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E-Book

Erziehung und Geschlecht

Eine Einführung

AutorBarbara Rendtorff
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl226 Seiten
ISBN9783170228498
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
In welcher Weise - das ist die Ausgangsfrage dieses Buches - tragen Erziehungsprozesse dazu bei, die Selbst- und Weltbilder von Kindern und ihr Handeln geschlechtstypisch zu färben und zu beeinflussen? Um dies zu verstehen, müssen mehrere Ebenen bedacht werden: wie die Geschlechterordnung als politische und soziale Ordnung mit dem Denken einer Gesellschaft über sich selbst und ihr Menschenbild zusammenhängt; wie diese Geschlechterordnung in den Theoriekonzepten der Erziehungswissenschaft ihre Spuren hinterlassen hat; und wie das pädagogische Handeln mit seinen geschlechtstypisierenden Aspekten auf diesem Hintergrund verstanden werden kann. Das Buch geht in einem Dreischritt vor: Nach einer Bestandsaufnahme geschlechtstypischer Auffälligkeiten werden theoretische Grundlagen des Denkens über Geschlecht vorgestellt und zuletzt pädagogische Erwägungen zum Verhältnis von Geschlecht und Erziehung in Familien und Institutionen diskutiert.

PD Dr. Barbara Rendtorff lehrt an der Universität zu Köln mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik.

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Teil II – Theoretische Grundlagen


Kapitel 3
Geschlechterdimensionen in der erziehungswissenschaftlichen Theoriegeschichte


1. Weiblichkeit und Männlichkeit


Historisch betrachtet ist die prominenteste Bezugsdisziplin der Erziehungswissenschaft natürlich die Philosophie, und darin v.a. die klassischen Teilbereiche der Erkenntnistheorie (Wie ist Erkenntnis möglich?), der Anthropologie (Was ist der Mensch?) und der Ethik (der Wissenschaft vom moralischen Handeln bzw. dem sittlichen Wollen der Menschen). Bevor sich die Pädagogik als eine eigenständige Wissenschaft etabliert hatte, gehörte sie als (gewissermaßen anwendungsbezogenes) Themengebiet zur Philosophie. Als eigenständige wissenschaftliche Denkweise über menschliche Entwicklung, Erziehung und die gesellschaftlichen Aufgaben des Einzelnen im Verhältnis zu Gemeinschaft und Staat entwickelt sie sich im Kontext der philosophischen Debatten über Aufklärung und die Französische Revolution mit ihren Reflexionen über die Art des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Von hier aus zeigt sich schon, dass der Blick auf Geschlechterunterschiede in der Erziehung vor allem von dem unterschiedlichen Platz von Frauen in der Gesellschaft abgeleitet wird. Nach meinem Eindruck ist die anthropologische Begründung dieser Unterschiede eher eine Sekundärbildung – im Vordergrund steht die Art der Teilhabe am Staat und dem öffentlichen bürgerlichen Leben. Aus dieser Positionierung wird dann aber – und zwar m.E. bei allen Autoren – eine Naturanlage, ein weiblicher Charakter abgeleitet, der wiederum die Positionierung der Frauen als angemessen erscheinen lässt. Dieser Vorgang wird in der Literatur oft als „Naturalisierung“ bezeichnet. Das ist aber vielleicht ein wenig irreführend, denn man muss im Auge behalten, dass die Möglichkeit, Verhaltensweisen als Ausdruck von Habitualisierungen aufzufassen, erst relativ jung ist und überhaupt erst mit der Aufklärung entstanden ist, die erst den Menschen als aus der Natur ‚herausgetreten‘ auffassen und Geschichte und Gesellschaft als von Menschen gemacht, folglich beeinflussbar und planbar begreifen kann.

