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E-Book

Feminismus Revisited

AutorErica Fischer
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783827079848
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Oft wird behauptet, der Feminismus habe sich erübrigt. Das Gegenteil ist der Fall. Im Zuge der global zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich und des wachsenden Rassismus hat sich ein neuer, selbstbewusster Feminismus entwickelt. Die Lebenserfahrungen junger Frauen sind heute ebenso frisch, wie sie für die Feministinnen der 1970er-Jahre waren, doch sind viele Entdeckungen von damals Alltagswissen geworden, auch wenn die Missstände selbst keineswegs aus der Welt sind. Wie prägt dieser Umstand das Denken und Handeln junger Frauen heute? In einer Mischung aus autobiografischem Essay einer Feministin der ersten Stunde und Porträts junger Frauen, für die der Feminismus mehr ist als Quoten und die Forderung nach Frauen in den Aufsichtsräten, zeigt Erica Fischer, warum sich beherztes Engagement lohnt - und auch noch Spaß machen kann.

Erica Fischer wurde 1943 in St Albans bei London geboren, wohin die Eltern aus Wien geflüchtet waren. Sie wuchs in Wien auf und studierte am Dolmetschinstitut der Universität Wien. 1972 war sie eine der Mitbegründerinnen der autonomen Frauenbewegung in Wien. Sie arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin. Seit 1988 lebt sie in Deutschland, seit 1994 in Berlin. Ihr Buch »Aimée & Jaguar« wurde zum Weltbestseller.

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Leseprobe

Feminismus hält jung


Am 1. Januar 2018 wurde ich fünfundsiebzig. Irgendwie unbegreiflich, wie es dazu kommen konnte. Ich blicke also zurück auf nahezu ein halbes Jahrhundert Feminismus. Nach der ersten Begeisterung der frühen Siebzigerjahre und einer längeren aktivistischen Phase in Wien zog es mich zu anderen Lebensthemen. Das Ausloten meines jüdischen Hintergrunds und des Schicksals meiner Großeltern und Eltern rückte in den Vordergrund. Die Arbeit an Aimée & Jaguar Anfang der Neunziger half mir dabei. Ich begriff, dass Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus / Rassismus in meiner Biografie nicht voneinander zu trennen sind.

Ich bin eine Frau, nach der neueren feministischen Sprachregelung eine Cisfrau, also eine, die sich eins fühlt mit dem bei der Geburt festgestellten Geschlecht. Nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, bin ich als Tochter einer jüdischen Mutter Jüdin. Während eine Menge »Frau« in mir steckt, bei meiner Geburt festgelegt und durch die Heteronormativität und den allgegenwärtigen Sexismus stets von neuem bestätigt, ist die Jüdin eher eine kulturelle Aneignung. Meine Mutter betonte stets, dass erst Hitler sie zur Jüdin gemacht habe. Das stimmt nur teilweise, denn das Jüdische war ihr schon früher angeheftet worden. In ihrem polnischen Abiturzeugnis ist ihre Religion als »mosaisch« eingetragen, obwohl meine Mutter niemals in der Religion ihrer Vorfahren unterrichtet wurde. Doch konfessionslos konnte man damals in dem katholischen Land nicht sein. Sie besuchte in Warschau sogar eine katholische Schule, die eine Quote für jüdische Schülerinnen hatte und in die sie nur aufgenommen wurde, weil ihre ältere Schwester die Quotenhürde vor ihr genommen hatte. Während ihres Studiums im Wien der späten Zwanzigerjahre ging es mit dem Antisemitismus weiter. Immer war es der Blick von außen, der aus meiner Mutter eine Jüdin machte.

Bei mir ist es umgekehrt. Ich habe mich freiwillig dafür entschieden, mich mit dem Schicksal meiner Vorfahren und aller anderen Jüdinnen und Juden zu identifizieren. Da ich mich in der österreichischen Mehrheitsgesellschaft nicht aufgehoben fühlte, entschied ich mich für die jüdischen Außenseiter*innen. Antisemitismus habe ich persönlich nie erfahren, denn ich habe weder eine »jüdische Nase«, noch trage ich Schläfenlocken. Aber ich spüre ihn immer mal wieder um mich herum.

