körper ausbreitenden Wärmeentwicklung verbundenen Affektentwicklung: Signal unangenehmer Aufgaben. Ansonsten: Dieser Tag geht, sagt er sich.

1.1.3 Die Beziehungsgefüge

Die zweite, komplizierter geschichtete Dimension des Alltagslebens ist der intime Bereich der eigenen Beziehungsbewegungen in verschiedenen Gefügen (die Partnerschaft und Elternschaft als Kern des familiären Netzes, das Beziehungsnetz der Angehörigen und der Verwandtschaft, das Netz der Freundschaften und Bekanntschaften sowie das Netz der kollegialen Beziehungen, das sich mit den anderen Netzen überschneidet) als der einerseits vertraute und andererseits prekäre Raum für die intimen, kaum oder gar nicht kommunikablen Lebenshoffnungen, -wünsche und -interessen. Es beginnt mit dem Aufstehen, mit den ersten Kommunikationen des Morgens über die Qualität des Schlafs, über die allerersten Abstimmungen fürs Bad, fürs Frühstück, für den Tag. Sind die ersten...

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