Den ersten großen Einfluss auch auf die Theoriebildung im deutschsprachigen Raum hatte hier sicherlich Jean-Jacques Rousseau zu verzeichnen, der dieses Verhältnis vor allem in seiner 1762 erschienen Schrift „Der Gesellschaftsvertrag oder die Prinzipien des Staatsrechts“ diskutiert: „Alles Unwesentliche weggelassen, lässt sich der Gesellschaftsvertrag auf folgende Begriffe zurückführen: jeder von uns unterstellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft (puissance) der höchsten Leitung des Gemeinwillens (volonté générale), und wir empfangen als Körper jedes Glied als unzertrennlichen Teil des Ganzen“ (zit. bei: Menck 1993, 129f.). Dieses Konzept, das aus der Bindung aller an das Gesetz die Freiheit aller entstehen lässt, setzt allerdings eine bürgerliche Gemeinschaft voraus, in der Besitzverhältnisse und Interessenlagen relativ gleich verteilt sind. Und so ist auch in Rousseaus unbestreitbar bekanntestem Werk „Emile. Oder über die Erziehung“ (1762) das bürgerliche Umfeld eine unausgesprochene Bedingung: finanzielle Verhältnisse, in denen sich die Familie Erzieher und Gärtner usw. leisten kann, Freisetzen des Kindes von der Mitarbeit im elterlichen Gewerbe, Mittel für Bildungsreisen usw. Auch Sophie, das weibliche Pendant, die er seinem Emile als Gefährtin an die Seite gibt (!), trägt in ihrer Beschreibung (als Prototyp der Frau und der weiblichen Erziehung) deutlich großbürgerliche Züge: „…denn es ist schwer, in der Hefe des Volks eine Frau zu finden, die das Glück eines ehrbaren Mannes ausmachen könnte: nicht etwa, weil man in den untersten Schichten lasterhafter wäre als in den obersten, sondern weil man dort nur eine geringe Vorstellung von Schönheit und Ehrbarkeit hat und weil in Folge der Ungerechtigkeit der anderen Stände dieser Stand in seinen eigenen Lastern nur eine Sache der Gerechtigkeit sieht“ (Rousseau 1762/2002, 189).

Der Beschreibung von Sophie lässt sich deutlich entnehmen, dass der Platz der Frau im häuslichen Bereich liegt, der hier aber auch als Kulturraum erscheint: ein Ort, der sich durch eine „Gefühlsmacht“ auszeichnet, „eine sanfte, gar nicht schmutzige Macht über die Menschen ihrer Umgebung, besonders über Mann und Kinder“ – „für Böses – wie Krieg, Ausbeutung, Konkurrenz“ ist hier kein Platz (Schmid 1992, 850).

So scheint es, dass die Frauen das natürliche menschliche Mitleid bewahrt haben, das, wie Rousseau kulturpessimistisch beschreibt, der Verstand, die Reflexion und nicht zuletzt die Philosophie im Menschen zerstört haben. Diese Entgegensetzung von Mensch und Frau sollte zwar nach Ansicht der meisten AutorInnen nicht in der Weise interpretiert werden, dass Sophie kein ‚Mensch‘ sei – das mag wörtlich genommen so sein, aber dennoch ist die Sachlage nicht so einfach. Erstens wird Sophies Auftauchen im Erziehungsroman einzig aus dem männlichen Bedürfnis begründet: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Emile ist ein fertiger Mensch; wir haben ihm eine Gefährtin versprochen“ – die Analogie zur biblischen Schöpfungsgeschichte ist offenkundig („Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei – ich will ihm eine Gehilfin machen“ (1. Mos, 2, 18)). Und zweitens zieht sich diese Figur, dass die Frau für den Mann und um seinetwillen existiert, durch den gesamten Text und wird permanent verallgemeinert. Menschsein ist für Rousseau aber mit Autonomie eng verbunden: „Auf seine Freiheit verzichten heißt, auf sein Menschtum, auf die Menschenrechte, und sogar auf seine Pflichten zu verzichten…ein solcher Verzicht ist mit der menschlichen Natur unvereinbar.“ Deshalb, so Herta Nagl-Docekal, muss Rousseau sein anthropologisches Konzept „modifizieren“, indem nun für die Frauen die Abhängigkeit gewissermaßen ihr (weibliches, besonderes) Menschsein begründet: „Die Frau ist dafür geschaffen, dem Mann nachzugeben und sogar seine Ungerechtigkeit zu ertragen“ (Nagl-Docekal 1994, 576). So zeigt sich deutlich, dass in Bezug auf die Frau der Begriff „Natur“ hier auf problematische Weise Verwendung findet. Zwar sieht Rousseau im „Gesellschaftszustand“ ein „Zusammenwirken von Naturell und Erziehung“, doch in Bezug auf Frauen solle man doch „die Natur befragen“ (wie es auch das „Gesetz der Natur“ sei, dass diese dazu geschaffen ist, „dem Mann zu gefallen“ (Rousseau 1762/2002, 167)), so dass hier in den Begriff „Natur“ Elemente eingehen, die „in Wirklichkeit sorgfältig kultivierte, geformte, beigebrachte Unterschiede des Verhaltens, Denkens, Fühlens und Wahrnehmens bei Männern und Frauen sind“ (Nagl-Docekal, ebd.).