Die Cisfrau hingegen war zwar körperlich vorgegeben, das meiste jedoch wurde mir von außen übergestülpt. Wie ich mich als Frau zu benehmen, zu bewegen, zu sprechen, zu denken, zu fühlen und zu kleiden und wie ich mir meine berufliche und private Zukunft auszumalen habe, wurde mir zugeschrieben. Es war wie eine Tarnkappe, die verbarg und verzerrte, was möglicherweise in mir steckte. Ich werde es nie erfahren. Für die Frau habe ich mich nicht entschieden, ich wurde zu ihr gemacht. Und zwar so sehr, dass ich durch den Einfluss der Frauenbewegung zwar einiges meiner inneren Textur auftrennen konnte, aber letztlich nur wenig. Auch mit fünfundsiebzig lebe ich mit meinem patriarchal geprägten kulturellen Erbe und habe es so weit verinnerlicht, dass ich mich darin relativ wohl fühle. Junge Frauen, die heute ebenso alt sind, wie ich es war, als ich mich aufmachte, meine Verwerfungen aufzuspüren, sind heute weiter. Vieles, was mich damals einschnürte und in Wut versetzte, ist nur noch Vergangenheit. Manches jedoch scheint schlimmer geworden zu sein. Aber die Frauen wehren sich, lauter, zahlreicher, selbstbewusster. Das immerhin.

Die zweite Welle des Feminismus, die mich geprägt hat, führte fort, was die erste eingeleitet hatte: Wahlrecht, Universitätsstudium, Berufstätigkeit und Karriere (bis knapp unter die gläserne Decke), freie sexuelle Partner*innenwahl, Empfängnisverhütung, gleichgeschlechtliche Liebe, Kinderlosigkeit und bis zu einem gewissen Grad auch der Schwangerschaftsabbruch können mehr oder weniger ungehindert gelebt und ausgelebt werden – in Deutschland und in einigen europäischen Ländern, aber keineswegs überall, wie wir von unserem Nachbarland Polen nur allzu gut wissen.

Dank der klugen Stimmen und Texte junger Frauen ist mein Interesse am Feminismus neu erwacht. Oft und mit Genugtuung totgesagt, entfaltet er heute eine erstaunliche Energie, wohl auch als Reaktion auf den sich immer stärker ausbreitenden Frauenhass, der mir jedoch wie ein verzweifelter Abwehrkampf gegen die zunehmende Ermächtigung der Frauen erscheint. Der westliche Feminismus hat sich aber auch verändert. Angesichts der verschärften Lebensbedingungen in Zeiten von Turbokapitalismus, Klimawandel und dem wachsenden Einfluss rechtsnationalistischer Tendenzen und Parteien haben junge Feminist*innen der dritten Welle (oder ist es schon die vierte?) weniger Aussicht auf ein sozial gerechtes Leben, als ich es in meinen Aufbruchsjahren hatte. Unter Bundeskanzler Bruno Kreisky gab es in Österreich ein soziales Netz, von dem wir heute nur noch träumen können. Laut Oxfam gingen 82 Prozent des globalen Vermögenszuwachses im Jahr 2017 an das reichste Prozent, während die ärmere Hälfte der Menschheit, rund 3,7 Milliarden Menschen, darunter ein Großteil Frauen, leer ausging.

Feminist*innen müssen in diesem Millennium umfassende Akzente setzen. Zwar stellt männliche Gewalt – in Kriegs- und Krisengebieten und für Nichtweiße und Transpersonen verstärkt – nach wie vor eine existenzielle Bedrohung dar, doch angesichts der sich national und global vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich und des zunehmenden Rassismus ist bei vielen Feminist*innen der Kampf gegen männliche Vorherrschaft zu einem Teil eines breiteren Kampfes gegen den globalisierten patriarchalen Kapitalismus geworden.

Einer der Gründe mag auch sein, dass Feminismus aus den sozialen Bewegungen heute nicht mehr wegzudenken ist. Mehr denn je ist also Feminismus, so wie ich ihn schon immer verstanden habe, zu einer Bewegung für eine gesamtgesellschaftliche Veränderung zum Wohle der Menschen statt des Kapitals geworden. Und er muss sich gegen den an die Stelle des Anti-Feminismus getretenen militanten Anti-Genderismus behaupten, dem es darum geht, den über den formalen Gleichheitsanspruch hinausgehenden Analysen des Feminismus die wissenschaftliche Legitimität abzusprechen.

