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An den Grenzen unserer Lebensform

Texte zur Bioethik und Anthropologie

AutorAndreas Kuhlmann
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl201 Seiten
ISBN9783593411934
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Für die politischen und ethischen Probleme, die der medizinische und technologische Fortschritt aufwirft, gibt es keine Patentrezepte. Andreas Kuhlmann verbindet seine Reflexionen über Fortpflanzungsmedizin und Sterbehilfe mit grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz: Es geht ihm um eine Haltung, die auch den Herausforderungen an den Grenzen des Lebens - Geburt, Tod, Krankheit und Behinderung - sensibel gegenübertritt. Die Konfrontation eingespielter Denkmuster mit den konkreten Erfahrungen körperlicher Begrenzung führt zu einer veränderten Konzeption von Autonomie. Diese setzt weder den gesunden und leistungsfähigen Körper unhinterfragt als Norm, noch leugnet sie in blinder Ablehnung medizinischer Möglichkeiten das Leid der Betroffenen.

Der Philosoph Andreas Kuhlmann (1959 - 2009) lebte als freier Autor in Frankfurt. Er schrieb unter anderem für die FAZ, FR und Die Zeit. 1995 erschien sein Buch »Sterbehilfe«, 1996 »Abtreibung und Selbstbestimmung«.

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Leseprobe
Deutscher Geist und liberales Ethos. Die frühe Sozialphilosophie Helmuth Plessners (S. 157-158)

Die große Zeit der Lebensexperimente ist längst vorüber. Der Aufbruch und der Ausbruch aus der bürgerlichen Normalität, der sich in den sechziger, siebziger und frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Enklaven alternativen Gemeinschaftslebens zu verwirklichen suchte, ist dem unübersichtlichen Mit, Neben und Gegeneinander einer Gesellschaft gewichen, die von sogenannten »Individualisierungsschüben« heimgesucht wird. Nicht mehr der Polit und Psychoaktionismus der städtischen WG, nicht mehr die Agrarromantik der Landkommune gelten als fortschrittliche Lebensformen.

An ihre Stelle trat eine propagandistisch aufgemotzte »Neue Urbanität«: Gerade diejenigen, die einstmals das menschenfeindliche Wachstum westdeutscher Großstädte angeprangert hätten, entdeckten plötzlich den stimulierenden Reiz dieses Krisenmilieus. Die katastrophenschwangere Metropole wurde als Laboratorium der Lebensexperimente, als kultureller Schmelztiegel wiederentdeckt. Nicht mehr der doppelte Anspruch auf unbedingte Selbstverwirklichung und rückhaltlose Identifikation mit der Gruppe gelten nunmehr als höchste Werte. Stattdessen legt man Wert auf die feinen Unterschiede, auf individuelle Distanz, auf den kühlen, souveränen Umgang mit den Insignien einer einstmals verdammten Konsumkultur.

Wer eine anspruchsvolle Erklärung dafür sucht, dass Lebensformen, die Anspruch auf Selbstpreisgabe und forciertes Engagement ihrer Teilnehmer erhoben, nicht nur an äußere, sondern auch an innere Grenzen stießen, sollte Helmuth Plessners Studie über die Grenzen der Gemeinschaft lesen. Im Jahre 1924 attackiert der junge Plessner mit ungeheurer Vehemenz den Gemeinschaftsradikalismus linker wie rechter Couleur. Da in der modernen, anonymen, durchrationalisierten Gesellschaft die Menschen einander als Fremde begegnen, glaubt dieser Radikalismus das Gegenteil fordern zu müssen: die vorbehaltlose Offenheit, die Entblößung aller Intimität. Plessner meint nun, dass die organisch verschmolzene Gemeinschaft die Individualität ersticken müsse. Plessner versucht schon in dieser frühen Schrift, ohne dass ihm die Begriffe seiner wenige Jahre später verfassten Anthropologie zur Verfügung standen, eine Art Grundgesetz menschlicher Personalität zu formulieren.

Dieses besagt erstens, dass die Person immer danach strebt, ihre inneren Antriebe äußerlich zu manifestieren. Es besagt zweitens, dass ihr keine dieser Manifestationen je genügen kann. Plessner begreift die psychische Dynamik als ein endloses, unstetes Streben. Der Mensch verlangt danach, sich öffentlich zu präsentieren, etwas darzustellen, als individuelle Person von anderen anerkannt zu werden. Zugleich aber schreckt er vor der völligen Selbstpreisgabe zurück. Denn diese würde seine Persönlichkeit auf eine einzige Erscheinungsform festlegen. Dies aber würde die Offenheit seiner Veranlagung, die unendlichen Möglichkeiten, sich zu artikulieren, ersticken.

Aus diesem Zwiespalt, sagt Plessner, resultieren die beiden Grundkräfte der menschlichen Psyche: »der Drang nach Offenbarung, die Geltungsbedürftigkeit, und der Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit«. Diesem Zwiespalt kann nur durch eine besondere Form nicht intimgemeinschaftlichen, sondern gesellschaftlichen Umgangs Genüge getan werden. Gesellschaft ist die Sphäre des formalisierten, höflichdistanzierten menschlichen Verkehrs. Er wird gelenkt von diplomatischen Spielregeln und von der Tugend des Taktes. Diese Spielregeln und diese Tugend erlauben es, sich öffentlich darzustellen, ohne sich zu entblößen, und sich dem Anderen zu öffnen, ohne ihm zu nahezutreten.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Vorwort von Axel Honneth. An der Peripherie unserer Lebensform. Zur Erinnerung an Andreas Kuhlmann8
I. Bioethik20
Die bioethische Debatte in Deutschland22
Behinderung und die Anerkennung von Differenz38
Die Gesundbeter. Warnung vor den Warnern: Die Feinde der Medizin treten an52
Entscheidungen für den Tod. Behandlungsverzicht und Sterbehilfe58
II. Reproduktive Autonomie76
Der Embryo als öffentliches Gut. Alte und neue Kontroversen78
Reproduktive Autonomie? Zur Denaturierung der menschlichen Fortpflanzung86
Wunschkinder aus dem Labor? Selektive Fortpflanzung und das Instrumentalisierungsverbot108
III. Anthropologie124
Krankheit und Freiheit. Überlegungen zu einer Ethik der Lebensführung126
Menschen im Begabungstest. Mutmaßungen über Hirnforschung als soziale Praxis144
Deutscher Geist und liberales Ethos. Die frühe Sozialphilosophie Helmuth Plessners158
Schmerz als Grenze der Kultur. Zur Verteidigung der Normalität174
Drucknachweise182
Literatur184
Werkverzeichnis Andreas Kuhlmann194

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