Dieser Umstand ist in der frühen feministischen Rousseaurezeption denn auch in den Vordergrund gerückt worden (vgl. z.B. Bovenschen 1979, 164ff.). Wie auch immer man das Verhältnis dieser beiden Aspekte, der ‚naturgegebenen‘ Unterordnung der Frau sowie ihrer Wertschätzung als Hoffnungsträgerin des Guten und der Moral, gewichten und bewerten mag – in jedem Fall zeigt sich, dass den Frauen ein substantiell unterschiedlicher Platz außerhalb des als allgemein beschriebenen gesellschaftlichen Raumes zugedacht ist. „Ihre Würde ist es, nicht gekannt zu sein; ihre Ehre ist die Achtung ihres Mannes: ihre Freuden liegen im Glück ihrer Familie“ (Rousseau 1762/2002, 190). „Der Gehorsam und die Treue, die sie ihrem Gatten schuldet, die Zärtlichkeit und Fürsorge, die sie ihren Kindern schuldet, sind so natürliche und offenbare Folgen ihrer Lage, dass sie dem inneren Gefühl, das sie leitet, nicht ohne Unredlichkeit ihre Zustimmung versagen und die Pflicht in der noch unbeeinflussten Neigung nicht verkennen kann“ (ebd., 182).

Doch so ganz ungebrochen ist ihre Tugendhaftigkeit nicht. Denn das „unabänderliche Gesetz der Natur“ hat ihr eine „größere Leichtigkeit“ mitgegeben, „die Begierden zu erregen“, den Mann zu verlocken, indem sie ihn „nur zum Schein“ zurückstößt – und „nur, wer ihre Schliche nie beobachtet hat, kann das in Abrede stellen“ (168). Der Schutz gegen das Überborden „schrankenloser Begierden“ liegt im Schamgefühl, das Gott den Frauen gegeben hat und das die Erziehung entwickeln muss, indem sie sie „ununterbrochenem härtestem Zwang“ unterwirft, „nämlich dem der Schicklichkeit“ (178). Um die Fähigkeit zu Liebe und Mitleid, ja insgesamt ihre moralische Stärke zu bewahren, muss sich die Frau folglich vor dem schädlichen Einfluss von Verstand, Reflexion und Philosophie schützen. „Die Vernunft der Frauen ist eine praktische Vernunft, die sie auf geschickteste Weise die Mittel finden lässt, ihr gesetztes Ziel zu erreichen, die sie aber nicht dieses Ziel selbst finden lässt“ (ebd. 180). „Die Erforschung der abstrakten und spekulativen Wahrheiten, der Prinzipien, der Axiome in der Wissenschaft, alles, was darauf hinaus will, die Vorstellungen zu verallgemeinern, gehört nicht zu den Aufgaben der Frauen, ihre Studien müssen sich alle auf die Praxis...

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