Überall auf der Welt kämpfen Frauen um ihre Rechte, doch die Bandbreite der Anliegen ist enorm. Während es in Saudi-Arabien ein Triumph ist, wenn Frauen endlich Auto fahren dürfen, und in Afghanistan schon der Schulbesuch für Mädchen ein Privileg darstellt, geht es in Deutschland und Österreich um Fragen, die anderswo vermutlich als Luxus gelten. Notgedrungen beschränke ich mich in diesem Buch auf Deutschland, wo ich seit dreißig Jahren lebe, und auf Österreich, wo ich vierzig Jahre meines Lebens verbracht habe. Aber auch in diesen Ländern sind wir nicht kulturell abgeschottet. Feminist*innen mit Migrationshintergrund, wie man so sagt, und Frauen* of Color erheben schon lange ihre Stimmen.

Feminismus ist ohne einen intersektionalen Ansatz nicht mehr denkbar, also ohne verschiedene Diskriminierungsformen in einer Person zu berücksichtigen. Es gibt Unterschiede zwischen uns, erhebliche, nicht nur zwischen Deutschland und Saudi-Arabien. Sexismus kann nicht mehr ohne das Mitdenken von Rassismus, Islamhass und Homo- und Transfeindlichkeit diskutiert werden. Schon seit der in den 1980ern von Christina Thürmer-Rohr ausgelösten Mittäterschaftsdebatte wissen wir, dass Frauen keineswegs immer Opfer sind. Sie können auch zu Täter*innen werden, je nach Machtkonstellation. Unumstritten ist diese Erkenntnis in der Frauenbewegung allerdings immer noch nicht.

Genährt wird die Sicht auf Frauen als Opfer auch durch das grelle Licht, das die ekelhaften Taten des mächtigen Hollywood-Moguls Harvey Weinstein und aller, die ihm weltweit folgten und noch folgen werden, auf den männlichen Machtmissbrauch geworfen haben. Er drückt sich in sexueller Belästigung, sexuellen Übergriffen und Vergewaltigung aus. Ans Tageslicht kommt trotz #MeToo nur die Spitze des gigantischen Eisbergs, von dem so gut wie alle Frauen weltweit betroffen sind. Aber der »Harvey-Effekt« zeigt Wirkung. Wenn Frauen nicht mehr aus Scham schweigen und man ihnen neuerdings sogar glaubt, wird der Schlaf von Männern, die Frauen als Beutegut sehen, unruhiger. Und kein Mann wird mehr sagen können, er habe nicht gewusst, wie er sich zu benehmen habe. Jede Revolution habe ihre eigenen Waffen, schreibt die amerikanische Kulturkritikerin Laura Kipnis; einst waren es Musketen und Guillotinen, heute sind es »Mitteilen« und mediale Offenlegung. Nicht erst neuerdings haben die Frauen zu sprechen begonnen, jetzt aber verstärkt und zahlreicher.

Die Frauen, die sich bezüglich sexueller Belästigung in EU-Gremien zu Wort meldeten, taten es vorerst überwiegend anonym. Noch immer müssen viele um ihren Job fürchten, wenn sie die Verletzung ihrer körperlichen Integrität zu einem öffentlichen Thema machen. Sogar die schwedische Außenministerin Margot Wallström gab an, bei einem EU-Abendessen Opfer einer Grapsch-Attacke geworden zu sein. Eine Frau im Zentrum der politischen Macht! Wenn es jenseits aller Unterschiede ein Verbindungsglied zwischen Frauen und Transpersonen weltweit gibt, dann ist es sexualisierte Gewalt und Einschüchterung durch sexuelle Belästigung und Verspottung. Zwischen dem Femizid in Mexiko und Ministerin Wallström besteht ein Zusammenhang, auch wenn Letzterer unvergleichlich mehr Möglichkeiten der Gegenwehr zur Verfügung stehen.

»Schaffen wir eine Welt ohne Harveys«, forderte der Dokumentarfilmer Michael Moore (der wie so viele andere vom Verhalten Weinsteins schon lange gewusst haben musste). Allzu bald...

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